Joseph Smith Fletcher
Der Stadtkämmerer
Joseph Smith Fletcher

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10. Kapitel.

Das Loch im Strohdach.

Bent ging nach der Verhandlung im Polizeigericht mit Brereton nach Hause; er hatte sich, wie alle anderen Anwesenden, sehr für das Verhör der Miß Pett interessiert.

»Du hast doch nicht etwa die alte Haushälterin im Verdacht?« fragte er ungläubig, als sie sich am Tisch niederließen. »Und doch hatte man fast diesen Eindruck, als du sie so scharf ausfragtest. All die klugen Leute von Highmarket sitzen nun beim Mittagessen und reden darüber, daß Miß Pett ihren Herrn umgebracht hat!«

»Warum sollte sie es nicht getan haben?« fragte Brereton kühl. »Wenn man die Tatsachen vorurteilsfrei betrachtet, kann man ebensogut wie Mr. Harborough auch Miß Pett verdächtigen. Wahrscheinlich sind sie beide genau so unschuldig wie du und ich. Nehmen wir einmal an, daß noch mehr Material gegen Harborough zusammenkommt, so besteht doch gleichfalls die Möglichkeit, daß Miß Pett durch den Tod des alten Mannes zu gewinnen hoffte. Sie ist eine starke, zähe Person, und Kitely war schon etwas alt und schwächlich. Morde werden manchmal von den unmöglichsten Personen und aus den merkwürdigsten Gründen begangen. Hochachtbare Frauen haben gemordet, manchmal nur, um einer Laune zu genügen.«

»Du hast sie also tatsächlich im Verdacht?«

»Das kann ich dir nicht sagen«, meinte Brereton mit einem gutmütigen Lachen. »Ich glaube nur, daß dieser Mord entweder eine sehr einfache Lösung findet oder daß er uns noch viele Rätsel aufgibt. Wenn Mr. Christopher Pett aus London kommt und das Testament mitbringt, werden wir ein gutes Stück weiterkommen. Es tut mir nur leid um Avice Harborough. Ich weiß wirklich nicht, warum ihr Vater nicht sagen will, wo er die letzte Nacht zubrachte. Damit wäre doch wahrscheinlich die ganze Anklage hinfällig.«

»Mindestens könnte er doch angeben, was er von neun bis dreiviertel zehn gemacht hat. Das ist der letzte Zeitpunkt, an dem Mr. Kitely nach den Angaben des Arztes ermordet worden sein kann.«

»Er wird wahrscheinlich gewildert haben«, entgegnete Bent lächelnd.

»Das glaube ich nicht. Ich muß das Geheimnis dieses Mannes erfahren, trotz seines hartnäckigen Widerstandes. Ich werde die Sache schon durchfechten. Die Schwurgerichtssitzungen in Norcaster beginnen im nächsten Monat, dann wird auch gegen Harborough verhandelt werden. Ich bleibe hier und arbeite die Verteidigung aus. Wenn ich Erfolg habe, wird mir dies in vieler Weise nützen. Ich lerne selbst dabei, und mein Name wird bekannt, denn dieser Fall geht doch durch die ganze Presse. Unter diesen Umständen bin ich unhöflich genug, dich noch um weitere Gastfreundschaft zu bitten.«

»Selbstverständlich kannst du bei mir bleiben«, entgegnete Bent herzlich. »Aber sage mir doch wenigstens endlich, was du von der Sache denkst.«

»Das weiß ich selbst noch nicht genau. Aber überlege dir einmal folgendes. Welchen Grund könnte Harborough gehabt haben, diesen Kitely zu ermorden? Wir haben genug Zeugen dafür in der Stadt – seine Tochter, seine Nachbarn, die Kaufleute –, daß Harborough immer Geld hatte. Glaubst du, daß er Kitely umgebracht hat, um ihm dreißig Pfund zu rauben? Hatte aber Miß Pett andererseits nicht gute Gelegenheit, Kitely aus dem Wege zu räumen und den Verdacht auf andere zu lenken? Sie kannte die Gewohnheiten ihres Herrn; sie war mit der Umgebung vertraut; sie wußte, wo Harborough diese Schlächterleine aufbewahrte, und sie kann sich so unauffällig und lautlos bewegen wie eine Katze. Wenn sich nach Bekanntgabe des Testamentes herausstellen sollte, daß sie seine einzige Erbin ist, wäre dann nicht ein Motiv für die Tat gefunden? Sicherlich fällt auch auf sie Verdacht, und ich bin nicht ganz sicher, ob er unbegründet ist!«

»Aber das ist doch eine starke Behauptung, daß Miß Pett Kitely ermordet haben soll, nur um die Erbschaft anzutreten?« rief Bent ungläubig.

»Ich möchte Miß Pett kein Unrecht tun. Ich sage nur, daß ich Grund habe, sie zu verdächtigen. Vielleicht verschärft sich dieser Verdacht noch, wenn wir mehr über die Sache erfahren.«

»Dann hätten wir also zwei in Frage kommende Täter. Die Polizei hält Harborough für den Mörder, und du hast Miß Pett im Verdacht. Wahrscheinlich sind sie aber beide vollkommen unbeteiligt. Wer ist denn dann in diesem Fall der Schuldige?«

»Ja, wer ist es? Das ist ja das Rätsel. Aber ich habe zunächst nur nachzuweisen, daß mein Klient nicht schuldig ist. Du gehst doch heute nachmittag sowieso ins Geschäft, und inzwischen will ich einmal über alles nachdenken.«

Als Bent gegangen war, steckte sich Brereton eine Zigarre an und machte es sich in einem Sessel am Kamin bequem. Er überlegte den Fall nach allen Seiten hin. Wohl hatte er seinem Freunde gesagt, was er über Harborough und Miß Pett dachte, aber er hatte über einen anderen Verdacht geschwiegen, der sich ihm unwillkürlich aufgedrängt hatte.

Er fragte sich selbst, wie er dazu kam, zwei offenbar in hohem Ansehen stehende Leute dieser kleinen Stadt mit der Tat in Verbindung zu bringen. Brereton war ein guter Beobachter und hatte am vergangenen Abend bemerkt, daß sich Cotherstone nicht in der üblichen Weise seinen Gästen widmete. Das ganze Verhalten des Mannes hatte bezeugt, daß er nicht bei der Sache war. Mehrmals hörte er überhaupt nicht, was man zu ihm sagte, und als im Laufe der Unterhaltung Kitelys Name fiel, wurde er verwirrt. Und am sonderbarsten verhielt er sich, als Garthwaite die Nachricht von Kitelys Ermordung brachte.

Aber nun kam das wichtigste, das schwerwiegende Verdachtsmoment. Als sie alle aufbrachen, um zu der Mordstelle zu gehen, führte sie Cotherstone gerade darauf zu. Woher wußte er denn, wo der Tatort lag? Er hatte doch erst fünf Minuten vorher von dem Verbrechen gehört, und nun führte er seine Begleiter an einen Platz, der nur wenige Meter von der Mordstelle entfernt war. Dann erst reichte er Garthwaite die Laterne und betonte ausdrücklich, daß dieser sie führen sollte, da er doch nicht wissen könnte, wo das Verbrechen geschehen sei. Wenn Cotherstone Kitely nicht selbst während der Stunde getötet hatte, die er von seinem Hause entfernt war, so wußte er wahrscheinlich doch, daß Kitely ermordet war, und wahrscheinlich auch von wem.

Das waren Tatsachen, mit denen man rechnen mußte. Nach der jetzigen Annahme war Kitely ungefähr um halb zehn ermordet worden. Cotherstone war von zehn Minuten vor neun bis fünf Minuten vor zehn ausgegangen. Er war verstört, als er zurückkam, und seine Nervosität steigerte sich noch, als er mit den anderen in den Wald zu dem Toten ging. War es nicht möglich oder sogar wahrscheinlich, daß er in dieser Erregung alle Vorsicht außer acht ließ und sich rein mechanisch zu der Mordstelle wandte?

Aber das war noch nicht alles, es war noch mehr zu bedenken. Mallalieu war Cotherstones Partner. Mallalieu ging kurz vor zehn zu Northrop. Man mußte herausbringen, was Mallalieu vorher tat. Aber die Hauptsache blieb doch immer, wie und wo Cotherstone die eine Stunde zubrachte, die er von Hause entfernt war. Hatte er Grund, Kitely aus dem Wege zu schaffen?

Brereton dachte alle Einzelheiten durch, bis er seine Zigarre aufgeraucht hatte. Dann verließ er das Haus und ging in den Wald. Er wollte sich noch einmal bei Tage an dem Tatort umsehen. Er fand die Stelle sofort, denn aus der Stadt waren viele Neugierige gekommen, um den Platz zu besichtigen, an dem man einen Menschen ermordet hatte.

Aber niemand konnte direkt hinkommen. Die Polizei hatte den Teil des Waldes mit Tauen abgesperrt, und zwei Beamte hielten dort Wache, während einige Detektive von Norcaster innerhalb des abgeteilten Raumes Grund und Boden sorgfältig absuchten. Junge und alte Leute unterhielten sich über den Mord und beobachteten eifrig die Vorgänge innerhalb des abgesperrten Platzes. Sie hofften, daß gerade jetzt ein bedeutender Fund gemacht würde, damit sie selbst eine sensationelle Neuigkeit zur Stadt bringen könnten. Viele waren am Vormittag bei der Verhandlung zugegen gewesen und erkannten Brereton wieder. Einer der Detektive trat vor und lud ihn ein, näherzukommen.

»Haben Sie noch etwas entdeckt?« fragte der Rechtsanwalt. Im geheimen wunderte er sich, daß sich die Polizeibeamten einer so nutzlosen Beschäftigung hingaben.

»Nein, aber wir konnten nach den Spuren auf dem Boden feststellen, daß sich der Mörder hinter dem Ginsterstrauch versteckt hielt, bevor er sich auf sein Opfer stürzte. Hier haben wir nichts gefunden, aber sicherlich haben Sie von dem Fund in Harboroughs Haus gehört?«

»Nein!« rief Brereton erstaunt. »Welchen Fund meinen Sie denn?«

»Einer von uns hat das Haus durchsucht, nachdem die Verhandlung vor dem Polizeigericht zu Ende war. Man fand die Banknoten dort, die Kitely gestern abhob, ebenfalls die Briefe und Papiere, die wahrscheinlich in seiner Brieftasche steckten. Alles war in einem Loch in dem Strohdach von Harboroughs Schuppen versteckt.«

»Wo sind die Sachen jetzt?«

»Auf der Polizeistation, der Inspektor hat sie in Verwahrung. Er wird sie Ihnen gern zeigen, wenn Sie hingehen wollen.«

Brereton machte sich sofort auf den Weg und wurde auch gleich in das Büro des Inspektors geführt. Der Beamte zeigte ihm auf seine Bitte hin die gefundenen Dinge.

»Sehen Sie, diese Papiere waren in einem Rattenloch in dem Strohdach versteckt. Ich weiß nicht mehr, was ich von der ganzen Sache denken soll. Man sollte doch annehmen, daß ein Mann von Harboroughs Verstand solches Beweismaterial nicht in dem Hause lassen würde, wo sie doch bei der ersten Durchsuchung gefunden werden müssen!«

»Ich glaube nicht, daß Harborough sie dort versteckte. Aber wir wollen uns doch alles einmal näher ansehen.«

Der Polizeiinspektor bot seinem Besucher einen Stuhl an.

»Es ist nicht gerade sehr viel«, sagte er. »Drei Fünfpfundnoten. Ich habe feststellen können, daß es dieselben sind, die Kitely gestern von der Bank holte. Dann eine Anzahl von Briefen, die hauptsächlich von alten Büchern, Antiquitäten und dergleichen handeln, und einige Zeitungsausschnitte. Hier ein kleines Notizbuch. Es sind allerhand Bemerkungen mit Bleistift darin eingetragen, aber nichts von Bedeutung. Sie können es sich ruhig ansehen, ich habe nichts dagegen.«

Brereton sah die Papiere schnell durch, fand aber nichts Beachtenswertes daran. Aber das Notizbuch betrachtete er genauer, vor allem die letzten Eintragungen. Eine Zeile fiel ihm besonders auf, so unbedeutend sie an und für sich sein mochte.

M. & C. v. Z.A. cir. 91.

Bei den Anfangsbuchstaben wurde Brereton sofort an Mallalieu und Cotherstone erinnert.

 


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