Friedrich Gerstäcker
Alle jagen John Mulligan
Friedrich Gerstäcker

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Nun wurde nicht mehr zwischen den Männern gesprochen, als nötig war, die Richtung und Bewegung des kleinen schnellen Bootes zu bestimmen. Das Fahrwasser, in dem sie sich befanden, erforderte übrigens ihre ganze Aufmerksamkeit, denn von Port Adelaide ab mußten sie vorerst einem langen, schmalen Seearm folgen, der sich herüber und hinüber wand, ehe sie die offene See erreichen konnten. Die Seeleute sagen auch nicht mit Unrecht, daß ein Schiff den Wind erst um den ganzen Kompaß herum haben müsse, ehe es von dort auslaufen könne, und für große Fahrzeuge sind oft viele Taue nötig, bis sie das Meer gewinnen können. Sobald aber das kleine, trefflich gebaute Boot nur eine »Mütze voll Wind« erfassen konnte, setzten sie die Segel, und bald hinüber- und herüberkreuzend, bald vor der Brise dahinschießend, dann und wann aber auch wieder genötigt, zu den Rudern zu greifen, passierten sie endlich die Torrens-Insel, umsegelten die nordwärts liegende Spitze des letzten festen Landes und steuerten mit einer frischen Nordwestbrise südwärts an der Küste entlang der etwa von da noch fünfzehn deutsche Seemeilen entfernten Känguruh-Insel zu.

Erst einmal draußen im freien Wasser, hatte der Bootsmann seinen Platz im Bug eingenommen, während sich Rodwell in den Spiegel des Bootes neben Tolmer setzte. In der ersten Zeit war er allerdings noch schweigsam und schaute fortwährend nur nach Süden hinunter, wo sie in grauer Ferne die blaue Landspitze von Kap Jervis vor sich sehen konnten. Da plötzlich sprang er von seinem Sitz auf und vorn auf die Bank, in der ihr kleiner Mast befestigt war, und rief, seinen Strohhut fröhlich dem fernen Süden entgegenschwenkend:

»Land! – Dort hinten, Fremder, liegt meine liebe alte Insel – liegt meine Heimat, liegt alles, was ich mein eigen nenne und was mich zum glücklichsten Menschen macht.«

»Eure Heimat«, sagte Tolmer, dem ein wehmütiges Gefühl die Brust zusammenzog. »Ja, wohl dem, der eine glückliche Heimat sein eigen nennen darf. Ich ahne, wie wohl uns darinnen sein muß, obgleich ich selber das Gefühl nicht kenne.«

»Ihr seid nicht verheiratet, Fremder?« fragte Rodwell mit fast mitleidigem Ton seinen Reisegefährten.

»Nein«, sagte Tolmer seufzend, »und Ihr wißt, welch ein rastlos wildes, ungeregeltes Leben ein Junggeselle in den Kolonien führen muß.«

»Ich zeig Euch meine Heimat«, sagte Rodwell, und seine Augen leuchteten, als er an den stillen Frieden seines eigenen kleinen Herdes dachte, dem er mit frisch geblähtem Segel jetzt entgegenstrebte. »Grad da vor uns taucht Point Marsden auf, und einen lieberen, freundlicheren Platz, als dort zwischen den schattigen Bäumen und blühenden Büschen liegt, gibt es nicht mehr auf der weiten Gotteswelt. Er ist für mich ein wahres und wirkliches Paradies.«

»Dann halte Euch Gott nur auch die Schlange daraus fern«, sagte Tolmer leise.

Rodwell sah sich rasch und fast erschrocken nach ihm um; sich dann aber mit fröhlichem Kopfschütteln die Locken aus der Stirn werfend, sagte er guten Mutes, doch mit herzlicher, fast bewegter Stimme:

»Das wird er auch, Fremder, denn wo zwei Menschen Hand in Hand zusammenstehen, da findet die Schlange keinen Boden für sich und muß weichen. Aber«, setzte er, seinen Begleiter mit scharfem Blick fixierend, hinzu, »was seht Ihr mich so sonderbar an? – Kennt Ihr meine Heimat und – Ihr wart schon auf der Känguruh-Insel?«

»Ja – schon mehreremal«, lautete Tolmers ruhige Antwort. »Aber immer nur auf sehr kurze Zeit. Doch, was ich Euch fragen wollte – Ihr habt eine Station auf Point Marsden?«

»Nein – nur ein Haus, das ich mir selbst gebaut habe, und ein paar Gespann Pferde«, sagte Rodwell, leicht beruhigt. »Ich bin Zimmermann meinem Geschäfte nach und bin besonders damit beschäftigt, Nutzholz zu fällen und zuzuhauen und an den Strand zu schaffen, wo ich es den für fremde Häfen bestimmten Schiffen gut verkaufen kann. Auch Fuhren für die Stationshalter hab ich getan, teils in meinem Boot, teils mit meinem Geschirr, und stehe mich gut dabei. Von jetzt ab will ich zu Hause bleiben, und meine Fahrt nach Adelaide bezweckte nur, eine kleine Herde Schafe und Rinder zu kaufen, mit denen ich beginnen kann, Viehzucht zu treiben wie ein wirklicher Siedler. Ich habe das unruhige Leben satt und will mein Weib und Kind nicht mehr so lange allein lassen.«

»Daran tut Ihr wohl«, sagte Tolmer, »Australien ist dafür ein gefährliches Land, und eine Unzahl Menschen streifen darin frei umher, die in anderen Gegenden vorsichtig in Ketten und Banden gehalten würden.«

»Dort drüben wohl kaum«, sagte Rodwell. »Derlei Gesindel hat uns die See bis jetzt ziemlich vom Leibe gehalten. Außerdem scheint es auch, als ob sich in neuerer Zeit doch mehrere reiche Einwanderer auf unserer kleinen Insel niederlassen wollten, die manche Vorteile bietet, und das vermehrt natürlich unsere Sicherheit.«

»Haben sich neuerdings Fremde dort niedergelassen?« fragte Tolmer gleichgültig.

»Allerdings«, erwiderte Rodwell. »Die Zeit wird gar nicht mehr so fern liegen, daß wir eine ordentliche Stadt dort drüben gründen, und da uns weder Buschranger noch Australier etwas zu schaffen machen, dürfen wir hoffen, freie Einwanderer hinüberzuziehen.«

»Eine Stadt? – Das möchte doch wohl noch eine Weile dauern.«

»Und weshalb?« rief Rodwell. »So hat sich erst ganz kürzlich ein höchst liebenswürdiger und gebildeter Mann, ein Kapitän Howitt, bei uns eingefunden, der ein großes Handelshaus dort gründen will. Mit solchem Anfang findet sich die Stadt von selbst, denn eines zieht dabei das andere nach.«

»Ein Kapitän Howitt?« fragte Tolmer. »Der Name ist mir bekannt.«

»Wohl möglich; er gehört einer alten und geachteten Familie in England an, und der Kapitän, der Australien schon nach allen Richtungen durchreist hat und das Land von Grund auf kennt, ist jedenfalls der Mann dazu, ein derartiges Unternehmen im Großen durchzuführen.«

»Kennt Ihr ihn genauer?« sagte Tolmer und bereute auch schon im nächsten Augenblick, die Frage getan zu haben, denn der vom im Boot sitzende Matrose wandte rasch den Kopf nach ihm um und schien ihn scharf und forschend zu betrachten.

»Genauer gerade nicht«, meinte Rodwell, »aber er hat etwas in seinem ganzen Wesen, das für ihn einnimmt – etwas Festes, Entschlossenes in seinem Blick, und solche Leute können wir im Lande brauchen. Die weichen, zaghaften Menschen passen nicht in unseren Busch.«

Tolmer schwieg. So gern er den Mann vor jenem gefährlichen Verbrecher gewarnt hätte, durfte er es in Gegenwart des Dritten nicht wagen, von dem er ja nicht wußte, ob er ihm trauen konnte. Auf dem Lande fand sich dazu vielleicht eher Gelegenheit. Jedenfalls hatte er genug von seinem Reisegefährten gesehen, um von dessen Ehrlichkeit überzeugt zu sein, und diesem selbst mußte ja daran liegen, den gefährlichen Menschen so bald wie irgend möglich unschädlich gemacht zu sehen.

Rasch verfolgte indessen das Boot seine Bahn. Immer höher und deutlicher tauchte das ferne Land der Känguruh-Insel aus dem Meer auf, und schon konnten sie die einzelnen Vorsprünge, ja bald darauf den Busch und die ihn überragenden höheren Bäume erkennen.

Die Brise ließ gerade jetzt ein wenig nach, und Rodwell verging fast vor Ungeduld, daß das Boot nicht mehr so flüchtig vorwärts schoß. Bald aber blähte sich das Segel wieder voll im Wind, und als die Sonne sank und Nacht das Meer deckte, waren sie dem Lande nahe genug gekommen, ihre Bahn trotz der Dunkelheit fortzusetzen. Rodwell kannte hier jeden Vorsprung der Küste, jede Klippe, und steuerte den schlanken Kahn mit sicherer Hand an den alten gewohnten Landungsplatz.

»So, und nun kommt, Fremder – ich habe Euch noch nicht einmal nach Eurem Namen gefragt«, sagte er, als er mit leichtem Schritt an Land sprang, es dem Matrosen überlassend, das Boot an der gewöhnlichen Stelle in Sicherheit zu bringen und Segel und Ruder zu bergen.

»Barner heiße ich«, sagte Tolmer, ihm etwas langsamer folgend, denn er wollte sich durch seinen recht bekannten Namen nicht vor der Zeit verraten.

»Gut denn, Mr. Barner, sagte Rodwell freundlich, »die Nacht müßt Ihr nun ohnehin mein Gast bleiben, da die Häuser in meiner Nachbarschaft noch gar spärlich gesät sind, und morgen bleibt Euch Zeit genug, den Wanderstab zu setzen, wohin es Euch beliebt.«

»Und hier ist Euer Haus?« fragte Tolmer, der sich in der Dunkelheit nicht zurechtfand.

»Gleich da drüben, hinter den einzelnen Bäumen, die Ihr dort gegen den helleren Himmel könnt abstechen sehen. Eigentlich müßten wir von hier aus auch schon das Licht im Innern erkennen können, aber meine Frau hat mich gewiß heute noch nicht erwartet.«

Er war, während er sprach, auf den bekannten Pfaden so rasch vorwärts geschritten, daß ihm Tolmer kaum zu folgen vermochte. Jetzt hatten sie die Gartentür erreicht, aber auch diese war ungewohnterweise verschlossen. Rodwell hob indes die leichte Gattertür aus den Angeln und führte seinen Begleiter den breiten kiesigen Gartenpfad entlang zum Hause, das sie jetzt mit seinen dunklen Umrissen dicht vor sich erkennen konnten.

Hier hatten sie bald die Haustür erreicht, an die Rodwell leise dreimal anklopfte. – Niemand antwortete ihm. Er klopfte stärker – alles blieb totenstill im Haus; kein Licht erschien, kein Schritt wurde laut.

»Sie kann doch noch nicht schlafen«, murmelte Rodwell vor sich hin, »es ist kaum acht Uhr.« Und lauter, kräftiger schlug er gegen die Tür, daß es durch das ganze Haus dröhnte. – Umsonst. Im Haus rührte und regte sich nichts.

Rodwell sprach kein Wort. Still und regungslos stand er an seiner eigenen Tür, und wie die Ahnung von etwas Entsetzlichem griff es ihm an die Seele und machte sein Blut in den Adern stocken.

Da knarrte im oberen Stock, gerade über der Tür, ein Fenster, und eine ängstliche Frauenstimme rief: »Wer ist da? – Seid Ihr es, Master?«

»Betsey!« rief Rodwell und holte tief Atem – es war ihm, als ob sich eine Zentnerlast von seiner Seele wälze. »Öffnet denn niemand, und schläft meine Frau schon so fest, daß sie mich gar nicht hört?«

»Ich komme gleich hinunter und mache die Tür auf«, sagte das Mädchen und verschwand vom Fenster.

Die beiden Männer wechselten indessen kein Wort miteinander. Mit fast krampfhaftem Griff hielt Rodwell die Klinke fest in seiner Hand, bis sie im Haus die Schritte des Mädchens hörten, das langsam die Treppe herunterkam und innen die beiden Riegel von der Tür zurückschob. Jetzt steckte sie den Schlüssel ein und schloß auf, und im nächsten Augenblick stand ihr Rodwell gegenüber.

»Ach du mein lieber Gott!« rief da das Mädchen, während ihr die Tränen aus den Augen stürzten, »ich kann ja nichts dafür – ich bin ja wahrhaftig unschuldig, wenn ich es mir auch gedacht habe, daß das Unglück noch geschehen würde.«

Rodwell war leichenblaß geworden. Er zitterte so, daß er sich an Tolmer halten mußte, um nicht umzusinken. Nur sein stierer Blick saugte sich an dem Mädchen fest, das ihr Antlitz in den Händen barg und laut und heftig schluchzte.

»Was ist vorgefallen, Betsey?« fragte er endlich mit leiser, völlig tonloser Stimme. »Wo ist – meine Frau – mein – Kind?«

»Fort!« stöhnte da das Mädchen, »O du lieber Gott, fort – fort – beide!«

»Die Schlange!« hauchte Rodwell, und Tolmer sprang hinzu und hielt ihn, denn er sah, wie der starke Mann in die Knie brach, und glaubte, daß er zu Boden stürzen würde. Aber der Unglückliche raffte sich mit fast übermenschlicher Anstrengung wieder empor und schritt, Tolmers Arm ergreifend, langsam in sein Haus.

Langsam und nur zögernd folgte das Mädchen den beiden Männern mit dem Licht, und Rodwells umherschweifender Blick hatte rasch auf dem dunklen Tisch einen kleinen zusammengefalteten Brief erkannt. Er nahm ihn hastig auf und wollte ihn erbrechen, hielt aber plötzlich wieder an und legte ihn auf den Tisch zurück. Dann warf er sich auf das Sofa und sagte mit ruhiger, fester Stimme:

»Erzähle mir, was hier vorgefallen ist, Betsey. Ich brauche dich nicht zu ermahnen, mir die lautere Wahrheit zu sagen. Wenn du einst selig zu werden hoffst, sprich und mach mich mit allem bekannt, und sei es das Schrecklichste.«

Das Mädchen konnte vor heftigem Schluchzen kaum reden, nach und nach aber brachte Tolmer, der seine ganze Ruhe behielt und von Anfang an schon ahnte, was hier vorgegangen war, alles, was Betsey wußte, aus ihr heraus.


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