Joseph Smith Fletcher
Der Stadtkämmerer
Joseph Smith Fletcher

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

25. Kapitel.

Kein weiteres Zeugnis.

Während Mallalieu sich im Hause der Miß Pett versteckt hielt, machte Cotherstone ganz andere Erfahrungen in einer Zelle des Gefängnisses in Norcaster. Er lachte über die Dummheit Mallalieus. Seiner Meinung nach konnte nur jemand, der seine fünf Sinne nicht mehr beisammen hatte, so töricht sein. Wer flieht, hat auch Grund zur Flucht. Und wie er würden neunundneunzig Prozent aller Leute in Highmarket urteilen. Mallalieu würde als schuldig gelten. Er, Cotherstone, würde keinen Fluchtversuch unternehmen, selbst wenn man die Tore des Gefängnisses in Norcaster für ihn offenstehen ließ. Er wollte sich vor dem Gericht und dem Gesetz rechtfertigen. Seine Freisprechung sollte in aller Öffentlichkeit erfolgen. Er wollte nicht feige fliehen, sondern um seine Rehabilitierung kämpfen.

Da Cotherstone nur in Untersuchungshaft saß, genoß er allerhand Vergünstigungen. Er setzte sich deshalb sofort mit einem Rechtsanwalt in Norcaster in Verbindung, der einen großen Ruf hatte, und ließ durch ihn einen berühmten Verteidiger in Kriminalsachen für sich verpflichten, dem man nachrühmte, daß er während seiner Tätigkeit mehr Angeklagte vor dem Galgen gerettet hätte als irgendein anderer lebender Anwalt. Er sagte seinem Rechtsanwalt und seinem Verteidiger, daß Geld keine Rolle spiele, und teilte ihnen seinen Verteidigungsplan mit. Er sprach eindringlich, und seine Ausführungen machten großen Eindruck auf die beiden.

»In einer Woche bin ich wieder auf freiem Fuße«, dachte er für sich. »Ich möchte nur wissen, wie es Mallalieu dann geht. Weit kann er ja nicht gekommen sein. Und dreißig Jahre lang kann er auch nicht in seinem Versteck bleiben, um die Verjährung seines Verbrechens abzuwarten.«

Mit einer gewissen Sorge und Ängstlichkeit erwartete er den Besuch seiner Tochter, nicht, weil er sich schämte, sie im Gefängnis zu empfangen, sondern weil sie jetzt von seinem Vorleben wußte, das er früher so ängstlich vor ihr geheimgehalten hatte. Obwohl sie sein einziges Kind war, kam sie ihm doch manchmal rätselhaft vor. Was würde sie nun sagen?

Es war Bents Aufgabe gewesen, ihr alles mitzuteilen. Und Bent hatte Brereton gebeten, ihn dabei zu unterstützen. Lettie hörte ihnen ruhig und geduldig zu und zeigte sich in keiner Weise verletzt oder entrüstet, als sie alles erfahren hatte. Die beiden Freunde hatten ihr natürlich alles so schonend wie möglich beigebracht und Cotherstone in Schutz genommen, wo es nur ging.

»Ich verstehe es«, sagte sie nur, »es ist ja sehr deprimierend, aber mir erscheint die Sache sehr klar. Mr. Mallalieu war der einzig Schuldige. Vater wurde durch ihn in diese verhängnisvollen Geschichten verwickelt. Man braucht ja nur das alles dem Gericht vorzutragen, und er wird bestimmt freigesprochen. Und Mallalieu kommt an den Galgen. Unsere Trauung müssen wir allerdings so lange aufschieben.«

»Natürlich«, gab Bent zu. –

»Ich gratuliere dir, daß deine Braut ein so vernünftiges Mädel ist«, sagte Brereton auf dem Heimweg. »Das ging ja viel besser, als wir erwartet hatten.«

»Ach, Lettie ist die Ruhe und Überlegenheit selbst. Sie hat die Situation sofort erfaßt, und ich werde alles für Cotherstone tun, was in meinen Kräften steht. Wie wäre es denn, wenn du seine Verteidigung übernehmen würdest?«

»Ach, das wird er selbst tun. Er hat eigentlich schon gestern bei Tallington seine Sache sehr gut gemacht. Wenn du ihn in Norcaster besuchst, wirst du sehen, daß er bereits alles arrangiert hat. Die voreilige Flucht von Mallalieu kommt ihm ja sehr zugute.« –

Bent und Lettie fanden Breretons Vermutung bei ihrem Besuch vollauf bestätigt. Als er hörte, wie ruhig und gefaßt Lettie die Sache aufgenommen hatte und ihr Verhältnis zu Bent nicht im mindesten dadurch geändert wurde, zeigte er sich zuversichtlich und sagte ihnen auch, daß er bestimmt damit rechnete, in einer Woche wieder auf freiem Fuß zu sein. Schließlich hätte ja doch einmal alles an die Öffentlichkeit kommen müssen, und er fühlte sich jetzt viel freier.

»Sie haben ja guten Mut«, bemerkte Bent.

»Ich habe auch allen Grund dazu«, versicherte Cotherstone. »Warten Sie nur bis morgen, und kommen Sie zu Stoners Totenschau.«

Wer es in Highmarket möglich machen konnte, war am nächsten Tage im Verhandlungssaal, in dem die Totenschau für Stoner abgehalten wurde. Weder Bent noch Brereton noch Tallington hatten eine Ahnung, wie sich Cotherstone und seine Verteidiger verhalten würden. Aber die beiden Rechtsanwälte wechselten Blicke, als Cotherstone in Begleitung zweier Gefängniswärter von Norcaster in den Saal geführt wurde, und kurz darauf sein Anwalt und sein Verteidiger am Verhandlungstisch erschienen.

»Ich sehe schon, worauf es hinausgeht«, flüsterte Tallington. »Das hat er sehr schlau angefangen.«

»Der Meinung bin ich auch«, erwiderte Brereton und sah sich im Saale um. »Sehen Sie einmal, dort hinten sitzt auch unser Freund Christopher Pett!«

Bei der Totenschau traten noch einmal alle Zeugen auf, die schon vor dem Polizeigericht erschienen waren. Ihre Aussagen interessierten deshalb die Zuhörer nicht so sehr. Erst als Cotherstone zum Zeugenstuhl ging, herrschte überall gespannte Aufmerksamkeit. Der Vorsitzende warnte ihn und sagte, daß er die Fragen nicht zu beantworten brauchte, und vor allem Aussagen, die ihn belasteten, verweigern könnte.

Cotherstone erzählte alles, was ihm von der Sache bekannt war, und sein Bericht klang glaubhaft von Anfang bis zu Ende.

Sein Verteidiger hatte den Vorsitzenden und die Geschworenen nicht durch unnötige Fragen an die Zeugen aufgehalten. Er hatte nur durch die medizinischen Sachverständigen feststellen lassen, daß der Tod Stoners durch einen Schlag herbeigeführt worden war. Nach Cotherstones Aussage bestand er darauf, die beiden jungen Leute noch einmal einzeln zu vernehmen. Er ließ durch sie bestätigen, daß sie Mallalieu und Cotherstone nicht zusammen gesehen hatten, und daß Mallalieu den Steinbruch verließ, ehe Cotherstone hinunterstieg. Ferner, daß Mallalieu sehr aufgeregt war, während sich an Cotherstones Benehmen nichts Auffälliges zeigte.

Brereton beobachtete die Gesichter der Geschworenen und sah, welchen Eindruck Cotherstones Zeugnis und vor allem die Aussage der beiden Brautleute auf sie machte. Weder er noch Tallington und ebensowenig Mr. Christopher Pett waren erstaunt, als bei Einbruch der Dunkelheit die Geschworenen zu dem Spruch kamen: »Gegen Anthony Mallalieu soll Anklage wegen vorsätzlichen Mordes an Stoner erhoben werden.«

»Ihr Klient hat sich sehr gut benommen«, bemerkte Tallington zu dem Rechtsanwalt aus Norcaster, als sie sich im Vorraum trafen.

»Mein Klient wird noch größere Erfolge haben, wenn er wieder vor die Geschworenen kommt«, entgegnete der andere kurz. »Sie werden es ja sehen. Was aus Mallalieu wird, ist uns ganz gleichgültig. Am nächsten Dienstag steht Cotherstone wieder vor den Geschworenen. Und im Vertrauen möchte ich Ihnen sagen, daß die Sitzung nicht sehr lange dauern wird.« –

Der Rathaussaal in Highmarket war bis auf den letzten Platz gefüllt, als Cotherstone wieder auf der Anklagebank saß, diesmal allein. Er sah sich vertrauensvoll, fast triumphierend um. Er lauschte mit ruhigem Lächeln, als der Staatsanwalt, der von London gekommen war, mit dem Vorsitzenden über die Flucht Mallalieus sprach, und er war noch interessierter, als die Polizei berichtete, daß man bis jetzt keine Spur von ihm gefunden habe.

Gleich darauf erhob sich der Staatsanwalt. Alle Augen waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet, und es herrschte tiefes Schweigen im Saal.

»Weitere Zeugenaussagen werden gegen den Angeklagten nicht vorgebracht. Die Staatsanwaltschaft zieht hiermit die Klage gegen Mr. Cotherstone zurück.«

Als dann die Sitzung aufgehoben wurde, sprachen alle durcheinander, und die Worte des Vorsitzenden, die er an Cotherstone richtete, verklangen in der allgemeinen Aufregung.

Cotherstone erhob sich und sah triumphierend zu Bent und Brereton hinüber. Aber als er den Saal verließ, herrschte tödliches Schweigen.

 


 << zurück weiter >>