Joseph Smith Fletcher
Der Stadtkämmerer
Joseph Smith Fletcher

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18. Kapitel.

Das Buch mit den Zeitungsausschnitten

Bent war am Nachmittag nach Norcaster gegangen, weil er dort geschäftlich zu tun hatte, und kam erst spät wieder nach Hause. Brereton aß deshalb allein zu Abend, und es blieb ihm genügend Zeit zum Nachdenken und Grübeln. Vor allen Dingen beschäftigte er sich mit den beiden ähnlichen Notizen. Die beiden großen Anfangsbuchstaben M. und C. waren gleich; die Jahreszahl 91 stimmte, vorausgesetzt, daß es sich um eine Jahreszahl handelte. Was Z.A. in Kitelys Aufzeichnungen bedeuten mochte, konnte er im Augenblick nicht herausbringen. Die ganze Eintragung dort war ebenso kurz wie geheimnisvoll. Stoners Notiz dagegen war ausführlicher; die beiden Buchstaben M. und C. waren deutlich erklärt als die Namen Mallows und Chidforth. Er las daraus, daß zwei Leute, nämlich Mallows und Chidforth, im Jahre 1891 wegen Unterschlagung einer Summe von zweitausend Pfund vom Schwurgericht in Wilchester zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt wurden. Der Verbleib des Geldes wurde nicht entdeckt. Es war nun festzustellen, ob die Notiz bei Kitely sich auf dieselbe Tatsache bezog, was höchstwahrscheinlich war. Für Brereton verdichtete sich das ganze Problem jetzt zu der Frage, ob Mallows und Chidforth in Wilchester dieselben waren wie Mallalieu und Cotherstone in Highmarket.

Nach Tisch ließ er sich in einen Sessel vor dem Kamin nieder, steckte seine Pfeife an und überlegte weiter. Es war ihm klar geworden, daß Kitely und Stoner im Besitz eines Geheimnisses waren. Beide wurden von einer Person ermordet, die sie zum Schweigen bringen wollte. Daran zweifelte er nicht mehr. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß die beiden Verbrechen von demselben Täter begangen worden waren, und daß dieser große körperliche Kräfte besaß.

Plötzlich dachte Brereton an das Buch mit den Ausschnitten, das Kitely Windle Bent vermacht hatte. Er nahm es aus dem Schrank und blätterte langsam die einzelnen Seiten um.

Und so plötzlich wie ihm der Gedanke an dieses Buch gekommen war, hatte er nun die Lösung des Rätsels in der Hand. Kitely hatte vorn auf die erste Seite »Zeitungs-Ausschnitte« geschrieben und die beiden Anfangsbuchstaben durch größeren Druck hervorgehoben. Auf den einzelnen Blättern standen, oben die Jahreszahlen: 1889, 1890, 1891 usw. Brereton verstand jetzt, was die kurze Notiz »M. & C. v. Z.A. cir. 91« bedeutete. Die Eintragung mußte so gelesen werden: »M. & C. vide (siehe) Zeitungs-Ausschnitte cirka 1891.«

Brereton blätterte aufgeregt die Seiten dieses merkwürdigen Buches um, bis er zum Jahre 1891 kam, und dort fand er einen großen Ausschnitt aus einem Lokalblatt, der vier Seiten einnahm. Die vierzeilige Überschrift war fett gedruckt:

»Unterschlagungen bei der Baugenossenschaft.

Mallows und Chidforth vor dem Geschworenengericht in Wilchester.

Zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt.«

Brereton ließ sich wieder in seinen Sessel nieder, um den ganzen Artikel eingehend durchzulesen. Es war nichts Besonderes oder Außergewöhnliches in dem Bericht enthalten; er gab nur die sensationell aufgemachte Schilderung eines Verbrechens.

Nachdem der Sachverhalt erzählt war, wurde die Frage erörtert, was die beiden Angeklagten mit dem Gelde gemacht hatten. Man war geteilter Ansicht. Die einen glaubten, sie hätten es verspielt und verwettet, die anderen, sie hätten es beiseite geschafft. Mallows und Chidforth selbst verweigerten jede Auskunft darüber. Sie hatten auch auf andere Fragen des Richters und der Geschworenen nicht geantwortet. Im Laufe des Prozesses waren sie verschiedentlich von dem Vorsitzenden Richter aufgefordert worden, ein offenes Geständnis abzulegen, aber sie hatten es stets abgelehnt. Sie wurden dann zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt und verschwanden aus der Öffentlichkeit.

Unter den Artikel hatte Kitely eine Bemerkung geschrieben, die drei Jahre nach der Verhandlung datiert war.

»Wilchester, 28. Juni 1894. Ich kam in dienstlichen Angelegenheiten heute hierher und sprach mit der Polizei über M. & C. Man hat seit ihrer Entlassung nichts mehr von ihnen gehört. Sie wurden zur selben Zeit entlassen, eine oder zwei Stunden später in der Stadt gesehen und verschwanden dann. Einem Mann, der mit M. sprach, erzählte er, daß sie auswandern wollten. Man glaubt, daß sie nach Argentinien gegangen sind. Beide haben Verwandte in Wilchester, aber sie wissen nichts über den Verbleib der beiden, oder schweigen jedenfalls darüber. Von dem Geld ist keine Spur gefunden worden. Viele Leute in W. sind davon überzeugt, daß sie es sicher versteckt haben und nach Abbüßung ihrer Strafe damit verschwunden sind.«

Brereton enthüllte sich die Sachlage nun ganz klar. Der alte Detektiv, der sich zufällig in Highmarket niedergelassen hatte, erkannte Mallalieu und Cotherstone wieder, die in dieser entlegenen Stadt angesehene Geschäftsleute geworden waren, und teilte ihnen auch mit, daß er ihr Geheimnis wüßte. Es blieben aber noch viele Fragen ungelöst. Was war geschehen, als Kitely sich ihnen als der Detektiv zu erkennen gab, der damals an der Schwurgerichtssitzung in Wilchester teilnahm? Hatte er die beiden erpressen wollen? Das lag unbedingt im Bereich der Möglichkeit.

Weitere Fragen tauchten auf. Wie war Stoner zu seinen Kenntnissen gekommen? Hatte ihm Kitely etwas gesagt? Das war kaum anzunehmen, und doch hatte Stoner eine Eintragung in sein Notizbuch gemacht, aus der deutlich hervorging, daß er das Geheimnis von Mallalieu und Cotherstone kannte. Hatte Stoner deshalb sterben müssen? Brereton war eigentlich davon überzeugt. Aber wer hatte diesen schweren Schlag gegen Stoner geführt, der wahrscheinlich seinen Tod verursacht hatte? War es Mallalieu, oder war es Cotherstone?

Brereton sah es als sicher an, daß einer oder beide Kitely und vielleicht auch Stoner ermordet hatten. Diese Erkenntnis brachte ihn in eine sehr unangenehme Lage. Als Rechtsanwalt und Verteidiger eines unschuldig des Mordes Angeklagten war es seine Pflicht, den Täter herauszufinden. Er kümmerte sich nicht um Mallalieu; der mochte die wohlverdiente Strafe erhalten, wenn er ein Verbrechen begangen hatte. Aber Cotherstone war der zukünftige Schwiegervater Bents, und Bent und Brereton waren seit ihrer Knabenzeit eng befreundet.

Er war hier bei Bent zu Besuch und hatte seinen Aufenthalt länger ausgedehnt, um Harborough zu verteidigen, und nun sollte er Schande über die Familie bringen, mit der sich sein Freund verbinden wollte. Aber das war immer noch besser, als daß ein Unschuldiger zum Tode verurteilt wurde. Er ging in dem Zimmer auf und ab und war schon halb dazu entschlossen, Bent bei seiner Rückkehr alles zu erzählen.

Aber dann nahm Brereton Hut und Mantel und verließ das Haus. Es schlug gerade halb acht. Der Novemberabend war scharf und frostig, und der Mond schien von dem wolkenlosen Himmel hernieder. Der plötzliche Wechsel von der Wärme des Hauses in die Kälte der Straße schärfte Breretons geistige Fähigkeiten. Er steckte seine Pfeife an und wollte die Straße entlanggehen, die aus Highmarket hinausführte, um noch einmal über die Sache nachzudenken. Aber er war kaum hundert Schritte gegangen, als Avice Harborough aus Northrops Gartentür trat und auf ihn zukam.

»Ich wollte Sie eben aufsuchen«, sagte sie ruhig. »Ich habe etwas erfahren, das ich Ihnen unter allen Umständen mitteilen möchte, und zwar sofort.«

»Was ist es denn?«

Avice reichte ihm einen Brief.

»Ein Junge brachte ihn mir vor einer halben Stunde. Die alte Mrs. Hamthwaite, die in einem einsamen Häuschen in der Nähe des Hobwick-Steinbruches wohnt, hat mir den Brief geschrieben. Können Sie ihn beim Licht dieser Laterne lesen?«

»O ja, das wird schon gehen.« Dann las er laut: »Wenn Miß Harborough Susan Hamthwaite besucht, so kann ihr diese etwas Wichtiges mitteilen.«

Er reichte Avice das Schreiben zurück.

»Wie weit ist es denn bis zu dem Hause der Frau?«

»Man hat etwas über eine halbe Stunde zu gehen.«

»Könnten wir gleich dorthin aufbrechen?« fragte er.

»Ich dachte auch schon daran.«

»Nun, dann wollen wir uns gleich auf den Weg machen. Wenn es ihr nicht recht ist, daß ich dabei bin, kann ich ja draußen auf Sie warten. Sicher will sie Ihnen etwas über Ihren Vater mitteilen.«

»Ja. Hoffentlich ist es so.«

»Bestimmt. Was könnte es denn sonst sein?«

»Ach, es gibt so viele merkwürdige Dinge, über die man sprechen könnte. Ich möchte nur wissen, warum Mrs. Hamthwaite solange gewartet hat, wenn sie etwas weiß.«

»Das hat wohl keine Bedeutung. Alte Frauen haben manchmal ihre eigene Art. Ich habe Sie übrigens heute den ganzen Tag noch nicht gesehen – haben Sie schon von Stoners Tod gehört?« fragte er sie, als sie langsam den Weg zur Heide einschlugen.

»Mr. Northrop hat es mir heute nachmittag gesagt. Was halten Sie denn davon?«

Brereton ging einige Zeit neben ihr her, ohne zu antworten. Er legte sich die Frage vor, ob er Avice Harborough alles sagen sollte, was er wußte.

 


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