Friedrich Gerstäcker
Alle jagen John Mulligan
Friedrich Gerstäcker

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1. Kapitel

In früheren Jahren war Australien nichts als eine Verbrecherkolonie, und immer neue Schiffsladungen voll Missetäter wurden von England aus hinübergeschickt. Zugleich aber gingen auch einzelne freie Ansiedler in das ferne Land, die sich, unbekümmert um das rohe Gesindel umher, da niederließen und Ackerbau oder Viehzucht trieben. Ihr Leben dort verlief aber nicht so glatt und einförmig, wie das jetzt wohl der Fall ist, wo sie sich um wenig mehr als ihre Felder und Herden zu kümmern haben.

Auch die Polizei hatte mehr zu tun als die unsrige – wenn ich auch nicht sagen will, daß sie sich mehr beschäftigte –, und die kühnsten und unternehmendsten Leute wurden ihr eingereiht. Es galt jedoch nicht nur nächtlichen und scheuen Dieben aufzulauern, sondern oft den entsprungenen und zur Verzweiflung getriebenen Sträflingen draußen im Freien zu begegnen, und in dem weiten, wilden Lande gehörte dazu nicht allein eine zähe Ausdauer, sondern auch ein fester Mut, der vor keiner Gefahr zurückschreckte.

Die Polizei war deshalb militärisch organisiert, und die Polizeioffiziere hatten völlig freie Hand, nach eigenem Gutdünken mit hinreichender Mannschaft oft gar nicht unbedeutende Streifzüge zu unternehmen. Man mußte sie eben von leeren Förmlichkeiten entbinden, um ihr freie Hand zu lassen, dem Augenblick nach zu handeln; denn häufig war es nötig, sehr schnell einen entscheidenden Streich gegen irgendeine der im Walde zerstreuten Banden entflohener Verbrecher zu unternehmen.

Unter diesen Polizeileuten zeichnete sich besonders ein gewisser Tolmer aus, der noch jetzt im Adelaide-Distrikt lebt und tätig ist. Nicht allein mutig jeder Gefahr entgegensehend, die sich ihm in den Weg stellte, hatte er auch in dem Buschleben mit Australiern und Verbrechern eine Menge wertvoller Erfahrungen gesammelt, und wo ein schwieriges Unternehmen ausgeführt werden sollte, wo irgendein verzweifelter Bursche verschwunden blieb und nun durch neue Verbrechen dafür sorgte, daß sein Andenken nicht ganz erlosch, da wurde gewöhnlich der damalige Polizeisergeant Tolmer abgeschickt, ihn aufzuspüren. Wenn es irgend möglich war, führte dieser seinen Auftrag auch mit Erfolg aus.

In Adelaide oder wenigstens in der Nachbarschaft hatte ich das Vergnügen, mit Mr. Tolmer bekannt zu werden, und die nachfolgenden Skizzen eines abenteuerlichen Zuges, den er einmal nach einer unfern dem australischen Festland liegenden Insel unternahm und durch den er zum Leutnant befördert wurde, habe ich aus seinem eigenen Munde. Ich will versuchen, es so treu wie möglich wiederzugeben.

 

Schon vor längerer Zeit waren ein paar lebenslänglich verurteilte Deportierte aus dem Gefängnis ausgebrochen und in den Busch geflohen. Weiße vermochten sich dort jedoch gewöhnlich nicht lange zu halten, und so ging das Gerücht, sie hätten sich einem Stamme der australischen Ureinwohner angeschlossen und würden mit diesem die benachbarten Stationen der Siedler belästigen.

Berittene Polizei wurde augenblicklich dorthin beordert, und es gelang dieser auch, den bezeichneten Stamm Australier aufzufinden und zu zerstreuen, aber von den Sträflingen fand sich keiner mehr bei ihnen vor. Die Burschen hatten sich jedenfalls, als sie merkten, daß ihr Aufenthalt bei den Australiern nicht mehr gesichert war, irgendwo anders hingewandt, und ein volles Jahr lang blieb jeder Versuch, sie wieder aufzufinden, vergeblich.

Tolmer hielt sich nach dieser Zeit wieder in Adelaide auf und hatte gerade einen Transport von Flüchtlingen eingebracht, die sich eine Weile in den Dickichten der Hindmarsh-Sümpfe umhergetrieben hatten. Die früher entsprungenen Verbrecher waren schon fast vergessen worden, da man nichts anderes glaubte, als daß sie Mittel und Wege gefunden hätten, mit einem Boot in See zu gehen, um vielleicht nach Neuseeland hinüberzufahren oder auch ein unterwegs getroffenes Schiff anzurufen. Einzelne waren schon auf diese Art entkommen.

Tolmer glaubte übrigens nicht daran. Wenn er auch keinen bestimmten Ort wußte, wo er sie suchen sollte, konnte er den Gedanken nicht aufgeben, sie noch auf australischem Boden zu wissen, und unterließ in der ganzen Zeit nicht, die sorgfältigsten Nachforschungen anzustellen, wenn diese auch fortwährend erfolglos blieben.

So saß er eines Abends in dem am häufigsten besuchten Hotel in Adelaide bei einer Flasche Ale. Mehrere Stationshalter aus der Nachbarschaft, die in die Stadt gekommen waren, teils neue Weidegründe zu belegen, teils Vieh und Pferde zu verkaufen, saßen in demselben Zimmer, und das Gespräch drehte sich um das Land im Innern, seine mutmaßliche Nutzbarkeit und Besiedlung, die jetzige Bevölkerung und – wie das in Australien damals nicht ausbleiben konnte – um das Recht der Regierung, noch weitere Sträflinge herüberzuschicken. Schon damals nämlich strebten die australischen Kolonien danach – was sie auch später erreichten –, daß das System, Verbrecher von England herüberzusenden, aufgegeben und Australien eine wirkliche Kolonie von freien Einwanderern wurde. Das Pro und Contra wurde dann, sowie das Gespräch einmal dort angelangt war, auf das lebhafteste debattiert, denn es gab eine Menge von Ansiedlern, denen die Sträflingsarbeit sehr bequem und einträglich war und die sie nicht missen wollten. Diejenigen, die das Sträflingssystem bekämpften, führten jedoch nicht mit Unrecht zu ihren Gunsten an, daß sich die entlassenen oder halb begnadigten Verbrecher über das ganze weite Land verbreiteten und nicht allein die Sicherheit der ehrlichen freien Bewohner gefährdeten, sondern auch dem unbemittelten Einwanderer eine schwere und kaum zu bekämpfende Konkurrenz bereiteten. Nur von dem freien Einwanderer hatte deshalb Australien einmal zu hoffen, daß es ein mächtiges und reiches Land werden könne.

Unter den Gästen befand sich auch ein Stationshalter von der südlich vom Adelaide-Distrikt liegenden Känguruh-Insel, die damals erst seit sehr kurzer Zeit von den Engländern wirklich in Besitz genommen war. Es hatten sich auch nur erst einzelne dort drüben niedergelassen, und zwar in der Hoffnung, daß die ziemlich ausgedehnte Insel einmal später größere Bedeutung erlangen solle, wodurch ihre dort angelegten Besitzungen auch an Wert und Wichtigkeit gewinnen würden.

Dieser eiferte besonders gegen das Verbrechersystem, obwohl es ihnen während der Schafschur, wie er gern eingestand, willkommene Arbeiter lieferte. Jetzt aber sei man, wie er behauptete, selbst auf diesem entlegenen und durch einen Seearm von den eigentlichen Verbrecherstationen getrennten Teil der Kolonie nicht sicher, solchem Gesindel jeden Augenblick im Busch zu begegnen, und er gehe immer mit Sorge und Angst von Hause fort, daß einmal während seiner Abwesenheit irgend etwas vorfallen könne, was die Sicherheit der Seinen gefährde.

Tolmer, als Regierungsbeamter, hatte sich nicht in das Gespräch gemischt und nur schweigend den verschiedenen Bemerkungen und Ansichten gelauscht; als sich aber die übrigen Gäste nach und nach verloren und die Unterhaltung auch schon lange auf andere gleichgültige Gegenstände übergegangen war, setzte er sich zu dem Ansiedler von der Känguruh-Insel und unterhielt sich auf das lebhafteste mit ihm über die dortigen Aussichten späterer Kultur, über Weiden und Ackerbau und – die Möglichkeit, Arbeiter zu den verschiedenen und nötigen Verrichtungen zu bekommen. Eine direkte Frage über das, was ihm eigentlich am Herzen lag, tat er aber nicht, und zwar aus Gründen, die wirklich nur ein Australier begreifen würde.

Der Mann sah zwar anständig aus, und Tolmer bezweifelte keinen Augenblick, daß er ein Stationseigentümer von jenem Eiland sei, aber – sie befanden sich in Australien, und Tolmer hatte schon zu oft erfahren, daß man niemandem, was seine frühere Existenz betraf, trauen dürfe, besonders nicht in der damaligen Zeit. Die dem äußeren Anscheine nach anständigsten Leute waren oft als Deportierte herübergekommen, und wenn sie auch später nicht mit den Buschrangern gemeinsame Sache machten, hüteten sie sich doch wohl, sie zu verraten – teils vielleicht aus Mitgefühl, teils wohl auch aus Furcht vor einer möglichen Rache.

Der Mann hatte allerdings mit dem größten Eifer gegen das fortgesetzte System gesprochen, verbrecherische und gezwungene Ansiedler nach Australien zu bringen, das aber stellte noch gar nicht fest, daß er nicht in näherer Beziehung zu diesen stand, als er jetzt vielleicht eingestehen mochte. War das aber wirklich der Fall, so konnte eine unbedacht hingeworfene Frage mehr verderben, als sich leicht wiedergutmachen ließ, und war es nicht so, nun, so hatte er eben nichts verdorben oder versäumt.

In der Unterhaltung und durch geschickte Fragen bekam er übrigens doch heraus, daß sich gerade in der Nachbarschaft von Mr. Lindsays Station einige Individuen aufhielten, die von der Jagd und vom Fischfang lebten und keine feste Ansiedlung ihr eigen nannten, und über diese etwas Näheres zu erfahren, war er jetzt fest entschlossen. Das aber mußte auf andere Art geschehen als durch einfache Fragen.

Tolmer hatte in Adelaide einen Polizeisoldaten, Borris, auf den er sich in jeder Hinsicht verlassen konnte. Borris war noch ein junger Mann, aber in seinem Fach, in dem er schon seit sechs Jahren tätig war, ausgezeichnet und außerdem erst seit ganz kurzer Zeit von Sydney hierher versetzt, also jenen Verbrechern noch völlig unbekannt.

Sein Plan war bald gemacht. Borris sollte als gewöhnlicher BündelmannSo heißen in Australien die Leute, die Arbeit suchend im Lande umherziehen. Da sie natürlich kein großes Gepäck mitnehmen können und ihr Eigentum meist immer in einem kleinen Bündel auf der Schulter tragen, hat man ihnen diesen Namen gegeben. Die meisten sind entweder entlassene Sträflinge oder solche, die mit einem Ticket of leave, d. h. Urlaubsschein, die Erlaubnis haben, sich selbst ihr Brot zu verdienen. Ein solches Ticket bekommen natürlich nur die, die den größten Teil ihrer Zeit schon verbüßt und sich dabei musterhaft geführt haben. zur Känguruh-Insel hinübergehen und dort als Schäfer oder Hüttenwächter oder was immer Beschäftigung bei Mr. Lindsay, und wenn das nicht anginge, ganz in der Nachbarschaft suchen. Dort blieb es ihm dann selbst überlassen, alle möglichen und nützlichen Erkundigungen über seine Nachbarschaft einzuziehen; und wußte er, was er wissen wollte, so konnte er wieder nach Adelaide herüberkommen und Bericht erstatten. Tolmer warnte ihn aber besonders davor, einen Brief zu schreiben, wenn sich nicht eine sichere Gelegenheit fand, ihn zu befördern. Das Schreiben an und für sich war überdies schon gefährlich, denn wurde er dabei von irgend jemandem gesehen, so mußte Verdacht gegen ihn rege werden. Ein ordentlicher und richtiger Bündelmann kann nie mehr schreiben als höchstens seinen Namen – und selbst den nicht immer.

Borris war übrigens klug und gewitzt genug, in dieser Hinsicht völliges Vertrauen zu verdienen. Er wußte, was man von ihm verlangte, und das genügte; das Weitere besorgte er schon selbst.

Mr. Lindsay blieb noch einige Tage in Adelaide; Borris benutzte die Zeit, seine nötigen Einrichtungen zu treffen, und schiffte sich dann, mit einem Ticket of leave, das ihm Tolmer ausfertigen ließ, versehen, nach seinem Bestimmungsort ein. Mit einem solchen Ticket wurde er von allen Ansiedlern geduldet, und bei der Menschenklasse, unter der er sich besonders umsehen sollte, galt es als vollständiger Freipaß, ihm unbedingt zu vertrauen – war er doch einer der Ihrigen.

Borris war damit spurlos aus Adelaide verschwunden, denn drüben auf der Insel nannte er sich, der Verabredung gemäß, Jack, und Monat um Monat verging, ohne daß Tolmer wieder etwas von ihm gehört hätte. War ihm am Ende gar ein Unglück zugestoßen? – Hatte er sich verraten oder ihn jemand doch erkannt? – Tolmer wurde schon unruhig und dachte daran, einen zweiten Boten hinüberzusenden, um Gewißheit über das Schicksal des ersten zu bekommen. Das war aber nicht nötig.

Eines Morgens trat Borris in seiner Buschtracht, wie er eben ankam, in Tolmers Zimmer, und die beiden blieben dort mehrere Stunden in eifrigem Gespräch.

Das Resultat seiner Entdeckungsreise war auch insofern günstig, als es die Gewißheit brachte, daß auf der Insel eine Anzahl verdächtiger Individuen lebte. Ob es nun gerade jene Verbrecher waren, deren Spur Tolmer schon so lange vergebens verfolgt hatte, war schwer zu bestimmen. Die Beschreibung des einen von ihnen, der einen gewissen Einfluß auf die übrigen auszuüben schien, paßte aber recht genau auf den verwegensten der Flüchtlinge, einen gewissen John Mulligan, dem man damals besonders auf der Spur gewesen war; und hielt sich dieser jetzt dort drüben versteckt, so hatte er auch seine Kumpane sicher in der Nähe. Jedenfalls war es der Mühe wert, jene Gesellen auszuheben und zur Rechenschaft zu ziehen, denn sie brandschatzten in neuerer Zeit wieder die Stationshalter, töteten von den Herden, was sie für ihren eigenen Bedarf brauchten, ohne sich viel um irgendein Eigentumsrecht zu kümmern, und hatten sogar neulich einen Einbruch auf einer Station versucht – allerdings ohne Wissen und, wie Borris behauptete, gegen den Willen ihres Führers, der klugerweise alles vermied, was die Aufmerksamkeit der Regierung auf sie lenken konnte.

Tolmer selbst war damals noch nie auf der Känguruh-Insel gewesen und kannte das Terrain gar nicht. Borris beschrieb es ihm dabei als für diese außerhalb der Gesetze lebenden Menschen sehr günstig, so daß es große Schwierigkeiten haben mochte, sie wirklich einzufangen, wenn sie vorher gewarnt worden wären. Die größte Vorsicht war deshalb noch immer nötig.

Mit einem Regierungskutter durften sie nicht hinüberfahren und drüben anlegen; die Kunde davon würde sich blitzschnell über die ganze Insel verbreitet haben. In Adelaide lag aber gerade ein kleiner Schoner, der neuseeländischen Flachs von Auckland geholt hatte und den man recht gut für eine solche Fahrt bekommen konnte. Der Gouverneur gab auch augenblicklich seine Erlaubnis dazu und bewilligte die nötigen Mittel, und drei Tage später segelte der Schoner mit Mr. Tolmer und zehn Leuten, auf die er sich vollständig verlassen konnte, in See. Diese hatte er teils als Bündelleute, teils als Matrosen gekleidet und alle weiteren Pläne aufgeschoben, bis er sich selbst an Ort und Stelle umgesehen hätte.


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