Joseph Smith Fletcher
Der Stadtkämmerer
Joseph Smith Fletcher

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17. Kapitel.

Die Obduktion.

Diese Erinnerung brachte Mallalieu in die größte Aufregung, so daß er nicht schlafen konnte. Der Stock würde wahrscheinlich in der Nähe von Stoners Leiche gefunden werden. Ein gewöhnlicher Mann, der dort vorüberkam, konnte ihn allerdings nicht erkennen, aber wenn er der Polizei in Highmarket ausgeliefert wurde? Die Beamten wußten sofort, wem dieser Stock gehörte. Mallalieu trug ihn fast stets bei sich. Wie konnte er nur so den Verstand verlieren! Er war schon im Begriff, mitten in der Nacht aufzustehen und zu dem Steinbruch zurückzukehren, aber die Nacht war sehr dunkel, und so einsam die Gegend um den Steinbruch auch war, durfte er es doch nicht riskieren, dort mit einer Laterne zu suchen. Er dachte also darüber nach, ob er nicht irgendeine Erklärung dafür finden könnte, daß der Stock dort lag, und schließlich kam ihm ein rettender Gedanke. Er erinnerte sich daran, daß Stoner weder einen Stock noch einen Schirm bei sich gehabt hatte. Er wollte also sagen, daß er ihn im Büro zurückgelassen, und daß ihn Stoner über Sonntag, wie schon öfter, an sich genommen hatte. Darin lag nichts Außergewöhnliches. Die Polizei würde diese Erklärung des Bürgermeisters natürlich ohne weiteres glauben. Als er sich alles auf diese Weise zurechtgelegt hatte, wollte er einschlafen, aber es gelang ihm nicht.

Er warf sich von einer Seite auf die andere und grübelte nach. Wie mochte Stoner nur zu dieser Kenntnis gekommen sein? Ob außer ihm noch jemand etwas wußte? Aber er kam zu dem Schluß, daß das nicht möglich war. Er glaubte auch zu wissen, wie Stoner in den Besitz der Kenntnis gelangt war. Sicher hatte der junge Mann die Unterredung zwischen Kitely und Cotherstone belauscht. In die Wand zwischen dem Privatbüro der beiden Chefs und dem äußeren Raum, in dem Stoner saß, war ein kleines Fenster eingelassen, damit Akten und Papiere schnell durchgereicht werden konnten. Wahrscheinlich hatte das Fenster an jenem Nachmittag ein wenig offengestanden, und Stoner hatte alles gehört. Der junge Mann war klug genug gewesen, alles für sich zu behalten, bis eine Belohnung ausgesetzt wurde. Offenbar hatte er die Absicht gehabt, ihn zu erpressen. Aus diesem Grunde hatte er wahrscheinlich auch keinen anderen ins Vertrauen gezogen. Dieser Gedanke beruhigte ihn etwas.

Am nächsten Morgen kam er müde und zerschlagen ins Büro. Er war früher da als Cotherstone und grüßte ihn nur durch ein kurzes Kopfnicken, als dieser erschien. Seit jener Auseinandersetzung hatten sie nur noch über geschäftliche Dinge miteinander gesprochen. Mallalieu sah die Post kurz durch und ging dann auf den Bauhof. Er blieb eine Stunde fort, und als er zurückkam, zeigte er sich verwundert, daß Stoners Platz noch leer war.

»Ist Stoner denn noch nicht gekommen?« fragte er kurz.

»Nein«, entgegnete Cotherstone, der in einem großen Kassabuch blätterte.

Mallalieu machte sich noch allerhand im Büro zu schaffen und ordnete Briefe und Papiere ein, die er von draußen mitgebracht hatte. Plötzlich schien er ungeduldig zu werden, trat an die Tür und rief einen Jungen an, der gerade vorüberlief.

»Komm einmal her! Du weißt doch, wo Mr. Stoner wohnt – bei Mrs. Battley. Lauf schnell hin und frage, warum er heute nicht ins Büro gekommen ist. Er sollte doch schon vor anderthalb Stunden hier sein. Mach, daß du bald wiederkommst!«

Mallalieu ging wieder auf den Bauhof, nachdem er den Jungen weggeschickt hatte. Eine Viertelstunde später erschien er wieder im Büro, und gleich darauf trat auch der kleine Bote ein.

»Nun, wo ist er?« fragte er und überzeugte sich durch einen raschen Seitenblick davon, daß Cotherstone hörte, was gesprochen wurde. »Wo ist Mr. Stoner?«

»Die Wirtin sagt, daß er am Sonnabendnachmittag abgereist und noch nicht wiedergekommen ist. Soviel sie weiß, ist er nach Darlington gefahren, um seinen Freund zu besuchen.«

»Da muß er wohl den Zug versäumt haben«, erwiderte Mallalieu halblaut, als er einige Briefe und Rechnungen auf Stoners Platz legte. »Wenn er nicht kommen sollte, dann mußt du dich der Sachen hier annehmen. Verschiedenes muß in die Bücher eingetragen werden«, wandte er sich an Cotherstone.

Dieser gab ihm keine Antwort. Mallalieu verließ das Büro und ging zum Frühstück nach Hause. Auf dem Heimwege überlegte er, was Stoner in Darlington zu tun haben konnte. Hatte er mit einem Freunde über die ganze Sache gesprochen?

»Diese verdammte Ungewißheit«, murmelte Mallalieu. »Das ganze Leben wird einem verbittert. Ich möchte am liebsten alles hinwerfen und fortgehen. Geld genug habe ich ja. Wozu soll ich mich hier noch quälen!«

Als ein ausgezeichneter Geschäftsmann hatte Mallalieu dafür Sorge getragen, daß sein Geld an verschiedenen Stellen gut untergebracht war. In Highmarket hatte er nur das Geschäft und sein Privathaus. Die großen Gewinne und Verdienste früherer Jahre waren so angelegt, daß sie sicher und vor allen Dingen leicht zu veräußern waren. Er konnte sie sofort in London, New York, Paris oder Wien abheben. Als Bürgermeister von Highmarket konnte er außerdem jederzeit im Interesse der Stadt verreisen und in ein paar Stunden in einem sicheren Versteck sein, wo ihn niemand fand. Und etwas später war er dann eben außer Landes. In der jüngsten Zeit war ihm schon öfter der Gedanke gekommen, sein Geschäft aufzugeben und den Rest seines Lebens zu genießen. Einmal war es ihm ja schon gelungen, von der Bildfläche zu verschwinden – warum sollte es nicht ein zweites Mal glücken?

Bevor er wieder zur Stadt zurückging, hatte er sich entschlossen, diesen Plan auszuführen. Inzwischen mußte er sich aber zunächst um das Geschäft kümmern, und da Stoner nicht da war, hatten er und Cotherstone mehr zu tun. Um zwölf Uhr mußte er im Rathaus sein, um dort eine Sitzung der städtischen Baukommission zu leiten. Als diese gerade zu Ende war und Mallalieu heimgehen wollte, kam der Polizeiinspektor in das Sitzungszimmer und nahm ihn beiseite.

»Ich habe eine böse Nachricht, Herr Bürgermeister«, sagte er leise. »Ihr Angestellter Stoner ist wahrscheinlich heute morgen nicht bei Ihnen erschienen?«

»Nein. Was gibt es denn?«

»Er hat einen Unglücksfall gehabt – er ist tot. Einige Männer haben ihn vor etwas mehr als einer Stunde unten im Hobwick-Steinbruch gefunden. Er ist schon zum Schauhaus gebracht worden. Es wäre gut, wenn Sie auch einmal zur Polizeistation kämen. Mr. Cotherstone war schon dort.«

Mallalieu folgte ihm.

»Haben Sie sonst noch etwas darüber erfahren?« fragte er.

»Seine Wirtin sagt, daß er seit Sonnabendnachmittag nicht mehr zu Hause war.«

»Ich habe heute früh schon zu ihr geschickt, als er nicht kam.«

»Es muß ein Unglücksfall gewesen sein. Die Leute, die ihn gefunden haben, sagen, daß das Geländer oben an der Stelle gebrochen ist, wo er abstürzte. Das fiel ihnen zuerst auf, und als sie dann hinunterschauten, entdeckten sie den Toten. Dr. Rockcliffe untersucht ihn gerade.«

Mallalieu gab sich die größte Mühe, ruhig zu erscheinen, als er mit dem Polizeiinspektor zu dem Schauhaus ging. Dort fand er den Arzt, zwei Beamte und Cotherstone. Er sah seinen Partner kurz an, der den Blick ebenso erwiderte. Es lag etwas in dem Blick, das Mallalieu unsicher werden ließ. Es war ein Zeichen für ihn, daß Gefahr in der Luft lag.

»Das ist eine böse Sache«, sagte er halblaut und sah auf Stoner. »Haben Sie etwas entdeckt, woraus man schließen könnte, wie es gekommen ist?« wandte er sich an den Arzt.

Dr. Rockcliffe kniff die Lippen zusammen, und seine Gesichtszüge wurden hart und undurchdringlich. Er schwieg einen Augenblick, und als er dann sprach, klang seine Stimme ungewöhnlich hart.

»Der junge Mann hat sich das Genick gebrochen und die Wirbelsäule. Jede der beiden Verletzungen würde sofort den Tod herbeigeführt haben. Aber sehen Sie einmal hier!« Er zeigte auf eine blutunterlaufene Stelle an der linken Schläfe des Toten. »Diese Wunde rührt von einem schweren Schlage mit einem stumpfen Instrument her. Es muß ein furchtbarer Hieb gewesen sein, der mit ungewöhnlicher Kraft ausgeführt wurde. Wahrscheinlich ist der arme Mensch davon auf der Stelle getötet worden.«

Nur durch äußerste Beherrschung konnte Mallalieu verhindern, daß er sich verriet.

»Kann er nicht bei dem Fall auf spitze Felsen und Steine aufgeschlagen sein?«

»Nein«, erwiderte der Arzt hartnäckig. »Diese Verwundung kann nur von einem schweren Schlag mit einer Keule oder einem schweren Stock erfolgt sein. Ich bin meiner Sache ganz gewiß!«

Cotherstone, der sich bis dahin ruhig im Hintergrunde gehalten hatte, stellte jetzt eine Frage.

»Sind Anzeichen dafür vorhanden, daß er beraubt worden ist?«

»Nein«, entgegnete der Polizeiinspektor. »Im Büro habe ich alles, was wir bei ihm fanden. Es ist nicht viel, seine Uhr, einige Pfund, etwas Silbergeld, Pfeife, Tabaksbeutel, ein Notizbuch, eine Brieftasche und sonstige Kleinigkeiten. Er ist nicht beraubt worden.«

»Sie haben sich doch sicher genau dort umgesehen? Haben Sie vielleicht Fußspuren gefunden?«

»Nein«, sagte der Inspektor kopfschüttelnd. »Ich habe den Boden bei dem gebrochenen Geländer sorgsam abgesucht, aber er ist dort mit kurzem Gras bewachsen, so daß man nichts wahrnehmen kann.«

»Ist auch sonst nichts dort gefunden worden?« fragte Mallalieu. »Keine Waffe oder dergleichen?«

Er konnte sich nicht enthalten, diese Frage zu stellen. Die Angst um seinen Stock war zu groß. Und als der Polizeiinspektor und die beiden Polizisten, die ihn zum Steinbruch begleitet hatten, antworteten, daß man nichts gefunden hätte, mußte er sich zusammennehmen, um nicht erleichtert aufzuatmen.

Gleich darauf verließ er die Polizeistation. Im stillen hoffte er, daß sein Stock in eine Felsenspalte oder zwischen die Brombeersträucher gefallen war, die im Steinbruch üppig wucherten. Es war leicht möglich, daß der Stock, den er so heftig weggestoßen hatte, in so dichtes Gestrüpp gefallen war, daß man ihn nicht wiederfinden konnte. Außerdem konnte er ja selbst noch einmal nachsehen und eine Entdeckung unmöglich machen. Nachdem Stoner gefunden war, konnte er den Steinbruch betreten und sich dort umsehen, ohne aufzufallen. Wenn er den Stock fand, konnte er ihn dann irgendwo sicher verstecken oder ihn mitnehmen, wenn niemand dabei war. Das war ein guter Einfall. Mallalieu ging zu Tisch nicht nach Hause, sondern aß in dem großen Gasthof am Marktplatz schnell einige belegte Brote und trank ein Glas Bier. Dann wanderte er auf die Heide hinaus. –

Die Nachricht von dem zweiten geheimnisvollen Tode eines Menschen verbreitete sich in Highmarket und in der ganzen Umgebung wie ein Lauffeuer. Brereton hörte auch davon, und da er in der Stadt zu tun hatte, ging er in die Polizeistation und fand den Inspektor in düsterer Stimmung.

»Die Sache wächst einem über den Kopf«, sagte der Beamte leise zu dem Rechtsanwalt. »Es mag ja sein, daß ich an diese Dinge noch nicht gewöhnt bin. Gott sei Dank haben wir bisher in dieser Stadt noch keine solchen Verbrechen gehabt. Aber irgendwie habe ich den Eindruck, daß der Tod dieses armen jungen Mannes mit der Ermordung Kitelys zusammenhängt. Ich habe schon den ganzen Nachmittag darüber nachgedacht. Alle Ärzte, die den Toten untersucht haben – wir haben in den letzten Stunden mehrere um ihre Ansicht gebeten –, sind übereinstimmend der Ansicht, daß Stoner durch einen furchtbaren Schlag niedergestreckt wurde und wahrscheinlich schon tot war, ehe er dort hinunterstürzte. Mr. Brereton, ich bin fest davon überzeugt, daß hier wieder ein Mord vorliegt!«

»Haben Sie ein Motiv feststellen können? Vielleicht spielt eine Liebesgeschichte hinein, oder vielleicht ist es eine Eifersuchtstat?«

»Das glaube ich kaum. Die Sache ist in der ganzen Stadt bekannt, und ich hätte inzwischen sicher von solchen Anlässen etwas gehört. Ein Raubmord liegt auch nicht vor. Hier liegen seine ganzen Sachen, wenn Sie einmal hersehen wollen.«

Der Inspektor verließ einen Augenblick das Zimmer, und Brereton warf einen Blick auf die Sachen. Er nahm Stoners Notizbuch zur Hand. Es lagen einige Quittungen, ein Exemplar der Bekanntmachung und einige Zeitungsausschnitte darin. Als er die Notizen selbst durchsah, fand er zum Schluß eine kurze Eintragung, die er verwundert betrachtete:

»M. & C. (Mallows & Chidforth) – Unterschlagung Baugen. – Schwurgericht Wilchester – 91 – zweitausend Pfund – Geld nicht entdeckt – 2  J. – K. anw.«

Brereton schrieb diese Eintragung sofort ab und war gerade damit fertig, als der Inspektor mit einem Eisenbahnbeamten eintrat.

»Erzählen Sie ruhig, was Sie zu sagen haben. Dieser Herr kann alles hören. Eine neue Nachricht von High Gill, Mr. Brereton«, wandte er sich an den Rechtsanwalt. »Und zwar über Stoner.«

»Der Stationsmeister hat mich hergeschickt; wir hörten heute nachmittag, daß Stoners Leiche gefunden wurde, und daß Sie annehmen, er wäre in der Dunkelheit in den Steinbruch geraten. Aber wir wissen, daß das nicht recht möglich ist.«

»Wir sind allerdings nicht dieser Ansicht«, erwiderte der Inspektor, »aber sicher haben die Leute das erzählt. Aber sprechen Sie bitte.«

»Ich bin dort Billettkontrolleur. Der junge Stoner hat am Sonnabendnachmittag eine Fahrkarte nach Darlington gelöst und ist auch dorthin abgefahren. Gestern kam er mit dem Dreiuhrzug zurück. Er gab sein Billett bei der Sperre ab, ging aber nicht die gewöhnliche Straße, sondern sagte mir, daß er quer über die Heide nach Highmarket gehen wollte. Ich sah auch, daß er in der Richtung davonwanderte. Er muß ungefähr um halb fünf dort gewesen sein, jedenfalls bevor es dunkel wurde.«

»Also ungefähr gegen Sonnenuntergang«, meinte der Inspektor.

»Er kann also nicht im Dunkeln in den Steinbruch gefallen sein. Wenn alles gut gegangen wäre, müßte er bei Einbruch der Dunkelheit in Highmarket eingetroffen sein.«

»Ich danke Ihnen. Die Sache kann von Bedeutung sein. War er allein, als er von Darlington kam?«

»Ja, es war niemand bei ihm.«

»Haben Sie nicht gesehen, daß jemand denselben Weg über die Heide ging und ihm folgte?«

»Nein. Ich und einer meiner Kollegen beobachteten ihn noch ein gutes Stück. Solange wir ihn sehen konnten, war er allein. Wir haben ihm nicht absichtlich nachgeschaut, aber als der Zug abgefahren war, setzten wir uns oben auf dem Bahnsteig nieder und rauchten unsere Pfeife. Und so konnten wir ihn direkt über die Heide gehen sehen.«

»Haben Sie nicht bemerkt, daß irgendwelche verdächtige Leute am Nachmittag oder Abend zu Ihrer Station kamen?«

Der Billettkontrolleur verneinte diese Frage und entfernte sich dann wieder. Auch Brereton erhob sich nach einer kurzen Unterhaltung und ging nach Hause. Er war fest davon überzeugt, daß der geheimnisvolle Tod Stoners mit der Ermordung Kitelys in engem Zusammenhang stand. Vor allem war er erstaunt über die Ähnlichkeit der beiden Eintragungen in Kitelys und in Stoners Notizbuch.

 


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