Friedrich Gerstäcker
Alle jagen John Mulligan
Friedrich Gerstäcker

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»Mr. Tolmer«, sagte Mulligan finster, »Ihr werdet Euch erinnern, daß ich Euch geweckt habe. Es lag in meiner Macht, Euch eine Kugel durchs Hirn zu schießen.«

»Aus dem leeren Gewehr?« sagte Tolmer lachend. »Es stecken nur Zündhütchen darauf, daß es besser aussieht. Aber hört mich, Mulligan«, fuhr er plötzlich, als der Buschranger das Gewehr mißtrauisch betrachtete und nicht übel Lust zu haben schien, den Ladestock herauszuziehen, ernster und mit einem mehr teilnehmenden Ton fort: »Noch sind wir unter uns. Soviel ich weiß, ist Euch bis jetzt kein ernsteres Vergehen zur Last gelegt worden als die gelegentliche Erpressung von Proviant, die mit der Not entschuldigt werden kann. Ihr habt noch kein Blut vergossen, und wenn auch wieder eingefangen als Buschranger, steht Eure Sache noch immer nicht so schlimm. Ein oder zwei Jahre verschärfte Überwachung ist wahrscheinlich die Strafe, die Ihr bekommen werdet, und ich werde Euch durch meine Aussagen nicht tiefer hineinreiten. Stellt einmal das Gewehr an die Wand; ich mag nicht mit Euch reden, solange Ihr eine Flinte in der Hand habt, wenn sie auch nicht geladen ist.«

Mulligan sah ihn an und zögerte.

»Soll ich das Zeichen geben?« fragte Tolmer, »daß meine Leute Euch mit der Waffe in der Hand ertappen?«

»Ihr habt recht, Mr. Tolmer, sagte der Mann, dem die Ruhe des Polizisten imponierte. Der, den er vor wenigen Minuten noch in seiner Gewalt geglaubt, mußte wirklich Hilfe in seiner unmittelbaren Nähe haben, er wäre sonst wenigstens von seinem Erscheinen erschreckt worden oder hätte sich in anderer Weise verraten. Nach dieser Überlegung lehnte er das Gewehr an die Wand, Tolmer aber griff jetzt langsam in die Brusttasche, wo er ein geladenes Pistol stecken hatte. Jetzt fühlte er sich sicher, denn er war imstande, dieses zu ziehen und abzudrücken, ehe der Buschranger wieder zu dem Gewehr greifen konnte.

»So – ich sehe, Ihr seid vernünftig«, sagte er ruhig, ohne jedoch die Waffe hervorzuziehen oder im mindesten zu verraten, daß er sich nicht völlig sicher fühle, »aber Ihr seht bleich und elend aus, Mulligan. War denn das nun der Mühe wert, daß Ihr Eurer Strafe entsprangt, nur um ein solches Hundeleben im Busch zu fuhren?«

»Es ist ein Hundeleben«, knirschte der Mann leise vor sich hin, »und ein Hund möcht's nicht länger führen. Gehetzt wie ein Dingo, von den Kameraden verraten, fortwährend nur auf der Wacht, das elende Leben in Sicherheit zu bringen. Ich will's auch nicht länger führen; nehmen Sie mich in die Kolonie mit hinüber, Mr. Tolmer. Ich habe das wilde Treiben satt und übersatt.«

»Jetzt sprecht Ihr wie ein vernünftiger Mensch«, sagte Tolmer, von seinem Bett aufstehend. Er vergaß fast, daß er einen wunden Fuß hatte, so aufgeregt war er, nur erst sein Gewehr wieder in Händen zu haben! Wer stand ihm dafür, daß den Buschranger nicht in der nächsten Minute schon die Unterwerfung gereute? »Ihr sollt auch unterwegs ordentlich behandelt werden – wenn Ihr mir nämlich versprecht, Euch ordentlich zu betragen.«

Er ging zu ihm heran und stand jetzt neben seiner Waffe, ohne sie aber zu berühren. Zeigte er auch nur die geringste Furcht, so wußte er, daß der Mann, mit dem er es hier zu tun hatte, seinen Vorteil rasch genug nutzen würde. Außerdem konnte er nicht einmal richtig auftreten und wäre deshalb in einem Handgemenge augenblicklich unterlegen. Kein Laut war draußen zu hören; seine Leute waren vielleicht noch meilenweit entfernt.

»Aber die – anderen sind noch draußen im Busch«, sagte der Sträfling endlich nach einigem Zögern.

»Keiner mehr, Mulligan«, sagte Tolmer ruhig, »wir haben sie alle.«

»Alle?« rief Mulligan erstaunt aus.

»Alle miteinander – das heißt fünf und den Matrosen, der noch bei Euch war – ich weiß nicht, ob noch mehr im Busch herumliegen.«

»Nicht mehr als die«, sagte kopfschüttelnd der Sträfling, »es müßten denn ganz kürzlich neue herübergekommen sein, die ich noch nicht gesehen hätte.«

»Also habt Ihr mir weiter nichts zu sagen«, fragte Tolmer, indem er die Pfeife in die Hand nahm, als ob er das Zeichen geben wolle, »und ich kann meine Leute jetzt rufen?«

»Nichts weiter, Mr. Tolmer«, sagte Mulligan fast demütig, »aber Ihr werdet mir bezeugen, daß ich nicht das geringste Böse gegen Euch im Sinne gehabt.«

»Darauf gebe ich Euch mein Wort«, versprach ihm der Polizeimann, indem er jetzt langsam den Arm nach dem Gewehr ausstreckte und es an sich nahm. Ein Blick auf das Schloß versicherte ihn, daß die Zündhütchen noch darauf und zum Gebrauch bereit seien, und jetzt erst, als er sich ein paar Schritte von dem Flüchtling entfernt hatte und das Gewehr gegen ihn hob, war es, als ob eine Zentnerlast von seinem Herzen gewälzt wäre. Er holte aus voller Brust Atem und sagte dann, während ihn Mulligan erstaunt betrachtete:

»Jetzt seid so gut, Mate, und geht einmal dort in die Ecke des Hauses – dort hinüber, meine ich, ein Stück von der Tür fort.«

Der Buschranger zögerte – eine Ahnung, daß er sich habe überlisten lassen, schien in ihm aufzusteigen.

»Geht dort in die Ecke, John«, sagte Tolmer, aber mit fester Stimme, »ich möchte Euch nicht gern ein Leid tun, aber ich muß es, wenn Ihr die geringste Bewegung zur Flucht oder zum Widerstand macht.«

»Teufel«, zischte der Buschranger leise vor sich hin, »so war das alles nicht wahr, was Ihr mir da gesagt habt?«

»Kein Wort davon, John«, sagte Tolmer lachend, das Gewehr fest dabei im Anschlag, »nur das Versprechen, das ich Euch gegeben, halt ich. Was ich zu Euren Gunsten aussagen kann, soll geschehen.«

»Und Eure Leute?«

»Suchen Euch draußen am Strand oder in den Känguruhdornen, Gott weiß, wo – aber sie kommen hierher zurück, und bis dahin muß ich freilich Posten bei Euch stehen.«

Der Buschranger drehte sich um, ging in die Ecke, setzte sich auf den Boden nieder und drückte sein Gesicht grimmig auf die Knie.

Tolmer dauerte der arme Teufel, und er sagte freundlich:

»Seid guten Mutes, John, die Sache kann noch besser werden, als Ihr jetzt glaubt. Wenn Ihr Euch ruhig verhaltet, bis meine Leute kommen, und nicht den geringsten Widerstand leistet, will ich annehmen, daß Ihr alles gewußt und Euch mir freiwillig gestellt habt. Ihr werdet verstehen, daß Euch das beim Gouverneur hoch angerechnet würde.«

»Und wollten Sie das wirklich tun, Mr. Tolmer?« fragte Mulligan, rasch den Kopf hebend.

»Ich habe es Euch freiwillig zugesagt.«

»Dank Euch, Sir«, sagte der Mann aus vollem Herzen, »Menschenkräfte hätten's auch nicht länger ausgehalten. Seit zwei Tagen habe ich keinen Bissen, nur einen Trunk Wasser, über die Lippen gebracht; und der Streifschuß an der Schulter, gestern den ganzen Tag das Wundfieber und die Dornen haben mir schwer zu schaffen gemacht. Das Gefängnis ist eine Wohltat gegen ein solches Dasein.«

»Aber warum habt Ihr Euch nicht schon lange wieder gestellt?«

»Die Freiheit«, stöhnte der Mann, »die Freiheit! Ihr, die Ihr da draußen noch nie hinter den Eisenstäben gesessen, noch nie gehört habt, wie es klingt, wenn die Riegel hinter einem zugeschoben werden, Ihr wißt gar nicht, was es ist, ein freier Mensch zu sein.«

Er sank mit den Worten wieder in seine frühere Stellung zurück, und Tolmer, der sich jetzt ziemlich sicher fühlte, daß er für den Augenblick keinen weiteren Fluchtversuch von seinem Gefangenen zu fürchten habe, ging an das Bettgestell, nahm Brot und Fleisch, das er noch dort liegen hatte, und brachte es Mulligan.

Anfangs wollte er es nicht anrühren; aber nicht lange konnte er es neben sich liegen sehen. Sein kräftiger und jetzt bis zum Tod erschöpfter Körper forderte Nahrung, und sowie er den ersten Bissen gekostet hatte, schlang er auch das übrige rasch und gierig hinunter.

Eine volle Stunde mußte Tolmer noch warten, ehe die Seinen von ihrem natürlich erfolglosen Streifzug zurückkehrten. Sie hatten aber dabei ihre übrigen Gefährten getroffen, die eben im Begriff gewesen waren, den Schoner wieder aufzusuchen.

Borris war übrigens nicht wenig erstaunt, John Mulligan in Tolmers Gesellschaft zu finden, und das unwahrscheinlichste von allem war ihm, daß sich der Buschranger freiwillig gestellt haben sollte. Tolmer aber erklärte es in Mulligans Gegenwart, und als er noch die Wunde des Gefangenen hatte sehen lassen und indessen von der nächsten Station ein Pferd für ihn selbst herbeigeholt worden war, denn mit seinem wunden Fuß hätte er die Strecke nicht mehr marschieren können, setzte sich der kleine Zug in Bewegung.

Ein zu Jim Riddles Hütte geschickter Bote holte indessen den Matrosen von dort ab, brachte aber auch Jim mit, der sich selbst überzeugen wollte, ob sein »Freund«, der Buschranger, wirklich in sicherem Gewahrsam sei und ihm keinen unverhofften Besuch mehr abstatten könne. Nur unter dieser Bedingung wollte er länger auf der Känguruh-Insel bleiben.

Als sie an der Stelle angekommen waren, wo der Schoner auf die Polizeimannschaft wartete, stieg Tolmer vom Pferde. Bevor das Boot kam, um sie abzuholen, wollte er noch die alten Schüsse aus seinem Gewehr herausschießen und es frisch laden. Er nahm einen dickstämmigen Gumbaum aufs Korn – John Mulligan, von vier Polizeileuten bewacht, stand neben ihm –, zielte bedächtig und drückte ab. Klapp, versagte das rechte – klapp, das linke Rohr.

Tolmer drehte sich langsam zu John Mulligan um, und beider Blicke begegneten sich, aber keiner von ihnen sprach ein Wort. Der Polizeisergeant setzte ruhig frische Zündhütchen auf, drehte sich wieder dem Baume zu und feuerte beide Rohre scharf hintereinander in den alten Gumstamm hinein, daß die Rehposten klappernd daraufschlugen.

Eine Stunde später hatte der Schoner alle seine Passagiere an Bord; der Anker wurde gelichtet, und das kleine Fahrzeug segelte mit günstigem Wind zu dem nicht fernen australischen Kontinent hinüber.


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