Joseph Smith Fletcher
Der Stadtkämmerer
Joseph Smith Fletcher

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15. Kapitel.

Eins führt zum anderen.

Obgleich Stoner aus Darlington stammte, hatte er doch keine Verwandten mehr dort. Sie waren alle gestorben oder verzogen. Er stieg also dort in einem billigen Hotel ab und ging nach dem Abendessen zu seinem Freunde. Myler besaß allerdings nur eine enge Wohnung, die gerade für ihn und seine Frau ausreichte. Seine Schwiegereltern waren gerade zu Besuch bei ihm, und als sich nun auch noch Stoner einfand, war das kleine Wohnzimmer vollkommen besetzt.

»Wer hätte gedacht, daß ich dich jetzt wiedersehen würde!« rief Myler fröhlich, als er seinen alten Freund begrüßte und ihn seiner Familie vorstellte. »Welcher Wind bringt dich denn hierher? Hast du geschäftlich hier zu tun?«

»Ja, ich habe eine kleine geschäftliche Angelegenheit hier zu erledigen. Ich bleibe die Nacht hier im Hotel.«

Während Myler, der als Geschäftsreisender stets die neuesten Witze und Anekdoten kannte, die kleine Gesellschaft unterhielt, betrachtete Stoner den Schwiegervater. Welch ein glückliches Zusammentreffen war das! Sicher konnte sich dieser Mann auf alles besinnen, was seit Jahrzehnten in Wilchester vorgegangen war. Denn Cotherstone konnte nur vor sehr langer Zeit mit Wilchester in Verbindung gestanden haben, da er schon seit über fünfundzwanzig Jahren in Highmarket ansässig war.

Mylers Schwiegervater war ein kleiner, älterer Herr mit klaren, klugen Augen und heiterem Gemüt. Stoner überlegte sich fieberhaft, wie er ihn dazu bringen könnte, etwas von Wilchester zu erzählen. Der Zufall kam ihm zu Hilfe.

»Wir freuen uns sehr, daß du uns besucht hast«, sagte Myler jetzt. »Hoffentlich kommst du noch recht oft hierher. In der letzten Zeit haben wir viel von Highmarket in der Zeitung gelesen. Bei euch ist ja ein entsetzlicher Mord passiert! Wer hätte gedacht, daß das in einer so ruhigen Stadt geschehen könnte!«

»Es ist merkwürdig«, warf der Schwiegervater dazwischen. »Ich habe diesen Kitely sogar gekannt.«

Stoner hätte vor Freude aufspringen können, aber er beherrschte sich und zeigte nur höfliches Interesse.

»Ich kann mich noch sehr gut auf ihn besinnen«, fuhr der alte Herr fort, »obwohl ich nur einmal längere Zeit mit ihm zusammen war. Ich habe einmal einen netten Abend mit ihm und mehreren seiner Kollegen verbracht. Die Herren kamen aus London. Natürlich handelte es sich um ein Verbrechen. Ich muß heute noch daran denken, welch interessante Kriminalgeschichten diese Leute erzählen konnten!«

»Dreißig Jahre sind eine lange Zeit«, bemerkte Stoner ermunternd.

»Ich erinnere mich aber noch sehr gut an alles. Die Beamten kamen damals nach Wilchester, weil der Fall Mallows und Chidforth vor dem Schwurgericht verhandelt wurde; es war im Jahre 1891.«

»Das war wohl ein berühmter Fall?« fragte Stoner erregt und trank dann rasch sein Glas aus, um sich zu beruhigen. »Handelte es sich um einen Mord?«

»Nein, Betrug, Unterschlagung und Urkundenfälschung. Aber es war eine böse Geschichte. Wir hatten damals eine Baugenossenschaft für Arbeiter gegründet. Die Gesellschaft besteht heute noch, aber unter einem anderen Namen. Zwei tüchtige junge Leute waren damals als Schatzmeister und Sekretär angestellt. Die beiden hatten vollständige Kontrolle über das Vermögen der Gesellschaft, und man traute ihnen, als ob sie die Bank von England repräsentierten. Aber bei einer Revision wurde festgestellt, daß sie beide zweitausend Pfund unterschlagen hatten.«

»Zweitausend Pfund!« rief Stoner, der nun plötzlich eine Erklärung für die Berechnungen Cotherstones hatte.

»Ja, diese Summe wurde vor Gericht angegeben. Mallows und Chidforth wurden natürlich angeklagt und bekamen zwei Jahre Zuchthaus. Auf diesen Fall besinnt man sich noch sehr gut in Wilchester.«

»Es wurden viele kleine Leute durch diese Unterschlagung schwer getroffen«, warf Mylers Schwiegermutter ein.

»Das stimmt«, pflichtete ihr Mann bei. »Ich habe mich oft gefragt, was aus den beiden geworden sein mag. Man hat nichts mehr von ihnen gehört.«

»Sicher sind sie in die Kolonien gegangen, Vater«, meinte Myler. »Stoner, was würdest du zu einer Partie Billard sagen?«

Stoner ging mit seinem Freunde fort, aber als sie auf der Straße standen, packte er ihn am Arm.

»Wir wollen heute lieber nicht Billard spielen«, sagte er aufgeregt. »Ich möchte dir eine sonderbare Geschichte erzählen. Wir setzen uns in eine stille Ecke, wo uns niemand stört. Du wirst dich wundern!«

Bald saßen die beiden denn auch im nahen Gasthaus bei einem Glase Whiskysoda zusammen, und Myler hörte interessiert zu, bis Stoner seine Geschichte mit allen Einzelheiten berichtet hatte.

»Du hast ja fabelhaftes Glück!« rief er dann. »Die fünfhundert Pfund sind dir sicher. Die Anfangsbuchstaben M. und C. stimmen überein; dann haben wir die Geschichte mit den zweitausend Pfund, und außerdem war Kitely in jenem Jahre bei den Schwurgerichtsverhandlungen in Wilchester anwesend. Ausgerechnet dieser Mann mußte dreißig Jahre später bei Cotherstone ein Haus mieten! O, ich sehe die Zusammenhänge ganz deutlich und klar! Wenn du das bei Gericht vorträgst, werden Richter und Geschworene alles verstehen. Sicher hat einer von den beiden Kitely zum Schweigen gebracht.«

»Ja, das denke ich auch«, erwiderte Stoner selbstzufrieden. Er vergaß im Augenblick vollständig, daß das Zusammentreffen glücklicher Umstände mehr zu der Lösung beigetragen hatte als sein Verstand. »Ich habe das natürlich herausgebracht. Wie soll ich mich nun verhalten?«

»Was ist denn dieser Rechtsanwalt Tallington für ein Mann?« fragte Myler und zeigte auf die Unterschrift der Bekanntmachung.

»Er ist sehr angesehen in Highmarket.«

»Kann man sich auf ihn verlassen?«

»Sein Name ist so gut wie Gold«, versicherte Stoner.

»Wenn ich also an deiner Stelle wäre, würde ich das alles zu Papier bringen, natürlich sehr vorsichtig. Und dann würde ich mich diesem Tallington anvertrauen und ihm alles erzählen. Die fünfhundert Pfund gehören dir dann unter allen Umständen!«

Stoner überlegte einen Augenblick, dann sah er seinen Freund etwas nervös von der Seite an. Obgleich er und Myler von Kindheit an die besten Freunde waren, wußte er doch nicht genau, was Myler zu dem sagen würde, was er eben dachte.

»Das ist ja alles gut und schön, aber ich muß doch auch an mich denken. Der alte Kitely ist mir im Grunde genommen sehr egal. Ich glaube sogar, er hat sein Schicksal redlich verdient. Aber sieh mal, für Mallalieu und Cotherstone macht es doch sehr viel aus, wenn das herauskommt. Die fünfhundert Pfund kann ich natürlich bekommen, das ist eine einfache Sache, aber diese beiden zahlen vielleicht gern fünftausend, wenn ich meinen Mund halte. Was sagst du dazu?«

Stoner erkannte sofort an Mylers ernstem Gesicht, daß er nicht damit einverstanden war.

»Nein, Stoner, das darfst du nicht machen. Du mußt immer korrekt bleiben, mein Junge. Mit Schweigegeldern und dergleichen darfst du dich nicht abgeben. Halte dich genau an das Gesetz. Bedenke außerdem, daß es noch andere Leute gibt, die dasselbe herausbringen könnten. Du mußt also sehen, daß dir niemand zuvorkommt. Deshalb sage ich dir noch einmal: Geh zu Tallington und erzähle ihm alles.«

»Du hast recht«, gab Stoner kleinlaut zu. »Aber ich kenne Mallalieu und Cotherstone – sie würden die Hälfte ihres Vermögens geben, wenn die Sache nicht herauskäme, und sie haben unheimliche Gelder!« –

Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Er grübelte noch darüber nach, als er am nächsten Tage wieder in High Gill ausstieg und die neun Kilometer nach Highmarket zu Fuß über die Heide zurücklegte. Als er im verlassensten Teil der Gegend um die Ecke eines kleinen Gehölzes bog, traf er plötzlich unerwartet auf Mallalieu.

 


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