Joseph Smith Fletcher
Der Stadtkämmerer
Joseph Smith Fletcher

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12. Kapitel.

Väterliche Sorge.

Einen Augenblick sahen sich Brereton und der Beamte schweigend an.

»Sagen Sie niemand etwas davon«, erwiderte Brereton halblaut, als die beiden anderen wieder nähertraten. »Wir sprechen später noch darüber. Das mag von großer Bedeutung sein.«

»Wir haben aber bei Harborough keine Taschenlampe gefunden, trotzdem er die ganze Nacht aus war.«

Brereton warf ihm einen warnenden Blick zu.

Pett und der Polizeiinspektor empfahlen sich bald darauf, und Bent ließ sich wieder lachend in seinem Sessel nieder.

»Das ist ja ein merkwürdiges und unerwartetes Legat! Ich weiß nicht, wie der alte Mann auf den Gedanken kam, daß ich für dergleichen etwas übrig habe.«

»Vielleicht stehen allerhand interessante Dinge darin«, meinte Brereton, als Bent das Buch in den Schrank stellte. »Verwahre es nur gut. Welchen Eindruck hattest du von diesem Mr. Christopher Pett?«

»Ein geriebener Bursche! Und was hältst du von ihm?«

»Genau dasselbe. Ich möchte nur wissen, was der mit Kitely zu verhandeln hatte. Wahrscheinlich müssen wir später noch darauf zurückkommen, im Augenblick sind andere Dinge zu bedenken.«

Er änderte das Gesprächsthema, denn die Vermutung, die ihn dauernd quälte, konnte er unmöglich mit seinem Freunde besprechen. Hatten Cotherstone und Mallalieu etwas mit Kitelys Tod zu tun? Die Frage beschäftigte ihn vollkommen, und er dachte mehr daran als an die Verteidigung Harboroughs.

»Ich würde viel darum geben«, sagte er zu sich selbst, als er zu Bett ging, »wenn ich einen Augenblick in Cotherstones und Mallalieus Gehirn sehen könnte. Ich möchte einen Eid darauf leisten, daß die beiden etwas wissen! Wahrscheinlich sind sie froh, daß niemand davon erfährt!« –

Hätte Brereton seine Absicht ausführen können, so wäre er wohl sehr nachdenklich geworden. Mallalieu und Cotherstone beobachteten sich gegenseitig. Sie hatten die Verhandlung vor dem Polizeigericht angehört und mit größter Genugtuung festgestellt, daß nichts verlautete, was ihnen ungünstig war. Nachdem mehrere Tage vergangen waren und die Nachforschungen der Polizei immer mehr Material gegen Harborough ergaben, hielten sich Mallalieu und Cotherstone für sicher. Sie glaubten, daß ihr Geheimnis mit dem alten Kitely begraben sei. Aber in ihnen selbst war es lebendig genug, und sie verdächtigten sich gegenseitig. Cotherstone hielt Mallalieu für den Täter, und der Bürgermeister war davon überzeugt, daß Cotherstone den Mord begangen hatte. Sie sahen sich beide heimlich von der Seite an, sprachen nur kurz miteinander, und wenn sie zufällig allein waren, herrschte eine gedrückte Stimmung.

Obwohl die beiden schon so lange Teilhaber waren, hatten sie doch sonst nichts gemeinsam. Sie waren wohl vorzügliche Partner in geschäftlichen Angelegenheiten, wenn es galt, Geld zu verdienen; aber in Geschmack, Temperament und Charakter bestanden große Verschiedenheiten zwischen ihnen. Und die letzten Ereignisse brachten es nun mit sich, daß sie einander nicht mehr vertrauten. Mallalieu hätte Cotherstone niemals seinen Verdacht mitgeteilt; denselben Standpunkt nahm Mallalieu Cotherstone gegenüber ein. Aber dieses Schweigen machte sie immer nervöser und reizbarer, je länger es dauerte. Besonders Cotherstone war überempfindlich geworden, und die abgewandten Blicke und einsilbigen Antworten Mallalieus, dem er nicht aus dem Wege gehen konnte, brachten ihn fast zur Verzweiflung. Und als sie eines Tages allein im Büro waren, konnte er sich nicht mehr beherrschen. Wegen einer kleinen Bemerkung verlor er die Fassung und fuhr Mallalieu ärgerlich an.

»Verdammt noch einmal, du glaubst, daß ich Kitely um die Ecke gebracht habe! Warum sagst du es dann nicht, damit ich mich einmal mit dir darüber aussprechen kann?«

Mallalieu stand am Kamin, um sich ein wenig zu wärmen. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und sah seinen Partner verächtlich an.

»Ich möchte dir nur den Rat geben, kaltes Blut und klaren Kopf zu behalten«, sagte er mit erzwungener Ruhe. »Es gibt außer mir noch andere Leute, die sich allerhand denken, wenn du dich albern benimmst.«

»Du bist also wirklich davon überzeugt, daß ich es getan habe?« rief Cotherstone hitzig. »Zum Donnerwetter, das habe ich schon längst gemerkt! Immer siehst du mich an, als ob – als ob –«

»Sei still!« unterbrach ihn Mallalieu. »Ich kann dich und jeden anderen so ansehen, wie es mir paßt. Es ist überhaupt kein Grund zur Aufregung vorhanden. Ich werde dich niemals verraten. Wenn du dich entschließen kannst, die Sache einfürallemal zu regeln, will ich kein Wort darüber sagen. Es sei denn – du verstehst mich doch?«

»Was soll ich denn verstehen?« schrie Cotherstone.

»Es sei denn, daß ich dazu gezwungen würde. Ich will nichts mit dem Morde zu tun haben. Jeder für sich selbst, das ist ein ganz brauchbarer Wahlspruch. Aber ich sehe im Augenblick noch nicht, daß irgendwelche Gefahr drohen könnte. Ich glaube auch nicht, daß es jemals soweit kommt. Es ist mir gleich, wenn ein anderer daran glauben muß. Wenn er an dieser Sache unschuldig ist, hat er sicher etwas anderes auf dem Gewissen. Auf jeden Fall will ich alles tun, um dich zu schützen.«

Cotherstone geriet durch diese Worte noch mehr außer Fassung. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und warf die Feder zu Boden.

Mallalieu betrachtete ihn nur ironisch und ging dann zur Tür.

»Cotherstone, du benimmst dich direkt kindisch! Wenn du noch weiter solchen Unsinn machst, dann erfahren es auch andere Leute. Die halten aber nicht den Mund wie ich. Beruhige dich doch. Vor allem kaltes Blut!«

»Verdammt noch einmal, wo warst du denn in jener Nacht? Das möchte ich gerne wissen, oder ich möchte es lieber nicht wissen! Du bist nicht sicherer als ich, und wenn ich sagte, was ich wüßte –«

Mallalieus Hand lag schon auf der Türklinke. Aber er drehte sich noch einmal um und sah seinem Partner voll ins Gesicht.

»Wenn du etwas sagst, was du weißt, oder dir einbildest zu wissen«, sagte er ruhig, »dann gibt es einen Zusammenbruch in deiner Familie. Ich dachte, es läge in deinem Interesse, daß geschwiegen wird, schon um deiner Tochter willen. Du bist jetzt nicht ganz bei Sinnen!«

Mit dieser Bemerkung verließ er das Büro. Cotherstone sank bebend vor Wut in den nächsten Stuhl und verfluchte sein Schicksal. Nach einer Weile kam er wieder zu sich und dachte über alles nach. Unwillkürlich beschäftigten sich seine Gedanken mit Lettie.

Mallalieu hatte recht – natürlich hatte er recht. Wenn er irgendwie etwas sagte, vernichtete er damit die Zukunft seiner Tochter. Cotherstone betrachtete alles rein äußerlich und konnte nicht glauben, daß ein ehrgeiziger junger Mann wie Windle Bent es über sich bringen würde, die Tochter eines früheren Zuchthäuslers zu heiraten. Bent würde sicher einen Entschuldigungsgrund finden, um seine Beziehungen zu der Familie Cotherstone zu lösen, wenn solche unangenehmen Wahrheiten ans Licht kommen sollten.

Nein, was sich auch immer ereignen mochte, er mußte das Geheimnis streng hüten, bis Bent und Lettie verheiratet waren. Wenn das erreicht war, wollte er sich wenig darum kümmern, was die Zukunft bringen würde. Bent konnte ja seiner Frau nichts zur Last legen. Cotherstone versuchte mit allen Mitteln, sich zu beruhigen, um wieder klar und kühl überlegen zu können. Noch am selben Nachmittag besuchte er seinen Arzt, und als er nach Hause kam, war sein Plan gefaßt.

Er fand Bent bei Lettie und nahm die beiden sofort mit sich in sein Privatzimmer, das im allgemeinen niemand außer ihm betreten durfte. Er ließ sich dort in einem Sessel nieder und bat sie, sich in seine Nähe zu setzen.

»Es trifft sich gut, daß ich euch zusammen sprechen kann. Ich habe euch etwas zu sagen – du brauchst keine Sorge zu haben, Lettie, aber ich möchte doch bemerken, daß es ernst steht. Bent wird mich verstehen. Ihr habt vorläufig eure Hochzeit auf das nächste Frühjahr festgesetzt, das wären noch sechs Monate. Ich möchte euch nun bitten, eure Pläne zu ändern und sobald als möglich zu heiraten.«

Er sah Lettie eindringlich an und erwartete eigentlich, daß sie sehr erstaunt sein würde. Aber darin täuschte er sich. Sie fragte ihren Vater nur ruhig, welchen Grund er dafür habe.

Cotherstone fühlte sich erleichtert, als er sah, daß er die Sache in aller Ruhe mit den beiden besprechen konnte.

»Ich habe mich in letzter Zeit nicht recht wohl gefühlt. Während meines ganzen Lebens habe ich mich überarbeitet, und alles geht bis zu einer gewissen Grenze. Aber am Schluß kommt der Zusammenbruch. Das hat mir der Arzt heute gesagt.«

»Warst du beim Arzt?« rief Lettie.

»Ja, heute nachmittag. Aber du brauchst nicht zu erschrecken. Er sagt, es ist hohe Zeit, daß ich mich einmal erhole. Ruhe und Klimawechsel sind nötig. Ich habe mich deshalb entschlossen, mich vom Geschäft zurückzuziehen. Warum sollte ich das auch nicht tun? Ich habe mir doch ein großes Vermögen erworben, größer, als die meisten Leute ahnen. Morgen werde ich mit Mallalieu über die Sache sprechen. Mein Entschluß ist unwiderruflich. Dann möchte ich ein oder zwei Jahre auf Reisen gehen, denn ich hatte schon immer den Wunsch, einmal eine Reise um die Welt zu machen. Aber vorher möchte ich natürlich gerne sehen, daß ihr verheiratet seid. Was sagt ihr nun dazu?«

Letties klarer Verstand zeigte sich in ihrer Antwort. Sie hatte ihrem Vater aufmerksam zugehört und wandte sich nun an Bent, als ob sie etwas Nebensächliches fragte.

»Würden dadurch nicht deine ganzen Pläne für das nächste Jahr über den Haufen geworfen? Sieh einmal, Vater, Windle hat doch nun alles so arrangiert. Frühjahr und Sommer wollte er Urlaub vom Geschäft nehmen, und wir wollten dann sechs Monate lang auf dem Kontinent reisen. Das müßte alles vollkommen geändert werden.«

»Das ließe sich schon einrichten«, unterbrach sie Bent. Er beobachtete Cotherstone, denn er hatte den Eindruck, daß dieser etwas zurückhielt und noch nicht die volle Wahrheit über seine Gesundheit gesagt hatte. »Ich kann schließlich auch im Winter Urlaub nehmen, Lettie.«

»Aber ich möchte nicht gerne im Winter reisen«, widersprach sie. »Außerdem habe ich noch meine ganze Aussteuer zu besorgen.«

»Das läßt sich doch schnell erledigen.«

Aber Lettie hatte noch viele andere Einwände.

»Du kannst ja ruhig verreisen, Vater«, sagte sie schließlich. »Deshalb brauchen wir doch den Tag unserer Hochzeit nicht zu ändern.«

»Wenn es darauf ankommt, können wir aber auch schon morgen heiraten«, meinte Bent.

Lettie war ärgerlich über ihren Verlobten, warf den Kopf in den Nacken und verließ das Zimmer. Die beiden Männer sahen sich an.

»Du mußt mit ihr sprechen«, bat Cotherstone. »Die Mädchen haben immer so komische Gedanken über Aussteuer und Brautjungfern und den ganzen Kram.«

»Ich werde es ihr schon klarmachen«, entgegnete Bent und legte die Hand auf Cotherstones Schulter. »Haben Sie auch alles gesagt?«

Cotherstone sah nach der Tür und sprach dann leise.

»Ich bin herzleidend. Überarbeitet, sagt der Doktor. Ich muß mich zur Ruhe setzen und in ein anderes Klima gehen. Aber bitte sagen Sie davon nichts zu Lettie. Sie begreifen doch, daß ich mich sicherer fühle, wenn die Hochzeit vorüber ist?«

Bent war ein gutmütiger Mensch und glaubte seinen Schwiegervater zu verstehen. Es war doch nur zu natürlich, daß sich dieser Mann um die Zukunft seines einzigen Kindes sorgte. Er wollte einmal ernstlich mit Lettie über eine baldige Hochzeit sprechen.

Am Abend erzählte er Brereton alles, als er nach Hause kam, und fragte ihn, wie man eine Lizenz zu einer sofortigen Eheschließung erlangen könnte. Brereton erklärte ihm, was er darüber wußte. Diese neue Entwicklung war ihm außerordentlich interessant und wertvoll, aber darüber sagte er nichts zu seinem Freunde.

 


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