Joseph Smith Fletcher
Der Stadtkämmerer
Joseph Smith Fletcher

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4. Kapitel.

Im Kiefernwald.

Brereton, der etwas weiter zurückstand, beobachtete Garthwaite und Cotherstone. Der Stadtkämmerer gab sich die größte Mühe, die Fassung nicht zu verlieren, aber er schwankte, streckte eine Hand aus und stützte sich auf Bents Arm. Er wurde bleich, dann dunkelrot, und als er jetzt lachte, hörte es sich seltsam an.

»Was für ein Unsinn, Mann!« sagte er heiser. »Wer sollte denn den alten Herrn ermorden? Geben Sie mir einmal etwas zu trinken – die Sache hat mich mitgenommen!«

Bent reichte ihm ein Glas, und Cotherstone trank es in einem Zuge fast leer. Dann sah er sich entschuldigend um.

Ich bin doch nicht mehr so stark wie früher – in der letzten Zeit bin ich etwas nervös geworden – und dann eine solche Überraschung wie diese –«

»Es tut mir sehr leid«, sagte Garthwaite, der verwundert die Wirkung seiner Nachricht auf Cotherstone beobachtet hatte. »Aber Ihr Haus war das nächste.«

»Es ist schon gut«, entgegnete Cotherstone. »Sie haben es ganz richtig gemacht. Am besten gehen wir dorthin. Haben Sie die Polizei schon verständigt?«

»Ich habe den Mann aus dem kleinen Haus bei Ihrem Garten hingeschickt. Er kam gerade heraus, als ich vorbeiging.«

»Das ist also geschehen. Kommen Sie mit?« wandte sich Cotherstone an seine Gäste.

»Geh doch nicht aus, Vater«, bat Lettie. »Das ist zuviel für dich.«

»O, ich fühle mich wieder wohl. Das war nur eine kleine Schwäche. Ist schon wieder vorbei. Wie kommen Sie eigentlich auf die Idee, daß es ein Mord ist?« fragte er plötzlich Garthwaite.

Dieser sah auf Lettie, die leise mit Bent sprach, und schüttelte den Kopf.

»Das erzähle ich Ihnen, wenn wir draußen sind. Ich möchte Ihre Tochter nicht erschrecken.«

Cotherstone zog seinen Mantel an.

»Holen Sie die Laterne aus der Küche«, rief er dem Dienstmädchen zu, »und stecken Sie sie an.«

Auch Bent und Brereton legten ihre Mäntel an, und als das Mädchen mit der Laterne kam, gingen die vier Männer hinaus. Sobald sie im Garten waren, wandte sich Cotherstone wieder an Garthwaite.

»Also woher wissen Sie, daß er ermordet wurde?«

»Ich war drüben in Spennigarth, um Hollings zu besuchen. Als ich auf dem Heimweg quer durch das Gehölz ging, stieß ich mit dem Fuß plötzlich gegen etwas Weiches. Es war so merkwürdig, daß ich erschrak. Ich steckte schnell ein Streichholz an, und dann sah ich den alten Mann dort liegen, nur ein paar Schritte vom Fußweg entfernt. Er ist erwürgt worden.«

»Erwürgt?« rief Bent.

»Ich sah einen Strick um seinen Hals, der war so zugezogen, daß er tief ins Fleisch einschnitt. Sie werden es ja gleich selbst sehen. Haben Sie denn nichts gehört, Mr. Cotherstone?«

»Nein, wenn der Mann erwürgt wurde, konnten wir ja auch nichts hören.«

Cotherstone führte die anderen durch eine Seitentür aus dem Garten. Sie waren nun mitten im Dickicht und gingen den verhältnismäßig steilen Abhang in die Höhe. Nach einer Weile gab er Garthwaite die Laterne.

»Hier nehmen Sie – Sie müssen uns den Weg zeigen. Ich kann natürlich nicht wissen, wo es ist.«

»Sie sind aber gerade darauf zugegangen«, bemerkte Garthwaite. Dann wandte er sich an Brereton, der neben ihm ging. »Sie sind doch ein Rechtsanwalt? Ich hörte, daß Sie bei Mr. Bent wohnen. In einem so kleinen Ort wie Highmarket erfährt man das schnell. Sicher sind Sie mit solchen Dingen vertraut? Das Verbrechen kann noch nicht lange begangen sein.«

»Woraus schließen Sie das?« fragte Brereton.

»Ich habe ihn angefaßt, seine Hand und seine Backe waren noch warm. Er konnte noch nicht lange tot sein, aber sehen Sie, hier liegt er!«

Er bog scharf um die Ecke eines großen Kalksteinfelsens, der zwischen den Bäumen emporragte, und beleuchtete mit der Laterne den Toten.

Auf den ersten Blick sahen alle, daß er nicht mehr lebte.

»Er liegt noch so da, wie ich ihn gefunden habe«, sagte Garthwaite leise. »Ich kam von dorther um den Felsen und stieß mit dem Fuß gegen seine Schulter. Aber man hat ihn hierher geschleift! Betrachten Sie den Boden!«

Brereton hatte sich schon umgesehen, und als Garthwaite nun mit der Laterne leuchtete, sah er die Spur deutlich. Der Mörder hatte offenbar sein Opfer einige Schritte von dem Wege fortgezogen und hinter den Felsen gelegt. Als sie an das Ende der Spur kamen, sahen sie, daß dort ein Kampf stattgefunden hatte. Die Erde war aufgewühlt, und verschiedene Zweige im Untergebüsch waren gebrochen. Aber Brereton erkannte sofort, daß es unmöglich war, hier Fußspuren festzustellen.

»Hier muß es geschehen sein«, begann Garthwaite wieder. »Der alte Mann kam den kleinen Weg hier entlang, und hier hat ihn der Täter überfallen. Nachdem er ihn dann erdrosselt hatte, schleppte er ihn dort hinter den Felsen. So stelle ich mir die Sache vor, Mr. Cotherstone.«

Sie sahen jetzt verschiedene Laternen aufleuchten und hörten auch Stimmen. Gleich darauf kamen drei Polizisten und der Doktor, der als Polizeiarzt angestellt war, in Sicht.

»Hier!« rief Bent, als sich die Leute unschlüssig umsahen.

Der Arzt kam sofort auf ihn zu und kniete neben dem Toten nieder. In dem Licht mehrerer Laternen war nun alles deutlicher zu erkennen.

Brereton sah sofort, daß der Tote durchsucht worden sein mußte, denn seine Kleider waren zerwühlt. Mantel, Rock und Weste waren aufgerissen und die Taschen umgekehrt. Der Mörder schien den Toten also auch beraubt zu haben.

»Er ist noch nicht lange tot«, sagte der Arzt und schaute vom Boden auf. »Sicher noch nicht länger als eine Dreiviertelstunde. Er ist erwürgt worden, und der Täter muß eine mehr als gewöhnliche Kenntnis darüber besitzen, wie man einen Menschen auf solche Weise umbringt. Sehen Sie nur, wie geschickt der Strick um seinen Hals gebunden ist. Das hat nur jemand getan, der in solchen Dingen außerordentlich bewandert ist.«

Er nahm das Halstuch ab und zeigte, wie tief der Strick in das Fleisch eingeschnitten hatte. Auch der Knoten war sehr kunstvoll geknüpft.

»Nachdem der Knoten um seinen Hals lag, war sein Schicksal besiegelt, selbst wenn er die Hände vollständig frei hatte. Er war tot, ehe er sich überhaupt richtig zur Wehr setzen konnte.«

»Sieht es nicht so aus, als ob er beraubt worden ist?« fragte Brereton und zeigte auf die zerwühlten Kleider. »Das sollte doch erst festgestellt werden, bevor man ihn hier wegnimmt.«

»Ja, ich habe es auch bemerkt«, erwiderte der Polizeisergeant. »Es ist zweifellos ein Raubmord.«

Einer der Polizisten, der die Umgebung mit seiner Laterne abgesucht hatte, stieß plötzlich einen Ausruf aus.

»Hier ist etwas«, rief er, bückte sich und nahm einen dunklen Gegenstand auf. »Eine alte Brieftasche – aber es ist nichts darin.«

»Die gehörte Kitely«, sagte Cotherstone. »Ich habe sie heute noch bei ihm gesehen, er trug sie gewöhnlich in seiner inneren Tasche. Ist sie ganz leer? Keine Papiere oder Briefe zu sehen?«

»Nein, gar nichts.« Der Polizist reichte die Tasche dem Sergeanten. »Vielleicht finden wir in der Umgebung doch noch Fußspuren.«

»Gehen Sie doch den Weg einmal etwas weiter hinauf«, meinte Garthwaite. »In den Tannen- und Kiefernnadeln können Sie doch nichts entdecken. Kitely muß aber den Weg entlanggegangen sein, ich habe ihn schon mehr als einmal abends hier getroffen.«

Der Arzt, der bisher mit dem Sergeanten gesprochen hatte, wandte sich nun an Cotherstone.

»Wohnte er nicht zur Miete bei Ihnen in dem kleinen Haus dort oben? Wir bringen ihn am besten dorthin. Vielleicht geht jemand voraus und bereitet die Familie vor.«

»Er hat keine Verwandten«, erwiderte Cotherstone. »Es wohnt nur Miß Pett bei ihm, die ihm den Haushalt führt. Sie ist eine ältere Frau und erschrickt nicht so leicht, soweit ich sie kenne.«

»Ich gehe voraus«, erbot sich Bent. »Ich kenne sie.« Er berührte Breretons Ellbogen und ging mit ihm die Anhöhe hinauf. »Das ist eine ganz seltsame Sache«, sagte er nach einer Weile. »Hast du gehört, was Dr. Rockcliffe sagte? Ein geübter Mann soll das getan haben?«

»Das habe ich selbst auch gesehen«, entgegnete Brereton. »Ich habe den Strick und den Knoten genauer betrachtet. Kitely ist sicher sofort bewußtlos geworden und gleich darauf gestorben. Der Mörder muß ein brutaler und entschlossener Mensch sein und den Trick kennen, wie man jemand die Schlinge um den Hals wirft. Wohnen hier in Highmarket irgendwelche verdächtige Leute, die früher in Indien lebten?«

»In Indien?«

»Ja. Der Mörder könnte den Trick in Indien von der Sekte der Würger erlernt haben. – Dies ist wohl das Haus?« Er zeigte auf ein schwaches Licht. »Wird die Frau auch gefaßt sein?«

»Es ist eine merkwürdige alte Person, genau so komisch wie der alte Kitely«, entgegnete Bent, als sie aus dem Wald heraustraten und auf den Garten zugingen, der von einer Hecke eingeschlossen war. »Ich habe ab und zu mit ihr gesprochen, wenn ich den alten Kitely besuchte. Sie hat starke Nerven.«

Brereton sah Miß Pett scharf an, als sie die Tür öffnete. Sie hatte eine große, hagere Gestalt und eingefallene Gesichtszüge. Ihre Haut sah aus wie altes Pergament, aber ihre Augen waren dunkel und lebhaft. Ihre an und für sich seltsame Erscheinung wirkte noch sonderbarer, da sie einen Turban aus rotgelbem Seidentuch um den Kopf geschlungen hatte, der ihre Haare vollständig bedeckte. Ihre Arme waren nackt bis zum Ellbogen und ihre Hände ebenso mager wie ihr Gesicht, aber sie hatte starke Muskeln. Eine lange, scharfe Nase machte ihre häßlichen Züge noch abstoßender. Eine merkwürdige Frau, dachte Brereton.

»Ach, Sie sind es, Mr. Bent«, sagte sie, bevor einer der beiden sprechen konnte. »Mr. Kitely macht seinen gewöhnlichen Abendspaziergang. Sie wissen doch, daß er sich nicht davon abbringen läßt, ganz gleich, ob es regnet oder schneit. Aber heute ist er länger als sonst ausgeblieben.« Sie schwieg einen Augenblick, als sie sah, daß Bent ihr etwas mitteilen wollte. »Ist etwas passiert?« fragte sie dann. »Ist ihm etwas zugestoßen? Sie können es mir ruhig sagen, Mr. Bent, ich fürchte mich nicht so leicht – dazu bin ich zu alt!«

»Mr. Kitely ist tot, und sie bringen ihn hier herauf, Miß Pett. Es wäre gut, wenn Sie alles vorbereiten würden. Es besteht kein Zweifel daran, daß er ermordet wurde.«

Die Frau sah die beiden jungen Leute schweigend an, dann nickte sie und ging in das Haus zurück.

»Das habe ich erwartet«, sagte sie halblaut. »Ich habe ihn oft genug gewarnt. Sie können ihn ruhig herbringen.«

Sie verschwand in einem Nebenzimmer, und Bent und Brereton gingen den anderen entgegen, die den Toten brachten. Cotherstone folgte den Polizeibeamten und nahm Bent auf die Seite.

»Wir haben einen Anhaltspunkt gefunden«, sagte er leise. »Einen wichtigen Anhaltspunkt!«

 


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