Joseph Smith Fletcher
Der Stadtkämmerer
Joseph Smith Fletcher

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2. Kapitel.

Verbrechen und Erfolg.

Cotherstone schaute ratlos ins Leere, nachdem Kitely ihn verlassen hatte. Vor drei Monaten war dieser Mann zu ihm ins Büro gekommen und hatte sich für ein kleines Haus interessiert, das Cotherstone zu vermieten hatte. Er hatte sich damals nach der Höhe des Mietpreises erkundigt und nebenbei erwähnt, daß er sich an einem ruhigen Ort niederlassen wollte und von seiner Tätigkeit zurückgezogen hätte, um den Rest seiner Tage zu verbringen. Er hatte dann das kleine Haus gemietet und seinem Wirt genügend gute Referenzen aufgegeben. Cotherstone hatte als vielbeschäftigter Mann nicht weiter darüber nachgedacht, und er hätte es sich niemals träumen lassen, daß gerade dieser Fremde ihn und Mallalieu schon vor dreißig Jahren gekannt hatte.

Es war Cotherstones eifrigstes Bemühen gewesen, die Vorgänge jener Zeit zu vergessen, und es war ihm auch fast gelungen, sein Gedächtnis einzuschläfern. Aber nun hatte Kitely wieder alles geweckt. Sein Gesicht wurde düster, als er über den einen dunklen Punkt in seiner Vergangenheit nachdachte. Er sah sich selbst und Mallalieu wieder auf der Anklagebank. Natürlich hießen sie damals anders. Seinen alten Namen hatte er seit langen Jahren nicht mehr ausgesprochen. Ihr Fall hatte damals großes Aufsehen erregt und das öffentliche Interesse auf sich gelenkt. Es war eine böse Geschichte gewesen. Als zwei junge, gutsituierte Leute standen sie damals unter der Anklage, die Gelder einer Baugenossenschaft veruntreut zu haben, bei der sie als Schatzmeister und Sekretär angestellt waren. Die Geschworenen hatten die Sache sehr streng genommen und die beiden Schuldigen zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. In Cotherstones Gedächtnis lebte diese Zeit als ein fürchterlicher Traum weiter, und doch war es schreckliche Wirklichkeit gewesen.

Er sah auf seine zitternden Hände, nahm rein mechanisch die Whiskyflasche vom Tisch und goß sich ein. Vielleicht beruhigten sich seine Nerven, wenn er etwas zu sich nahm. Hastig trank er zwei Gläser leer und grübelte dann weiter.

Dieser alte Kitely war ein schlauer Fuchs. Er wies sofort auf den einen Punkt hin, auf den die Leute vor dreißig Jahren nicht gekommen waren. Damals sagte man, die beiden hätten das Geld der Genossenschaft im Spiel und durch Spekulationen verloren. Aber das stimmte nicht; der größte Teil des Geldes war gut und sorgfältig untergebracht, und sie konnten sofort darüber verfügen. Nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis brauchten sie nur das Geld wieder an sich zu nehmen, um es für ihre eigenen Zwecke verwenden zu können. Sie hatten die Sache sehr klug angefangen. Ruhig und ohne Aufsehen zu erregen, waren sie vom Schauplatz ihrer früheren Tätigkeit in Südengland verschwunden. Sie hatten damals das Gerücht verbreitet, daß sie in die Kolonien gehen wollten, um eine neues Leben zu beginnen. Sie fuhren auch nach Liverpool, um von dort angeblich zu Schiff nach Amerika auszuwandern. Aber in Liverpool führten sie einen anderen Plan durch. Sie brachen mit der Vergangenheit, nahmen andere Namen an, trennten sich und trafen sich dann im fernen Norden Englands in einer wilden, einsamen Gegend wieder. In Liverpool hatten sie zufällig in einer Lokalzeitung gelesen, daß in Highmarket ein altes, guteingeführtes Baugeschäft zu verkaufen war. Sie erwarben es, und von diesem Augenblick an waren sie Anthony Mallalieu und Milford Cotherstone.

Während der letzten dreißig Jahre hatte sie niemand und nichts an ihre Vergangenheit erinnert. Cotherstone hatte zwar oft von anderen die Bemerkung gehört, daß diese Welt doch sehr klein sei. Heimlich hatte er immer darüber lachen müssen. Für ihn und seinen Partner war die Welt weit und groß genug gewesen. Sie wohnten nun siebenhundert Kilometer von dem Schauplatz ihres früheren Vergehens entfernt. Wie sollte ein Mann aus Wilchester in diese nördliche Gegend verschlagen werden? Und Leute von Highmarket kamen niemals nach dem Süden. Weder er noch Mallalieu machten große Reisen; besonders vermieden sie London, um dort nicht alte Bekannte zu treffen. Sie waren immer hier geblieben und hatten sich jahrein, jahraus um ihr Geschäft gekümmert. Man kannte sie zunächst als strebsame, hart arbeitende junge Leute, dann als erfolgreiche Bauunternehmer, und schließlich stieg ihr Ansehen in der Stadt so sehr, daß sie zu ihren jetzigen Ehrenämtern kamen. Das Städtchen war allerdings klein und hatte kaum mehr als achttausend Einwohner. Aber auch bei der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten hatten sie Umsicht und Tatkraft gezeigt, und Mallalieu trug nun zum zweitenmal die große, goldene Amtskette als Bürgermeister, während er selbst als Stadtkämmerer seit mehreren Jahren die Finanzen regelte. Cotherstone starrte in die glühende Asche des Feuers und dachte darüber nach, daß es wohl kaum zwei Leute in der ganzen Stadt gab, denen man mehr traute und mehr Achtung entgegenbrachte als seinem Partner und ihm.

Aber das war noch nicht alles. Beide hatten ein paar Jahre nach ihrer Niederlassung in Highmarket geheiratet; ihre Frauen stammten aus guten Familien der Nachbarschaft. Gut, daß sie schon tot waren, dachte Cotherstone, und daß Mallalieu keine Kinder hatte. Aber Cotherstone besaß eine Tochter, die er liebte und auf die er stolz war; er hatte sich abgemüht und abgearbeitet, um sie zu einer reichen Frau zu machen. Sie hatte die beste Erziehung genossen, und er hatte sogar zwei Jahre auf ihre Gesellschaft verzichtet, damit sie sich auf einer auswärtigen teuren Schule weiterbilden konnte. Seit sie erwachsen war, hatte er sie mit allem Komfort umgeben, und nun war sie mit Windle Bent verlobt, dem aussichtsreichsten jungen Mann in Highmarket. Er war ein reicher Fabrikbesitzer, hatte eine große Firma geerbt, saß bereits im Stadtrat und hatte die Absicht, sich später ins Parlament wählen zu lassen. Jedermann wußte, daß er eine große Karriere vor sich hatte, denn er besaß die nötige Begabung und Veranlagung. Es mochte sein, daß er später sogar zur Würde eines Barons oder eines Lords gelangte. Das war die richtige Partie, die Cotherstone für Lettie gewünscht hatte. Es wäre für ihn ein zu großes Glück gewesen, wenn sie später geadelt worden wäre, und nun kam dieser Schlag!

Cotherstone überlegte und überlegte. Die Dunkelheit war hereingebrochen, aber er drehte den Lichtschalter nicht an. Diese Sache mußte aus der Welt kommen, mochte es kosten, was es wolle. Kitelys Schweigen mußte erkauft werden, und wenn er und Mallalieu die Hälfte ihres Vermögens dafür geben sollten. Er mußte sofort mit Mallalieu sprechen.

Ein Klopfen schreckte ihn auf. Er machte Licht, als er »Herein« rief. Stoner, ein Angestellter, brachte eine Anzahl von Briefen zur Unterschrift.

»Ich bin doch wahrhaftig in der Wärme hier eingeschlafen. Was bringen Sie denn da? Die Briefe?«

»Ja, sie müßten unterzeichnet werden, auch diese drei Verträge. Außerdem müßten Sie noch die Kostenvoranschläge prüfen.«

»Mr. Mallalieu muß die Verträge vorher noch sehen«, erwiderte Cotherstone. Er stellte die Whiskyflasche und die Gläser beiseite und nahm dann die Unterschriftenmappe.

»Die Briefe werde ich unterschreiben. Sie können sie dann auf Ihrem Heimwege zur Post bringen. Die anderen Schriftstücke müssen bis morgen warten.«

Stoner stand hinter Cotherstone, der einen Brief nach dem anderen zeichnete, nachdem er ihn schnell überflogen hatte. Er war ein junger Mann mit schneller Beobachtungsgabe, und er betrachtete seinen Chef überrascht. Vorher hatte er schon entdeckt, daß Cotherstone sehr nachdenklich war, und als er nun die Whiskyflasche sah, wußte er, daß die Bemerkung über das Einschlafen eine Notlüge war. Die sechs Pfundnoten und die Silberstücke lagen noch auf dem Schreibtisch, und er wunderte sich, warum sein Chef wohl so zerstreut war, daß er vergessen hatte, dieses Geld wegzunehmen. Cotherstone war sonst in Geldsachen sehr gewissenhaft und ließ auch nicht die kleinste Münze herumliegen.

»So, das wäre erledigt«, sagte Cotherstone und reichte die Mappe zurück. »Sie können jetzt gehen, denken Sie aber daran, die Briefe zur Post zu bringen. Ich bleibe noch hier und schließe später das Büro ab. Lassen Sie die äußere Tür offen, Mr. Mallalieu kommt noch einmal.«

Er ließ die Vorhänge herunter, als Stoner gegangen war, und ging dann im Zimmer auf und ab, um seinen Partner zu erwarten. Mallalieu kam auch bald in bester Laune zurück.

»Ach, du bist noch da?« fragte er, als er eintrat. »Aber was ist denn los?«

Er blieb stehen und starrte in das Gesicht seines Kompagnons. Cotherstone sah über Mallalieus Schulter in den Spiegel und entdeckte sein bleiches, eingefallenes Gesicht. Er sah um zehn Jahre älter aus als am Morgen.

»Fühlst du dich nicht wohl?« fragte Mallalieu. »Was fehlt dir denn?«

Cotherstone antwortete nicht, ging an Mallalieu vorüber und sah in den äußeren Büroraum. Stoner war gegangen, und es brannte nur noch eine Lampe, aber Cotherstone schloß die Tür sorgfältig und sprach ganz leise, als er zu Mallalieu zurückkam.

»Schlechte Neuigkeiten – eine böse Sache!«

»Wovon sprichst du denn? Ist es privat oder geschäftlich?«

»Dieser Kitely, mein neuer Mieter, kennt uns von früher!«

Mallalieu wurde plötzlich blaß und wandte sich scharf an Cotherstone.

»Er kennt uns! Wann – wo –«

»Wilchester, vor dreißig Jahren. Er weiß alles!«

Mallalieu sank in den nächsten Stuhl, als ob er einen Schlag erhalten hätte. Eben war er noch frisch und munter hereingekommen, aber jetzt sah er ebenso blaß aus wie sein Partner. Ein gequälter Zug lag auf seinem Gesicht.

»Aber das ist doch nicht wahr!« sagte er heiser.

»Doch. Es ist eine Tatsache. Er weiß alles. Er war früher Polizeidetektiv und hat wohl amtlich mit unserem Fall zu tun gehabt.«

»Hat der Spürhund uns bis hierher verfolgt?«

»Nein, es ist reiner Zufall. Er hat uns erkannt, nachdem er hierherkam. Nach all diesen vielen Jahren!«

Mallalieus Blick fiel auf die Whiskyflasche, und er schenkte sich ein Glas ein. Cotherstone beobachtete, daß seine Hand zitterte.

»Das ist eine harte Pille. Was will er denn? Hat er sich darüber geäußert?«

»Er will uns natürlich erpressen«, entgegnete Cotherstone mit einem verzweifelten Lachen. »Was sollte ein solcher Kerl sonst wollen? Denke dir, wenn er den Leuten in Highmarket erzählte –«

»Ja, ja«, unterbrach ihn Mallalieu. »Aber nehmen wir einmal an, wir stopfen ihm den Mund, kann man dem Menschen denn trauen? Das wird ja eine Schraube ohne Ende, er wird immer mehr haben wollen.«

Er sprach von einer jährlichen Rente und sagte, daß er ein alter Mann geworden sei.«

»Wie alt ist er denn?«

»Zwischen sechzig und siebzig. Ich habe den Eindruck, daß man sein Schweigen kaufen könnte. Auf jeden Fall müssen wir das tun, denn wir dürfen nicht riskieren, daß er uns ruiniert. Ich muß an meine Tochter denken.«

»Glaubst du, daß ich es dazu kommen lassen würde? Ich überlege nur, ob wir ihn wirklich zum Schweigen bringen können. Ich habe schon gehört, daß Leute jahrelang Erpressern große Summen zahlten und schließlich doch nichts davon hatten.«

»Er kommt morgen nachmittag wieder hierher. Dann wollen wir zusammen mit ihm sprechen. Wenn wir ihm mehrere hundert Pfund jährlich anbieten, schweigt er wahrscheinlich.«

Mallalieu trank sein Glas aus und stieß es beiseite.

»Ich will mir die Sache überlegen. Jetzt muß ich gehen, ich habe noch eine Verabredung. Kommst du mit?«

»Noch nicht, ich muß diese Schriftstücke noch durchsehen. Wir wollen es gut bedenken – ich glaube nicht, daß mit dem Mann zu spaßen ist.«

Mallalieu ging ohne Gruß fort, und Cotherstone war wieder allein.

 


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