Friedrich Gerstäcker
Alle jagen John Mulligan
Friedrich Gerstäcker

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Der Schlüssel fand sich übrigens nicht, wenigstens nicht so rasch, wie es der Buschranger wünschte, und der Kasten wurde deshalb ohne weiteres erbrochen, der lederne Briefbeutel aufgeschnitten, und Gentleman John war wohl eine Stunde lang emsig beschäftigt, die verschiedenen Briefe und Pakete zu öffnen und nach Geld zu durchsuchen.

Diese Ernte fiel über Erwarten günstig aus. Als Gentleman John alles hatte, was er wünschte, stopfte er die mißhandelten Briefe wieder ziemlich rücksichtslos in den zerschnittenen Beutel zurück, hing sich die Doppelflinte des Siedlers mit dessen Pulverhorn und Kugeltasche um und sagte:

»Nun, Bill, habe ich nichts dagegen, wenn du versuchst, so rasch wie möglich die nächste Station zu erreichen. Es wird sich freilich nicht sehr bequem in den nassen Wegen gehen.«

»Aber die Pferde, Sir!«

»Tut mir leid, Mate, die brauche ich selbst viel zu notwendig«, lautete die Antwort des Buschrangers, »als daß ich ein so treffliches Paar verschenken könnte. Ihr müßt Euch bis auf die nächste Station schon so behelfen.«

»Wir sollen laufen?« rief Mr. Warrel erschrocken.

»Tut mir wirklich leid, Euch die Unbequemlichkeit für die kurze Strecke zu machen«, sagte John, »aber es läßt sich nicht ändern. Ihr werdet auch wahrscheinlich auf der nächsten Station etwas länger als gewöhnlich auf die Pferde warten müssen, da ich sie ebenfalls für meine Leute brauche. – So lebt denn wohl, meine Herrschaften, mein Freund hier, unser Siedler, wird die Güte haben, uns noch eine Strecke zu begleiten und unser Gepäck zu tragen – kein Wort der Widerrede, Sir, es wird für Euch das nächstemal eine Warnung sein, sich mit höchst unnötigen und gefährlichen Schußwaffen zu versehen. Und Ihr, Bill, ich hoffe, Ihr denkt billig genug, den Kleinen nicht zu einem abermaligen Tausch zu zwingen.«

»Ich will verdammt sein –«

»Schon gut – daran zweifle ich nicht im mindesten. Aber bald hätte ich noch etwas vergessen. Mr. Warrel, ich habe noch eine Bitte an Euch!«

»An mich, Sir?«

»Mein Hut ist vom letzten Regen so sehr mitgenommen, während sich der Eurige, von gutem Filz, vortrefflich gehalten hat. Dürfte ich Euch bitten, mit mir zu tauschen?«

»Mit Vergnügen, Sir, und er soll mir stets ein teures Andenken bleiben.«

»Ihr seid gar zu gütig«, sagte Gentleman John lächelnd, seinen Hut dem Kaufmann überreichend, während er selbst dessen weit besseren entgegennahm.

Einer von Johns Leuten machte diesen jetzt auf die schwere goldene Kette aufmerksam, die Mr. Warrel noch immer trug. Ein paar Worte des Führers beruhigten den Burschen aber völlig. Die Pferde wurden dann an den Busch geführt, und dem Siedler, der mit störrischem Gleichmut alles über sich ergehen ließ, sein eigener wie der Reisesack des Mr. Warrel aufgeladen, mit dem er den Räubern in den Busch folgen mußte. Der schweigsame Passagier wurde gar nicht belästigt.

Wenige Minuten später waren alle hinter den grauen Gumbüschen verschwunden, und Bill blieb mit dem Rest seiner Passagiere neben dem unbespannten und ausgeplünderten Postkarren mitten auf der Straße zurück.

Allerdings ließ er einen Teil seines Grimmes an dem unglücklichen Kleinen aus, den er, trotz der Mahnungen des Gentleman John, ohne weiteres zwang, ihm seine eigenen Kleider herauszugeben. Ihre Lage wurde aber dadurch um nichts gebessert, und sie sahen sich endlich alle gezwungen, Bill, der den zerschnittenen Briefsack auf den Rücken nahm, zu Fuß zu der nächsten, etwa noch zehn englische Meilen entfernten Station zu folgen.

Hier mußten sie einen ganzen Tag verbleiben, um erst von weiterher andere Pferde zu bekommen, denn Gentleman John hatte die Wahrheit gesprochen, als er Mr. Warrel versicherte, daß die dorthin gehörenden Pferde von seinen eigenen Leuten weggetrieben seien, und erst am vierten Tag erreichten sie in einem höchst traurigen Zustande die Hauptstadt Süd-Australiens – Adelaide.

Diese so übermütige Beraubung der Post wie die Wegführung eines der Passagiere, der sich später freilich, von Dornen zerfetzt und von den erlittenen Anstrengungen zu Tode ermattet, wieder einfand, machte in Adelaide nicht geringes Aufsehen.

Die Frechheit der Räuber war doch zu groß gewesen, als daß man sie diesmal ungestraft hingehen lassen wollte. Die ganze südaustralische Polizei, über die im Augenblick verfügt werden konnte, wurde deshalb aufgeboten, die Buschranger aufzuspüren und auf eine oder die andere Art unschädlich zu machen. Auf den Kopf des Anführers, des berüchtigten Gentleman John, war überdies eine Prämie von hundert Pfund Sterling gesetzt, und dem, der ihn lebendig einbringen würde, sogar eine Belohnung von zweihundert Pfund zugesichert worden.

 

Gentleman John hatte indessen seine Zeit vortrefflich genutzt, nicht allein seine Wechsel und Papiere in Adelaide, ehe der Raub bekannt wurde, zu verwerten, sondern auch die andere reiche Beute in Sicherheit zu bringen. Überall dort genau bekannt, wie auch mit den einzelnen in jener Gegend heimischen Stämmen der Australier befreundet, benutzte er diese zu Spionen, und was er ihnen dafür an wollenen Decken und Lebensmitteln gab, machte sie zu seinen willfährigen und in dem öden, wasserarmen Busch oft höchst nützlichen und brauchbaren Dienern.

Er hatte sich sogar eine der Frauen des Stammes genommen und alle dabei gebräuchlichen Zeremonien durchgemacht wie auch den Eltern des Mädchens ein reiches und übliches Kaufgeld gegeben. Dadurch fühlte sich der Stamm besonders geehrt, und Gentleman John war ihnen schon deshalb lieb geworden, weil die übrigen Weißen ihnen nur Schaden zufügten und sie von einem Platz zum andern trieben, während er ihr Freund zu sein schien. Sahen sie doch in ihm einen Leidensgefährten, der wie sie verfolgt wurde, dessen wohlbewaffnete Schar sie aber gegen weitere Übergriffe ihrer Feinde schützen und bewahren konnte.

Und Gentleman John selbst? – Der benutzte, in wildem und unbegrenztem Übermut, jede Hilfe, die sich ihm bot, kam sie von welcher Seite auch immer, jeden günstigen Augenblick, den er erhaschen konnte. Jedenfalls in seiner Jugend zu Besserem erzogen, lag, Verführter oder Verführer, ein dunkles Leben hinter ihm, und mit der neugewonnenen Freiheit schien er entschlossen, diese zu genießen, allen menschlichen Gesetzen zu Trotz und Hohn.

Rücksichtslos dabei alles unter die Füße tretend, was nicht seinem Zweck diente, wußte er sich bei der Bande, die sich ihm angeschlossen hatte, leicht in Respekt, bei der ganzen Umgegend aber in Furcht zu setzen, und er hatte schon manchen gegen ihn unternommenen Angriff vor der Ausführung vereitelt oder mit seiner wohlbewaffneten und sogar nicht einmal schlecht disziplinierten Schar zurückgeschlagen, und wenig kümmerte er sich jetzt um die Folgen seines frechen Streiches.

Von allen Seiten her aber von vortrefflichen Spionen bedient, konnte es ihm auch nicht lange verborgen bleiben, daß sich diesmal doch ein schwereres Unwetter als gewöhnlich über seinem Haupte zusammenzog. Von allen Richtungen kamen die Boten, die ihm Kunde brachten, daß in den verschiedensten Distrikten bewaffnete Mannschaft aufgeboten und ein Schlag vorbereitet würde, der ihn und seine zu gefährlich gewordene Bande mit einemmal vernichten sollte. Auch der auf sein Einbringen gesetzte Preis von zweihundert Pfund Sterling – der dem Verräter, wenn er ein entflohener Sträfling sei, außerdem volle Straffreiheit zusicherte – machte seine Stellung mehr und mehr gefährlich, denn daß er nicht auf die Treue von allen seinen Leuten zählen durfte, wußte er recht gut. Einige waren in der Tat unter ihnen, die ihn nicht ungern verraten hätten, wenn sie nur ihr eigenes Leben nicht zu sehr dabei gefährdet wußten.

Solchem Zustand mußte er ein Ende machen. Außerdem hatte er dies trostlose Leben, die stete Gefahr, das rastlose Umherstreifen in dem öden Wald, recht von Herzen satt und schon den Plan entworfen, Australien so bald wie möglich zu verlassen.

An einer Biegung des Murray hatten sie für den Augenblick ihr Lager aufgeschlagen, und die rings umher aufgeschichteten und mit Rindenstücken gegen das Wetter geschützten Vorräte schienen auf die Absicht eines längeren Aufenthalts zu deuten. Unfern davon aber und im Schilf versteckt lag ein tüchtiges Fischerboot, von denen einige den Viktoria-See befuhren, und unterderhand hatte der Buschranger bis jetzt von seinen Leuten mehrere kleine Fässer mit Wasser füllen und einigen Proviant an Bord schaffen lassen.

Allerdings drohte ihnen bei einem Fluchtversuch in die offene See noch eine keineswegs unbedeutende Gefahr, denn an der Mündung des Viktoria-Sees in die Encounter-Bay wälzt sich eine so furchtbare Brandung dem kühnen Schiffer entgegen, daß die Durchfahrt durch diesen schmalen Meeresarm schon von vielen Seeleuten als ganz unmöglich geschildert wurde. Gefahr aber, ob sie ihm von Menschen oder den Elementen drohte, konnte den verwegenen Räuber nicht schrecken. Durch diese Brandung führte die Bahn zur Freiheit, und durch sie hin war er entschlossen, seinen Weg zu suchen.

Die Einschiffung selbst sollte auch schon am nächsten Morgen stattfinden, und nur den Australiern hatte er bis jetzt noch den eigentlichen Zweck dieser Flucht verheimlicht, da sich diese wahrscheinlich widersetzt oder ihn gar im entscheidenden Augenblick verraten hätten. Ließ er sie doch schutzlos der Rache der Weißen allein zurück.

Der Morgen dämmerte eben. Auf die höchsten Wipfel der hier in der Niederung zu riesiger Höhe gewachsenen Gumbäume lag der erste Schimmer des anbrechenden Tages und färbte das mattgraue Laub der holzigen Blätter mit einem eigenen fast zauberhaften Duft. Zugleich stand noch der Mond in voller Scheibe am Himmel und warf sein fahles Licht durch die nur spärlich belaubten Wipfel auf die niederen Rindendächer und halb verglommenen Feuer, um die sich wunderliche Gruppen fest in ihre Decken eingehüllter menschlicher Gestalten und ganze Scharen halbverhungerter Hunde gelagert hatten.

Die Biwakierenden schienen sich übrigens völlig sicher zu fühlen oder der Wachsamkeit der ausgestellten Posten zu vertrauen, die nötige Zeit der Ruhe nicht durch nutzlose Sorge zu unterbrechen oder zu stören. Nur hier und da hob einer der Schläfer manchmal den Kopf, aus müden Augenlidern nach dem dämmernden Tag emporzuschauen, und hüllte sich dann fester in seine Decke, die kalten Morgennebel von sich fernzuhalten.

Da glitt eine dunkle, nackte Gestalt, mehr einem Schatten als menschlichem Wesen gleich, am Ufer des Stromes herauf und durch die dichten Büsche hin dem Lager zu. Die Hunde hoben knurrend den Kopf und drückten ihn winselnd wieder gegen ihre Weiche, als sie mit einen Augenblick hochgehaltenen Nasen den Bekannten gewittert hatten. Dieser aber sprang mitten zwischen ihnen hin, zum nächsten Feuer, schürte die Brände zusammen, bis sie zu heller Glut emporloderten, und wärmte daran die halberstarrten nackten Glieder. Doch nur kurze Rast gönnte er sich an der wohltuenden Glut. Sein rasch umhergeworfener Blick hatte bald das Rindendach des weißen Häuptlings unter den übrigen herausgefunden, und zu diesem hinanschleichend, faßte er nach der dort ausgestreckten kräftigen Gestalt Gentleman Johns und legte die Hand auf dessen Schulter.

Im Nu fuhr der Buschranger von seinem Lager empor, und die in demselben Augenblick auch aufgegriffene und gespannte Pistole bewies deutlich genug, daß er während der ganzen Nacht hindurch doch nur »mit der Hand am Kolben« geschlafen hatte.

»Pst!« flüsterte der Australier, den Finger warnend erhoben. »Sie kommen!«

»Sie kommen? – Wer?« rief John, sich wild die Haare aus der Stirn streifend.

»Die Weißen«, lautete die vorsichtige Antwort des Australiers. »Müssen die ganze Nacht bei Mondschein marschiert sein – sind oben am Fluß und eben dabei, herüberzukommen.«

»Und wie viele, Bukkul?« rief John, der erst jetzt in dem Alten den zum Kundschaften ausgesandten Vater seiner Frau erkannte.

»Tausend«, erwiderte dieser mit dem Zahlwort, das in der Sprache der Australier eine unbestimmte, aber sehr große Zahl bedeutet. »Tausend. Haben Pferde und Gewehre und viele rote Jacken und blaue Jacken und lange Messer.«

»Alle Teufel!« brummte John leise vor sich hin, »das ist um vierundzwanzig Stunden zu früh, läßt sich aber jetzt nicht ändern. Die Burschen sollen uns wenigstens nicht unvorbereitet finden. Wecke die Deinen, Bukkul!«

Ein scharfer Pfiff, den er zugleich ausstieß, schallte gellend durch den stillen Wald und brachte im Nu die schlafenden Buschranger auf die Füße. War es doch das Alarmzeichen ihrer Schar, und die Bande war sich der Gefahr, in der sie fortwährend schwebte, viel zu gut bewußt, als daß sie die Warnung auch nur für einen Moment unbeachtet gelassen hätte.

Im Nu fuhren sie von ihren harten Lagern empor, und, ihre Taschen umgehängt, die Gewehre in ihren Händen, sammelten sie sich um ihren Führer, der indessen schon einige der jungen Leute von den Australiern ausgeschickt hatte, das Vorrücken der Feinde zu beobachten.

Gentleman John übrigens, so viel persönlichen Mut er auch selbst besaß, fühlte doch viel zu gut das Mißliche seiner Lage, und er war keineswegs blind genug, sich über das Gefährliche auch nur einen Augenblick zu täuschen. Andere Kundschafter hatten berichtet, daß sich die wider ihn ausgesandte Macht auf nahezu hundert Mann belief, und wenn er denen gegenüber leicht eine gleiche Zahl ins Feld stellen konnte, wußte er doch recht gut, daß er sich nicht einmal ganz fest auf seine weißen Kameraden verlassen durfte, während die Australier bei der ersten Salve davonliefen oder doch den sicheren Busch zur Deckung suchten.

Außerdem konnte, von dem Versprechen der Straffreiheit und der goldenen Belohnung verblendet, selbst während des Kampfes leicht einer der Seinigen zum Verräter werden, und ihrer aller Untergang wäre dann gewiß gewesen. Das ja ist das Unglück des Verbrechers, daß er niemandem, selbst seinen Helfershelfern nicht, mehr trauen darf und in der ganzen Menschheit seinen Feind zu suchen hat. Auf einen gleichen Kampf mit der Polizei hätte er es deshalb auch gern und rasch gewagt; die Verzweiflung stählt den Arm des Kämpfenden, und Verzweifelte waren es hier, denen selbst der Sieg nur eine Galgenfrist bieten konnte. Jetzt aber, wo er die Übermacht auf seiten seiner Feinde wußte und ein einziger Verräter ihn leicht in ihre Hände, in die Hände des Henkers liefern konnte, mußte er sich den Rücken decken.


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