Joseph Smith Fletcher
Der Stadtkämmerer
Joseph Smith Fletcher

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16. Kapitel.

Die einsame Heide.

Stoner hatte sich während der Bahnfahrt noch einmal alles überlegt. Er war davon überzeugt, daß er von Mallalieu und Cotherstone nur das Geld zu fordern brauchte, um es auch sofort in bar zu erhalten. Und wenn sie das gezahlt hatten, wollte er sich schon vorsehen, daß ihm nichts passierte. Mit fünftausend Pfund in der Tasche würde er keine Stunde länger in Highmarket bleiben und einige Tage später schon auf dem Wege nach Amerika sein. Myler war ja ein prächtiger Kerl, ein wirklich guter Freund, aber er war viel zu altmodisch in seiner Biederkeit. Jeder hatte das Recht, sich in der Welt in die Höhe zu bringen, und als Stoner nun Mallalieu gegenübertrat, war er fest entschlossen, doch Schweigegeld zu verlangen.

Die Stelle, an der sie sich trafen, war wie geeignet für seine Absicht; das Gestrüpp lief hier an einem nicht mehr benützten Steinbruch entlang. Ringsumher erstreckte sich meilenweit einsame Heide, die höchstens durch einige Kalksteinfelsen oder kleine Fichtenwaldungen unterbrochen wurde. Im Westen konnte man die blaue Linie einer Hügelkette und sonst nur den grauen Himmel sehen. Ab und zu tönte das Krächzen eines Raben durch die Stille.

Mallalieu ging häufig allein auf die Heide hinaus. Er machte weite Spaziergänge, um nicht zu korpulent zu werden. Stoner sah, daß er in Gedanken versunken seinen schweren Eichenstock schwang. Da man auf der Heide die Schritte nicht hören konnte, waren sie schon dicht beieinander, ehe sie sich erkannten. Stoner errötete bestürzt.

Aber Mallalieu hatte mit keinem Gedanken an Stoner gedacht und war daher auch nicht überrascht, ihn zu sehen. Aus Prinzip war er zu seinen Angestellten freundlich und schaute ihn deshalb lächelnd an.

»So ganz allein? Ich dachte, ein junger Mann wie Sie geht am Sonntag mit einem kleinen Mädchen spazieren?«

Stoner lächelte auch, aber ganz anders als Mallalieu. Er war nicht in der Stimmung, höflich und unterwürfig zu tun. Er lächelte, weil er daran dachte, welch ein großer Umschwung für ihn gekommen war.

»Ich habe etwas Besseres zu tun, Mr. Mallalieu«, antwortete er nicht gerade sehr liebenswürdig. »Ich vertändle meine Zeit nicht mit jungen Mädchen.«

»Ja, es fiel mir schon auf, daß Sie tief nachzudenken schienen. Was haben Sie denn für Sorgen?«

Stoner hatte die Absicht, geradeswegs auf sein Ziel loszugehen. Nur nicht auf halbem Wege stehenbleiben! Keine Geheimnistuerei, das hatte keinen Zweck. Er nahm Tallingtons Bekanntmachung aus der Tasche, entfaltete sie vor Mallalieu und beobachtete seinen Gesichtsausdruck.

»Sehen Sie – darüber habe ich nachgedacht.«

Mallalieu fuhr ein wenig zusammen und schaute Stoner ärgerlich an.

»Was soll denn das?« fragte er finster.

Stoner wußte wohl, daß man seinen Chef bald zum Zorn reizen konnte. Die Anzeichen dafür waren jetzt vorhanden.

»Warum zeigen Sie mir denn das? Nehmen Sie sich zusammen, junger Mann!«

»Ich wollte Sie nicht beleidigen«, entgegnete Stoner kühl.

In der Nähe entdeckte er ein Geländer, das den alten Steinbruch einfriedigte. Er ging darauf zu und lehnte sich dagegen, obwohl es schon alt und morsch war. Dann steckte er die Hände in die Taschen, um Mallalieu zu zeigen, daß er sich absolut nicht als sein Untergebener fühlte.

»Ich möchte ein paar Worte mit Ihnen sprechen, Mr. Mallalieu.«

Sein Chef starrte ihn verwundert an.

»Sie wollen ein paar Worte mit mir sprechen? Warum denn? Und warum gerade hier?«

»Weil es mir so paßt! Es trifft sich ja ganz gut«, meinte Stoner mit einem hämischen Lachen. »Wir sind hier schön allein, niemand ist in der Nähe. Ich glaube, daß es Ihnen ganz recht ist, wenn andere Leute nicht hören, was ich Ihnen zu sagen habe.«

Mallalieu sah ihn fast eine Minute schweigend an. Es war seine Gewohnheit, die Leute durch seinen ruhigen Blick aus der Fassung zu bringen. Aber bei Stoner gelang es ihm diesmal nicht.

»Ich weiß zwar nicht, ob Sie zuviel getrunken haben oder ob Sie nicht mehr ganz richtig im Kopf sind, aber ich gestatte niemand, besonders nicht einem Angestellten, in einem derartigen Ton mit mir zu verkehren. Was soll denn das bedeuten?«

»Das werde ich Ihnen gleich sagen. Ich weiß, wer Kitely umgebracht hat!«

Mallalieu fühlte, daß er zusammenzuckte. Das Blut stieg ihm zu Kopf, aber trotzdem behielt er seine Ruhe.

»So, das wissen Sie? Es ist wirklich bewundernswürdig, wie klug die jungen Leute heutzutage sind! Nun, dann sagen Sie doch, wer Kitely ermordet hat. Es ist sehr interessant, das zu erfahren. Oder wollen Sie dieses große Geheimnis für sich bewahren, bis Sie es irgendwie verwerten können?«

»Sie verstehen mich ganz gut – ich wiederhole noch einmal, daß ich weiß, wer Kitely ermordet hat!«

»Wer hat es denn getan? Wahrscheinlich wissen Sie gar nichts!«

Stoner lachte laut auf, sah sich um und neigte sich dann vor.

»Ich weiß nichts?« sagte er ironisch. »Da täuschen Sie sich. Ich weiß es. Kitely wurde entweder von Ihnen oder von Cotherstone umgebracht. Was halten Sie jetzt von der Sache, Mr. Mallalieu?«

Der Bürgermeister betrachtete ihn schweigend. Stoner mußte etwas erfahren haben; er wollte vor allem mit dem Mann jetzt fertig werden. Mit äußerster Willensanstrengung riß er sich zusammen.

»Sie sind im Irrtum. Weder ich noch Cotherstone haben mit Kitelys Ermordung etwas zu tun«, sagte er hämisch. »Aber es wäre ja interessant, zu erfahren, wer von uns Ihrer Meinung nach der Täter sein soll?«

»Einer von Ihnen, vielleicht auch Sie beide zusammen. Jedenfalls sind Sie beide schuldig. Es hat keinen Zweck, Mr. Mallalieu, die Sache abzustreiten. Ich weiß, daß Sie ihn getötet haben, und ich weiß genau, warum Sie es taten!«

Sie sahen einander hart und verbissen an, aber schließlich lachte Mallalieu laut auf.

»Nun? Erzählen Sie doch! Ich bin riesig gespannt, Ihre Geschichte zu hören.«

»Gut, ich werde Ihnen alles sagen, damit Sie nicht länger im Ungewissen sind. Kitely war früher Detektiv und war in Wilchester, als Sie und Cotherstone unter Ihren richtigen Namen Mallows und Chidforth vor dreißig Jahren dort zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt wurden. Er wußte es noch, und er sagte es Ihnen auch, daß er es wüßte. Und sie brachten ihn deshalb zum Schweigen. Es sollte nicht öffentlich bekannt werden, daß der Bürgermeister und der Stadtkämmerer von Highmarket ein paar alte Zuchthäusler sind!«

Mallalieus unterdrückter Jähzorn flammte bei diesen herausfordernden Worten plötzlich hoch auf und riß ihn zu einer unbesonnenen Tat hin. Der Bürgermeister schwang seinen schweren Stock und schlug blindlings auf Stoner ein. Der Schlag traf den jungen Mann an der Schläfe. Es kam alles so schnell, daß Stoner nicht einmal den Arm heben konnte, um sich zu schützen. Unwillkürlich wich er zurück; der alte, morsche Zaun, an dem er lehnte, brach zusammen, und Stoner fiel rückwärts in den Steinbruch, ohne den geringsten Laut von sich zu geben. Mallalieu hörte, wie sein Stock auf den Schädel des anderen niedersauste; er hörte, wie das Geländer brach, aber er hörte keinen Schrei, keinen Seufzer und kein Stöhnen von Stoners Lippen. Dann vernahm er nach einer unendlich langen Zeit – so schien es ihm wenigstens – den Aufschlag des Körpers auf dem Grunde. Mallalieu stand erstarrt, bis ihn der Schrei eines Raben weckte.

Er schauderte zusammen und begann zu zittern. Er hatte einen so heftigen Schlag geführt, daß ihm der Stock entglitten war. Mallalieu sah ihn vor sich liegen und stieß wütend mit dem Fuß danach, so daß auch der Stock in den Steinbruch hinunterfiel. Mallalieu zitterte jetzt nicht mehr, aber kalter Angstschweiß trat auf seine Stirn.

»Um Himmels willen! Wenn er nun tot ist!« sagte er halblaut. »Er hätte mich aber auch nicht zum Äußersten bringen dürfen. Das war mehr, als jemand aushalten konnte. Was soll ich nun tun?«

Die Dämmerung senkte sich auf die Heide, und Mallalieu empfand mit zunehmender Dunkelheit die unheimliche Stille noch tiefer und beängstigender. Er sah sich um, ob jemand den Vorgang bemerkt haben könnte, vielleicht ein Schäfer, der sich am Sonntag nach seiner Herde umgesehen hatte. Und plötzlich glaubte er auch, an der Ecke des Gehölzes eine Gestalt vor sich zu sehen. Er strengte seine Augen an, kam aber dann doch zu dem Schluß, daß er sich getäuscht haben müßte. Vorsichtig ging er an den Rand des Steinbruchs und sah über das gebrochene Geländer hinunter. Stoner lag unten auf den Kalkfelsen und rührte sich nicht mehr.

Mallalieu war oft hier gewesen und kannte jeden Baum und jeden Stein. Es fiel ihm daher nicht schwer, auf einem steilen Pfad in den Steinbruch hinunterzusteigen. Langsam näherte er sich der Stelle, wo Stoner lag, und legte vorsichtig die Hand auf die Brust des Mannes, aber er erkannte sofort, daß Stoner tot war.

»Er muß das Genick gebrochen haben«, sagte er wieder leise zu sich selbst. »Der Steinbruch ist fast zwanzig Meter tief!«

Er sah ratlos um sich, aber schließlich faßte er sich und überlegte. Er wollte die Sache auf sich beruhen lassen, wollte nichts sagen und nichts tun. Niemand hatte seine Begegnung mit Stoner gesehen, niemand wußte, daß er ihn niedergeschlagen hatte, niemand war Zeuge, daß Stoner in den Steinbruch fiel. Es war viel besser, zu schweigen und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Stoners Leiche würde gefunden werden, vielleicht morgen, vielleicht übermorgen oder noch später, und wenn man sie entdeckte, würden die Leute sagen, daß sich Stoner auf das morsche Geländer gesetzt hatte und abgestürzt war. Irgendwelche Wunden oder Beulen würde man dem Aufschlag auf die scharfen Felsen und Steine zuschreiben.

Mallalieu wählte einen andern Weg, als er in der Dunkelheit nach Highmarket zurückging, und versteckte sich hinter Hecken und Mauern, bis er sein Haus erreichte. Erst als er schon in seinem Bett lag, erinnerte er sich plötzlich daran, daß er seinen Stock in dem Steinbruch zurückgelassen hatte.

 


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