Joseph Smith Fletcher
Der Stadtkämmerer
Joseph Smith Fletcher

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6. Kapitel

Der Bürgermeister.

»Das ist sicher Harboroughs Tochter«, dachte Brereton und betrachtete sie genauer.

Miß Harborough war ein selbstbewußtes junges Mädchen. Außer einem flüchtigen Erröten und einem fragenden Blick verriet nichts in ihren Zügen Überraschung oder Furcht. Ihr feingeschnittenes Gesicht ließ erkennen, daß sie eine gute Erziehung genossen hatte. Die Polizeibeamten schienen sie gut zu kennen, denn sie grüßten und behandelten sie mit viel Respekt.

»Verzeihen Sie, Miß Harborough, ist Ihr Vater zu Hause?« wandte sich der Sergeant höflich an sie.

»Was wollen Sie denn von ihm?« fragte sie verwundert. »Ist etwas passiert, Mr. Bent? Wenn mein Vater nicht zu Hause ist, weiß ich auch nicht, wo er sein könnte. Er ist heute abend früh fortgegangen und war noch nicht zurück, als ich vor einer Stunde wegging.«

»Ach, es ist nichts Besonderes«, entgegnete Bent. »Nur Ihr Nachbar auf der anderen Seite des Hügels, der alte Kitely, ist tot aufgefunden worden.«

Brereton beobachtete das Mädchen scharf und sah, daß diese Mitteilung sie nicht berührte. Sie ging auf die Haustür zu und nahm einen Schlüssel aus ihrer Handtasche.

»Mein Vater soll Ihnen wohl helfen? Es ist möglich, daß er sich inzwischen schon gelegt hat.«

Sie schloß die Tür auf, ging in das offene Wohnzimmer und drehte das elektrische Licht an.

»Nein, er ist doch noch nicht da.«

»Sagen Sie es ihr lieber«, flüsterte der Sergeant Bent zu. »Es hat doch keinen Zweck, es vor ihr zu verheimlichen. Sie muß es wissen.«

»Miß Harborough«, sagte Bent, »es ist leider eine Tatsache, daß Kitely ermordet wurde.«

»Ermordet?« rief sie. »Hat man ihn erschossen?«

Ihr Blick fiel in eine Ecke des Zimmers. Brereton entdeckte dort zwischen Angelgerät und anderen Sportgegenständen ein Gewehr. Aber nur für den Bruchteil einer Sekunde schaute sie dorthin. Dann wandte sie sich wieder Bent zu.

»Es ist besser, daß ich Ihnen alles sage«, fuhr dieser ruhig fort. »Mr. Kitely ist erwürgt worden, und der Strick, mit dem das Verbrechen verübt wurde, ist nach Ansicht der Polizei wahrscheinlich von einer Leine abgeschnitten worden, wie Ihr Vater sie in seinem Beruf braucht. Verstehen Sie mich wohl, Miß Avice, Ihr Vater hat vielleicht irgendwo so einen Strick herumhängen und –«

Das Mädchen sah Bent ruhig in die Augen.

»Wissen Sie denn, warum Kitely ermordet wurde?« fragte sie plötzlich. »Haben Sie schon den Grund dafür entdeckt?«

»Er ist beraubt worden, das steht zweifellos fest.«

»Was Sie mir auch immer erzählen mögen, Sie haben einen Verdacht auf meinen Vater«, bemerkte sie nach einer Pause. »Ich kann Ihnen aber nur sagen, daß mein Vater es nicht nötig hat, andere Leute zu berauben. Im Gegenteil, er ist sehr gut gestellt, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen. Aber was wünschen Sie denn nun eigentlich?« fragte sie ein wenig ungeduldig. »Mein Vater ist nicht hier, und ich weiß auch nicht, wo er ist. Manchmal bleibt er die ganze Nacht fort.«

»Dürfen wir einen Blick in den Schuppen werfen?« erwiderte der Sergeant. »Nur um nachzusehen, ob dort etwas fehlt.«

»Das können Sie gerne tun. Sehen Sie sich auch sonst hier um«, entgegnete Avice. »Ich kann mir nur nicht vorstellen, was sie da finden wollen. Nun, Sie wissen ja, wo der Schuppen ist.«

Sie drehte sich um und legte Hut und Mantel ab, und die anderen gingen nach draußen zu dem niedrigen Schuppen, der an der Seite des Hauses angebaut war.

Der Polizist leuchtete mit seiner Blendlaterne die Wand ab und entdeckte eine aufgerollte Leine, die an einem Nagel hing.

»Da haben wir es, meine Herren«, sagte er. Mit der einen Hand hielt er die Lampe hoch empor und mit der anderen zeigte er triumphierend auf die Leine. »Mit einem scharfen Messer abgeschnitten! Und es ist genau derselbe Strick, mit dem der Tote erwürgt wurde!«

Brereton trat näher und sah, daß der Polizist recht hatte. Der Sergeant schüttelte ernst den Kopf, als er die Leine von dem Nagel herunternahm.

»Ich glaube, wir brauchen uns hier nicht weiter umzusehen, Mr. Bent«, sagte er. »Natürlich nehme ich den Strick mit, um ihn mit dem andern Stück zu vergleichen.« Er sah sich in dem Schuppen um. »Mr. Harborough ist nicht hier. Nun, wir haben genug gefunden.«

Er ging wieder zur Haustür zurück.

»Es ist alles in Ordnung, Miß Harborough«, sagte er zu Avice. »Wir gehen jetzt wieder. Aber wenn Ihr Vater nach Hause kommen sollte, so bitten Sie ihn doch, mich auf der Polizeistation zu besuchen. Ich möchte mit ihm sprechen.«

Sie antwortete nicht, und als der Sergeant zu seinen Begleitern zurücktrat, schloß sie die Tür, drehte den Schlüssel um und schob den Riegel vor.

Bent und Brereton trennten sich von den Beamten und gingen auf einem Seitenwege zur Stadt hinunter.

»Ich zweifle nicht daran, daß Kitely mit dem Strick ermordet wurde, der von der Leine abgeschnitten worden ist«, meinte Brereton. »Das ist für mich der sicherste Beweis, daß dieser Harborough nichts mit dem Mord zu tun hat.«

»Wie kommst du darauf?« fragte sein Freund.

»Glaubst du, daß ein Mann, der seine fünf Sinne beisammen hat, ein Stück von einer Leine abschneidet und sie an einem Nagel hängen läßt, wo sie jedermann finden kann? Und mit dem abgeschnittenen Stück soll er dann einen armen Menschen erwürgen und den Strick nicht einmal von dem Toten entfernen? Nein, das halte ich für unmöglich!«

»Was glaubst du denn?«

»Natürlich hat jemand den Strick abgeschnitten und damit Kitely nachher ermordet; es fragt sich nur, wer es war.«

Bent schwieg einige Zeit, aber als sie an der Grenze der Stadt angekommen waren, klopfte er Brereton auf die Schulter.

»Deine Schlußfolgerungen sind ja ganz gut, du hast nur eins vergessen. Der Mörder mag ja die Absicht gehabt haben, den Strick von seinem Opfer zu entfernen, aber vielleicht ist er gestört worden, bevor er dazu kam.«

Sie blieben plötzlich stehen, als sich eine Gartentür öffnete, an der sie gerade vorbeikamen. Eine große Gestalt trat heraus, und im Licht der nahen Laterne erkannte Bent Mallalieu.

»Ach, Sie sind es, Herr Bürgermeister!« rief Bent. »Ich wollte gerade zu Ihnen gehen. Haben Sie schon gehört, was heute abend passiert ist?«

»Nein. Ich habe mit Northrop Karten gespielt. Was gibt es denn?«

Sie gingen jetzt alle drei nach der Stadt zu, und Bent schritt zwischen Brereton und Mallalieu, dessen Arm er nahm.

»Der alte Kitely, der das Haus Ihres Partners gemietet hat, ist ermordet worden!«

Mallalieus Pfeife fiel zu Boden, und Bent fühlte, daß der Arm des Mannes zitterte.

»Donnerwetter, sprechen Sie im Ernst?«

»Natürlich.« Bent bückte sich und hob die Pfeife auf. »Tut mir leid, daß ich es Ihnen so unvermittelt gesagt habe. Ich dachte nicht, daß es Sie so mitnehmen würde. Aber es läßt sich nichts daran ändern, Kitely ist ermordet, und zwar ist er mit einem Strick erdrosselt worden.«

»Wann ist denn das passiert?«

»Ungefähr vor einer Stunde. Mr. Brereton hier, einer meiner Freunde aus London, und ich waren gerade bei Mr. Cotherstone, als wir die Nachricht erhielten. Wir sind dann sofort hingegangen.«

»Also haben Sie den Toten schon gesehen?«

»Ja. Es ist ein ganz kaltblütig ausgeführter Mord.«

Mallalieu blieb vor der Tür seines eigenen Hauses stehen.

»Kommen Sie bitte herein, nur auf ein paar Minuten. Der Schreck ist mir doch in die Glieder gefahren. Ein Mord ist noch nicht passiert, solange ich hier bin. Kommen Sie, und erzählen Sie mir die Sache genauer.«

Er führte sie in das Wohnzimmer, wo ein helles Feuer brannte und der Tisch gedeckt war.

»Die Dienstboten sind schon zu Bett. Da ich abends oft lange ausbleibe, stellen sie mir immer noch etwas in das Speisezimmer. Darf ich Ihnen vielleicht ein Butterbrot oder ein paar Kekse anbieten? Auf jeden Fall trinken Sie etwas. Sie waren also heute abend bei Cotherstone?«

»Wir waren in seinem Hause«, erwiderte Bent. »Er selbst blieb allerdings lange aus und hatte später auch noch auswärts zu tun. Aber wir waren mit ihm zusammen, als wir die Nachricht von dem Morde erhielten.«

»Ach, er war ausgegangen?« fragte Mallalieu interessiert. »Um welche Zeit war denn das? Ich wußte, daß er heute abend für das Geschäft noch etwas zu erledigen hatte.«

»Zwischen neun und zehn ging er fort, und er war gerade wiedergekommen, als uns Garthwaite die Nachricht brachte.«

»Das war natürlich ein großer Schrecken für ihn«, meinte Mallalieu. »Wenn man bedenkt, daß es sein eigener Mieter war!«

»Ja, er war sehr aufgeregt«, stimmte Bent zu und nahm das Glas, das Mallalieu ihm reichte. »Es ist besser, daß wir Ihnen alles erzählen«, fuhr er dann fort. »Mr. Brereton ist Rechtsanwalt und hält die Sache für sehr merkwürdig.«

Mallalieu nickte und hörte der Erzählung Bents aufmerksam zu. Brereton beobachtete ihn scharf. Ein gewandter, umsichtiger Mann, dachte er für sich und war gespannt, was Mallalieu erwidern würde, wenn er alles gehört hatte.

Mallalieu wandte sich an ihn, als Bent seinen Bericht beendet hatte.

»Ich bin ganz Ihrer Ansicht. Nur ein vollständig unzurechnungsfähiger Mensch hätte diesen Strick abgeschnitten und die Leine im Schuppen hängen lassen. Dieser Harborough ist dazu viel zu klug. Ich bin davon überzeugt, daß er es nicht getan hat.«

»Wer könnte es denn getan haben?« fragte Bent.

Mallalieu trank sein Glas aus und erhob sich.

»Ich bin der erste Beamte hier, und es ist gut, wenn ich selbst zur Polizeistation gehe. In den letzten Tagen sind verschiedene verdächtige Leute gesehen worden, die sich in der Stadt herumgetrieben haben. Ich habe sie genau beobachten lassen. Unsere Polizei ist leider etwas langsam und schläfrig, ich muß sie einmal aufwecken. Sie wollen sicher nicht mehr mitkommen?« meinte er.

»Wir können ja doch nichts helfen«, erwiderte Bent und reichte Mallalieu die Hand.

Sein Haus lag dem des Bürgermeisters gerade gegenüber, und er blieb mit Brereton noch stehen und sah Mallalieu nach, der mit schnellen Schritten zur Stadt ging.

 


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