Joseph Smith Fletcher
Der Stadtkämmerer
Joseph Smith Fletcher

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8. Kapitel.

Mr. Harborough.

Anstatt dem Polizisten zu antworten, sah Mallalieu zu Cotherstone hinüber. Es lag etwas Merkwürdiges in dem Blick, so daß Cotherstone unangenehm berührt war. Diese fragenden Augen reizten ihn, und seine Stimmung wurde noch schlechter.

»Willst du mitkommen?« fragte Mallalieu kurz.

»Nein«, antwortete Cotherstone und wandte sich zum Büro. »Das ist nichts für mich.«

Mallalieu trat mit dem Polizisten auf die Straße und wäre dort beinahe mit Bent und Brereton zusammengestoßen, die ebenfalls mit einem anderen Beamten zur Polizeistation eilten.

»Haben Sie auch schon gehört, daß Harborough verhaftet ist?« fragte Mallalieu. »Erzählen Sie doch, wie es kam«, wandte er sich dann an den Polizisten.

»Wir haben ihn nicht verhaftet«, entgegnete der Mann. »Jedenfalls nicht, wie wir das sonst machen. Vor einer halben Stunde, als es gerade hell wurde, kam er zu seinem Haus zurück. Zwei unserer Leute, die dort oben auf Posten standen, sagten ihm, was vorgefallen ist, und er kam gleich mit ihnen hierher. Er behauptet, daß er nichts von der Sache wüßte.«

»Nun, das war ja vorauszusehen«, bemerkte Mallalieu kurz. »Er wäre auch verrückt, wenn er etwas anderes sagte.«

Er steckte den einen Daumen in die Weste und folgte den anderen in die Polizeistation, als ob nichts besonders Wichtiges vorläge. Dort konnte man auch wirklich nicht erkennen, daß es sich hier um eine Sache auf Leben und Tod handelte. Mehrere Leute standen vor dem Schreibtisch des Inspektors; ein Beamter schrieb langsam und umständlich an einem Seitentisch, und eine Putzfrau war damit beschäftigt, Feuer im Kamin zu machen.

»Die ganze Sache ist einfach lächerlich«, sagte Harborough zornig. »Das müßte man doch in fünf Minuten durchschaut haben!«

Brereton sah zu dem Sprecher hinüber, der die anderen ansah, als ob er eine solche Torheit nicht begreifen könnte. Er betrachtete diesen ungewöhnlichen Mann neugierig. Harborough hatte schnelle Bewegungen, einen scharfen Blick und intelligente Züge. Sein Gesicht war von Sonne und Wetter gebräunt, und in seinem Wesen lag etwas Unstetes, Zigeunerhaftes. Trotz seiner rauhen Kleidung und seiner Pelzkappe machte er einen gebildeten, gewandten Eindruck. Seine Hände waren zwar braun und hart, aber doch wohlgeformt.

»Nun, wie steht es?« fragte Mallalieu, der mitten im Zimmer stehenblieb und sich umsah. »Was hat er denn zu der Sache zu sagen?«

Harborough wandte sich an Mallalieu.

»Ich habe dem Inspektor die Sache schon zweimal erklärt. Ich weiß nicht, was dort oben passiert ist, und bin ebenso unschuldig an dem Mord wie Sie. Gestern abend um acht bin ich von Hause fortgegangen, war die ganze Nacht unterwegs und kam heute morgen um sechs zurück. Sobald ich hörte, was geschehen war, ging ich direkt hierher. Nun möchte ich Sie einmal etwas fragen, Herr Bürgermeister. Glauben Sie denn, ich wäre noch einmal zurückgekommen, wenn ich Kitely wirklich umgebracht hätte?«

»Möglich wäre es doch«, entgegnete Mallalieu. »Man kann nie bestimmt sagen, wie sich die Leute in einem solchen Fall verhalten. Haben Sie sonst noch etwas zu sagen?«

»Die Beamten erzählten mir, daß Kitely mit einem Strick erwürgt wurde, den man von meiner Schlächterleine abgeschnitten hat. Wenn ich der Täter gewesen wäre, hätte ich doch wohl nicht ein so klares Beweisstück zurückgelassen!«

»Sie könnten ja gestört worden sein und keine Zeit mehr gehabt haben, den Strick von dem Toten abzuschneiden«, sagte Mallalieu achselzuckend.

»Ja, aber Sie müssen doch einmal die Wahrscheinlichkeit berücksichtigen«, rief Harborough aufgebracht. »Und die Wahrscheinlichkeit spricht für meine Unschuld! Der Täter hat natürlich den Strick von meiner Leine abgeschnitten, um mich in Verdacht zu bringen. Das war ja leicht genug. Es wird schon noch herauskommen, ob das richtig ist.«

Mallalieu wechselte einen Blick mit dem Inspektor und sah dann Harborough an.

»Nun hören Sie einmal zu. Sie können die Sache sehr einfach aufklären, soweit es Sie angeht. Beantworten Sie mir nur eine einfache Frage. Wo waren Sie die ganze Nacht?«

Ein tiefes Schweigen herrschte im Raum, und alle sahen gespannt auf Harborough. Aber die Züge des Mannes verhärteten sich, und er schüttelte den Kopf.

»Das sage ich nicht. Die Wahrheit wird auch ohne das zur rechten Zeit herauskommen. Es ist nicht nötig, daß ich angebe, wo ich während der Nacht war. Das ist meine Sache und geht niemand etwas an.«

»Sie wollen es also nicht sagen?« fragte Mallalieu.

»Nein«, erwiderte Harborough hartnäckig.

»Sie sind in Gefahr, wie Sie wissen«, bemerkte Mallalieu.

»Ihrer Meinung nach«, entgegnete Harborough halb ironisch. »Es gibt auch noch ein Gesetz in diesem Lande! Sie können mich verhaften, wenn Sie wollen, aber daß ich den Mann umgebracht habe, müssen Sie erst beweisen! Und ich will Ihnen sagen, daß ein Wort von mir genügte, um meine Unschuld klarzulegen«, fügte er verächtlich hinzu.

»Nun, dann sagen Sie dieses Wort doch!«

»Warum soll ich das tun? Was liegt denn gegen mich vor? Nichts! Es ist nur gut, daß Sie nicht allein zu urteilen haben, sondern die Geschworenen. Glauben Sie denn, ein Gericht könnte einen Mann auf Grund Ihrer ärmlichen Angaben hin verurteilen? Das ist direkt irrsinnig!«

Der Polizist, der Bent und Brereton begleitet hatte, versuchte schon seit einiger Zeit, die Aufmerksamkeit des Inspektors auf sich zu lenken. Als es ihm schließlich gelang, winkte er seinen Vorgesetzten in eine ruhige Ecke und zog dort etwas aus der Tasche. Die beiden betrachteten es eifrig und sprachen dann leise miteinander.

Mallalieu sah Harborough mit einem durchdringenden Blick an.

»Mein Lieber«, sagte er schließlich, »Sie machen einen großen Fehler. Wenn Sie nicht sagen können oder wollen, was Sie von gestern abend bis heute morgen gemacht haben, dann –«

Der Polizeiinspektor trat jetzt vor und hielt etwas in der Hand. Auch er sah Harborough scharf an.

»Heben Sie einmal Ihren linken Fuß.«

Harborough gehorchte ärgerlich. Der Inspektor öffnete die Hand und paßte ein kleines Eisen an den Absatz.

»Das haben Sie verloren, Harborough!« rief er. »Es ist in der Nähe des Tatortes gefunden worden, und Sie müssen es während der letzten Stunden verloren haben, denn es ist noch ganz blank, kein bißchen Rost daran. Was haben Sie dazu zu sagen?«

»Nichts«, entgegnete Harborough trotzig. »Das Eisen paßt sicher zu meinem Stiefel, ich habe gestern schon bemerkt, daß es lose war. Was hat das schließlich zu bedeuten, wenn es oben im Walde gefunden wurde? Als ich gestern abend ausging, kam ich dort vorbei. Sie wollen doch nicht etwa das Leben eines Menschen von einer solchen Kleinigkeit abhängig machen?«

Mallalieu winkte den Inspektor beiseite und sprach mit ihm. Gleich darauf verließ er das Büro, und der Inspektor wandte sich an die Leute am Kamin.

»Mr. Harborough, ich muß Sie leider verhaften. Ich hoffe, daß es Ihnen gelingt, einen Alibibeweis zu liefern.«

»Ich hatte nichts anderes erwartet«, erwiderte Harborough. »Ich mache Ihnen auch keinen Vorwurf – auch sonst niemand. Mr. Bent, würden Sie so liebenswürdig sein und mir einen Gefallen tun? Gehen Sie bitte zu meiner Tochter. Ich bin heute morgen gar nicht ins Haus gekommen. Sagen Sie ihr, sie hätte nichts zu fürchten.«

»Natürlich, das tue ich sehr gerne«, antwortete Bent. »Ich gehe sofort zu ihr.«

Er nahm Brereton mit sich, und die beiden traten auf die Straße hinaus.

»Nun, was hältst du von der ganzen Sache?«

»Ich halte den Mann für unschuldig«, sagte Brereton nachdenklich. »Schon allein seinem Aussehen nach möchte ich behaupten, daß er nicht der Mörder ist. Es spricht allerdings viel gegen ihn.«

»Hältst du es denn für richtig, daß er verhaftet wurde?«

»Es ist genug Material gegen ihn vorhanden, um das zu begründen. Sicher wird er bei der ersten Verhandlung vor dem Polizeigericht nicht freigelassen werden. Man wird die Anklage wegen Mords gegen ihn erheben, und er kommt in Untersuchungshaft. Alles das ist sicher, wenn er nicht vernünftig wird und sagt, wo er in der fraglichen Zeit gewesen ist.«

»Er muß doch einen guten Grund haben, es zu verschweigen. Vielleicht kann ihn seine Tochter überreden.«

»Kommt sie dort nicht gerade auf uns zu?«

Bent sah auf und bemerkte Avice Harborough, die ihnen entgegenkam. Sie sprach ernst mit einem Herrn in mittleren Jahren, der ihr offenbar interessiert zuhörte.

»Ja, das ist sie. Der Herr neben ihr ist Mr. Northrop – Mallalieu war gestern abend zum Kartenspiel bei ihm. Sie ist die Erzieherin der beiden jüngeren Kinder von Northrop. Wahrscheinlich hat sie gehört, was vorgefallen ist, und Northrop gebeten, sie zur Polizei zu begleiten. Er ist auch Friedensrichter.

Avice hörte ungeduldig zu, als Bent seine Botschaft ausrichtete. Zweimal wiederholte er, daß ihr Vater gesagt hätte, sie brauchte nichts zu fürchten.

»Ich fürchte mich auch nicht«, entgegnete sie. »Ich bin nur besorgt, weil mein Vater immer so hartnäckig ist. Ich kenne ihn und weiß, daß er schweigt, wenn er einmal gesagt hat, daß er nicht sprechen will.«

»Wird er sich auch Ihnen gegenüber nicht äußern?« fragte Brereton.

Sie schüttelte den Kopf.

»Einige Male im Jahr geht er eine Nacht fort, und ich erfahre nie, wohin er geht. Es handelt sich um irgendein Geheimnis. Er wird es nicht sagen, selbst wenn es bis zum Äußersten kommt. Wir haben nur eine Möglichkeit, ihn zu retten.«

»Und die wäre?« fragte Bent.

»Wir müssen den wirklichen Mörder finden!« rief Avice und sah Brereton mit einem schnellen Blick an. »Mein Vater ist ebenso unschuldig wie ich. Wenn Sie mir helfen wollen, so suchen Sie den Mann, der das Verbrechen beging. Nur auf diesem Wege können wir seine Unschuld beweisen. Die Polizei ist auf der falschen Fährte und wird dadurch viel wertvolle Zeit verlieren!«

»Sie hat recht«, sagte Northrop, ein klug aussehender, verhältnismäßig kleiner Herr, der aufgeregt gestikulierte. »Sie kennen doch unsere Polizei, Mr. Bent. Wenn die Leute erst einmal eine Spur verfolgen, dann kümmern sie sich um weiter nichts mehr. Während sie ihre Bemühungen auf Harborough konzentrieren, läuft der wirkliche Mörder frei herum und lacht die Polizei aus.«

»Aber was könnten wir tun?« fragte Bent. »Wo sollen wir anfangen?«

»Zunächst müßte man einmal Kitelys Vorleben erforschen«, erwiderte Avice. »Wer weiß überhaupt etwas von ihm? Vielleicht hatte er Feinde, die ihn bis hierher verfolgten! Finden Sie das Motiv zu dieser Tat heraus!« Sie machte eine Pause und sah halb bittend, halb fragend auf Brereton. »Ich hörte, daß Sie ein Rechtsanwalt sind – wissen Sie denn keinen Rat?«

»Ich will gerne helfen. Vor allem muß Ihr Vater verteidigt werden; ich werde seine Verteidigung übernehmen, und zwar kostenlos.«

»So ist es richtig!« rief Northrop.

»Aber wir müssen uns an die gesetzliche Vorschrift halten«, fuhr Brereton fort. »Ich bin in diesem Bezirk nicht zugelassen. Sie müssen also zu einem hiesigen Rechtsanwalt gehen. Mr. Bent nimmt Sie zu seinem Anwalt mit, und der kann mich auffordern, die Verteidigung zu übernehmen. Dann kann ich hier vor den Behörden als offizieller Verteidiger Ihres Vaters auftreten. Bent, erledige die Sache bitte. Ich möchte inzwischen ein paar Worte mit diesem Herrn sprechen.«

Er führte Northrop einige Schritte nach der Anhöhe zu.

»Sagen Sie mir bitte, was Sie von diesem Mr. Harborough wissen.«

»Er ist ein merkwürdiger Mann, ein Hans in allen Gassen. Wenn Sie sich mit ihm unterhalten, erkennen Sie gleich, daß er in gewisser Weise gebildet ist. Seine Tochter haben Sie ja eben gesehen. Es ist alles sehr geheimnisvoll um ihn herum, aber ich glaube niemals, daß er das Verbrechen begangen hat! Ich kam gestern ungefähr Viertel vor zehn durch den Wald dort oben. Ich habe nichts gehört und gesehen, bin allerdings sehr schnell gegangen, weil ich mich mit dem Bürgermeister für zehn Uhr verabredet hatte und schon fürchtete, daß ich zu spät kommen würde. Aber ich habe wirklich nicht das geringste Geräusch gehört, nicht einmal ein Zweig hat geknackt. Der Mord muß schon vorher passiert sein.«

»Das glaube ich auch. Bei der Verhandlung sehen wir uns ja wieder.«

Er wandte sich um und folgte Bent und Avice in einem gewissen Abstand.

»Zwei Einwohner von Highmarket haben sich also um die fragliche Zeit in der Nähe des Tatortes aufgehalten oder sind wenigstens dort vorbeigegangen«, dachte er bei sich. »Mallalieu kam um zehn Uhr zu Northrop, um Karten zu spielen, und Cotherstone kehrte um diese Zeit nach Hause zurück, nachdem er eine Stunde lang fortgewesen war.«

 


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