Joseph Smith Fletcher
Der Stadtkämmerer
Joseph Smith Fletcher

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9. Kapitel

Kitelys Vorleben.

Die Zeit bis zum öffentlichen Verhör Harboroughs benützte Brereton, um sich zu überlegen, wie er seine Verteidigung führen könnte. Er wollte genau nach Avices Rat handeln und möglichst viel über das Vorleben des Ermordeten zu erfahren suchen. Es gab wahrscheinlich nur eine Persönlichkeit in Highmarket, die etwas über Kitely wissen konnte, und das war seine merkwürdige Haushälterin. Er entschloß sich daher, schon zu diesem verhältnismäßig frühen Zeitpunkt Miß Pett als Zeugin zu vernehmen.

Die Verhandlung gegen Harborough fand um elf Uhr vormittags statt. Die Stadt und die ganze Umgebung hatte von dem Mord erfahren und war in heller Aufregung. Brereton war überrascht, daß sich der Staatsanwalt so sehr ins Zeug legte. Man hatte ihn in aller Eile von Norcaster per Auto herbeigeholt und ihm erst auf dem Wege die Einzelheiten des Falles mitgeteilt. Brereton hatte erwartet, daß die Polizei nach der Darlegung des Falles Vertagung beantragen würde, aber anstatt dessen ließ der Staatsanwalt mehrere Zeugen vernehmen, darunter den Bankdirektor. Dieser sagte aus, daß Kitely sein Geld, das er zur Hälfte in Gold erhielt, in Harboroughs Gegenwart zu sich nahm. Kurz darauf wurde ein Polizeibeamter vernommen, der angab, daß bei der Durchsuchung Harboroughs zwanzig Pfund in Gold gefunden wurden.

Brereton sah wohl, welchen Eindruck dies auf die Geschworenen machte, die neben Mallalieu saßen. Er fühlte, wie der Verdacht gegen seinen Klienten wuchs, aber er tat nichts. Er hatte schon von Avice und dem anderen Rechtsanwalt in Highmarket erfahren, daß Harborough zwanzig bis dreißig Pfund in Gold bei sich trug. Dafür konnte man leicht den Beweis erbringen. Brereton stellte fast gar keine Fragen an diese Zeugen, aber er arbeitete doch klar heraus, daß Harborough sehr erstaunt war, als ihn bei seiner Rückkehr am Morgen die beiden Polizisten trafen und ihm erzählten, was vorgefallen war. Harborough hatte über die Zumutung gelacht, daß er etwas mit dem Mord zu tun haben könnte, und war freiwillig zur Polizeistation mitgegangen, ohne vorher sein Haus zu betreten.

Als aber Miß Pett als Zeugin aufgerufen wurde, entfaltete Brereton eine eifrige Tätigkeit. Sie trug ein einfaches, schwarzes Kleid, das ihre bleiche Hautfarbe noch mehr hervortreten ließ. Nachdem sie einige belanglose Fragen beantwortet hatte, erhob sich Brereton. Alle Zuhörer lauschten gespannt.

»Wie lange haben Sie Mr. Kitely gekannt?« fragte er.

»Er engagierte mich vor etwa zehn Jahren als Haushälterin.«

»Waren Sie diese letzten zehn Jahre dauernd bei ihm in Stellung – ich meine ohne Unterbrechung?«

»Nein, ich habe ihn nicht verlassen, seitdem ich zu ihm kam.«

»Wo lebte Mr. Kitely, als er Sie anstellte?«

»In London.«

»Wo in London?«

»83, Acacia Grove, Camberwell.«

»Sie haben also zehn Jahre lang bei ihm als Haushälterin gelebt, und wir können daher annehmen, daß Sie ihn sehr gut kannten?«

»So gut, wie man ihn eben kennen konnte«, entgegnete Miß Pett ärgerlich. »Er war nicht sehr mitteilsam.«

»Aber Sie kennen ihn seit zehn Jahren.« Mr. Brereton sah Miß Pett jetzt scharf an. »Wer war eigentlich dieser Mr. Kitely?«

Miß Pett wurde unruhig und schüttelte den Kopf.

»Das weiß ich nicht genau, ich habe es niemals richtig gewußt.«

»Aber Sie müssen doch irgend etwas beobachtet haben und wissen, nachdem Sie ihn zehn Jahre kannten. Was machte er denn in London? Hatte er keinen Beruf?«

»Er war fast den ganzen Tag unterwegs. Was er aber machte, weiß ich nicht.«

»Hat er Ihnen niemals etwas darüber erzählt?«

»Nein.«

»Haben Sie wirklich keine Ahnung? Ging er regelmäßig aus?«

»Nein, das kann ich nicht sagen. Manchmal ging er sehr früh fort, manchmal spät – manche Tage blieb er überhaupt zu Hause, und manchmal blieb er die halbe Nacht fort. Zuweilen kam er tagelang nicht in die Wohnung zurück. Ich habe auch nie gefragt, was er machte.«

»Jedenfalls hatte er sich jetzt zur Ruhe gesetzt und seinen Beruf aufgegeben?«

»Ja, bevor wir hierherkamen.«

»Wissen Sie, warum Mr. Kitely hierherkam?«

»Er hat immer gesagt, er möchte sich einmal in einem kleinen, ruhigen Ort, möglichst im Norden, niederlassen. Vor einigen Monaten brachte er hier seinen Urlaub zu, und als er zurückkam, sagte er mir gleich, er hätte ein Haus gefunden, das ihm zusagte. Und dann sind wir hierhergezogen.«

»Wie lange sind Sie schon hier?«

»Etwas über drei Monate.«

Brereton machte eine kleine, wohlbeabsichtigte Pause, ehe er die nächste Frage an die Zeugin richtete.

»Wissen Sie etwas über Mr. Kitelys Verwandte?«

»Nein. Er hat immer gesagt, er besäße keine Verwandten.«

»Haben ihn niemals Verwandte besucht?«

»Nein, wenigstens nicht während der zehn Jahre, die ich bei ihm war.«

»Glauben Sie, daß er irgendwelches Eigentum oder Geld hatte, das er jemand vermachen konnte?«

Miß Pett spielte mit ihrer Handtasche, die auf ihrem Schoß lag.

»O – ja«, entgegnete sie zögernd.

»Hat er Ihnen gegenüber geäußert, was im Falle seines Todes aus dem Gelde werden sollte?«

Miß Pett sah sich um und lächelte ein wenig.

»Ja, er hat immer gesagt, daß er es mir vermachen wollte, da er doch keine Verwandten hätte«, entgegnete sie zögernd.

Brereton trat einen Schritt näher zum Zeugenstuhl und sprach jetzt etwas leiser.

»Wissen Sie, ob Mr. Kitely ein Testament gemacht hat?«

»Ja, es ist ein Testament vorhanden.«

»Wann wurde es aufgesetzt?«

»Kurz bevor wir London verließen.«

»Kennen Sie den Inhalt?«

»Nein.«

»Haben Sie das Testament als Zeugin unterschrieben?«

»Nein.«

»Wissen Sie, wo es aufbewahrt wird?«

»Ja.«

»Wo befindet es sich?«

»Mein Neffe verwahrt es. Er ist Rechtsanwalt und hat das Testament auch aufgesetzt.«

»Wie ist der Name und die Adresse Ihres Neffen?«

»Mr. Christopher Pett, 23 B, Cursitor Street.«

»Haben Sie ihn von Mr. Kitelys Tod benachrichtigt?«

»Ja, ich sandte ihm heute früh ein Telegramm.«

»Haben Sie ihn auch gebeten, das Testament mitzubringen?«

»Nein«, sagte Miß Pett abweisend und entrüstet. »Ich habe nichts von dem Testament erwähnt. Mr. Kitely hatte meinen Neffen sehr gern, er hielt ihn für einen tüchtigen und strebsamen jungen Mann.«

»Nun, wir werden ja noch das Vergnügen haben, Ihren Neffen hier zu sehen«, bemerkte Brereton. »Jetzt möchte ich noch einige Fragen über Ihre eigene Person stellen. Was waren Sie, bevor Sie die Stellung bei Mr. Kitely antraten?«

»Ich war Haushälterin bei einem anderen Herrn«, antwortete Miß Pett bissig.

»Und wer war das?«

»Wenn Sie es durchaus wissen müssen – es war Major Stilman, ein pensionierter Offizier. Ich möchte aber gern wissen, was das –«

»Wo wohnt Major Stilman?«

»In Kandahar Cottage, Woking«, entgegnete Miß Pett mürrisch. »Aber sagen Sie mir doch –«

»Beantworten Sie bitte meine Fragen und machen Sie keine weiteren Bemerkungen. Lebt Major Stilman noch?«

»Nein, er starb vor zehn Jahren«, erwiderte Miß Pett aufgebracht. »Wenn Sie in der Weise noch weiterfragen wollen, will ich Ihnen lieber gleich die Antwort geben. Ich war lange bei Major Stilman, und vorher war ich in zwei Hotels tätig. Und noch früher lebte ich bei meinen Eltern, einem angesehenen Gutsbesitzerpaar in Sussex. Ich möchte aber nur wissen, was das alles mit der jetzigen Verhandlung zu tun hat?«

»Nennen Sie mir die Namen der beiden Hotels, in denen Sie angestellt waren.«

»Das eine in Bayswater hieß ›Royal Belvedere‹ und das andere in Kensington ›Mervyn Crescent‹. Beides erstklassige Häuser.«

»Und wie heißt Ihre Heimat in Sussex?«

»Oakbarrow Farm in der Nähe von Horsham. Wollen Sie auch noch wissen, wo und wann mein Vater und meine Mutter geboren wurden?«

»Nein, ich will Sie nicht länger in Anspruch nehmen«, erwiderte Brereton mild. »Sagen Sie mir nur noch das eine: Hat Mr. Kitely jemals Besuch empfangen, seitdem er nach Highmarket zog?«

»Nur mein Neffe, der einmal das Wochenende hier zubrachte, hat ihn besucht. Er hatte außerdem geschäftlich mit ihm zu tun. Was die beiden allerdings miteinander verhandelten, weiß ich nicht. Mr. Kitely hatte Hausbesitz in London –«

»Und Ihr Neffe wollte sicherlich darüber mit ihm sprechen. Ich danke Ihnen, Miß Pett, weitere Fragen sind nicht mehr nötig.«

Als die Haushälterin den Zeugenstuhl verließ, hatte Brereton erreicht, was er wollte: Die Aufmerksamkeit des Publikums war in eine andere Richtung gelenkt. Während der letzten Vernehmung hatten die Zuhörer leise Bemerkungen ausgetauscht, und er wußte, daß diese Leute leicht einen neuen Verdacht aufgriffen. Es ist nichts zweckdienlicher, als das Vorurteil gegen einen Angeklagten dadurch zu entkräften, daß man den Verdacht auf einen anderen lenkt. Trotzdem wußte er ganz gut, daß er Harborough nicht vor der Anklage des Mordes retten konnte, wenn dieser nicht selbst nachwies, wo er in der fraglichen Zeit gewesen war. Aber der Mann weigerte sich auch hier hartnäckig, auf die Fragen des Vorsitzenden zu antworten.

So wurde der Fall auf eine Woche vertagt und der Angeklagte ins Gefängnis nach Norcaster gebracht. Brereton und Avice suchten ihn dort auf, aber auch ihre Bemühungen blieben erfolglos.

»Es hat keinen Zweck, mein Kind. Sie bemühen sich umsonst, mein Herr«, erwiderte er nur auf ihre dringenden Bitten, sein unheilvolles Schweigen aufzugeben. »Ich bin fest entschlossen, nicht zu sagen, wo ich in jener Nacht war.«

»Sagen Sie es mir im Vertrauen, und ermächtigen Sie mich, es auch im Vertrauen weiter zu verwerten«, drängte ihn Brereton.

»Nein, das lehne ich entschieden ab. Es ist ja möglich, daß man mich eine Zeitlang hier im Gefängnis zurückhält, aber die Wahrheit wird doch herauskommen, bevor mein Prozeß beginnt. Ich habe nur Sorgen um dich, Avice!«

»Um mich brauchst du dich nicht zu sorgen«, erklärte sie. »Ich wohne jetzt bei Mrs. Northrop. Sie bestand darauf, daß ich zu ihnen ziehe.«

Brereton ging aus der Zelle, um Vater und Tochter einige Zeit allein zu lassen, aber auf der Schwelle kehrte er noch einmal um.

»Harborough, können Sie mir nicht irgendwie andeuten, wie man Ihnen helfen könnte?«

Harborough lächelte und sah seinen Anwalt verständnisvoll an.

»Wenn Sie herausbringen wollen, wer Kitely ermordet hat, dann müssen Sie Schritt für Schritt seine Vergangenheit durchforschen!«

 


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