Joseph Smith Fletcher
Der Stadtkämmerer
Joseph Smith Fletcher

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13. Kapitel.

Der anonyme Brief.

Eine Woche später war Brereton in der Lage, alles zusammenzufassen, was sich inzwischen ereignet hatte. Harborough hatte auch bei den weiteren Verhandlungen die Auskunft darüber verweigert, wo er in der Mordnacht gewesen war. Infolgedessen hatte man die Anklage wegen Mordes gegen ihn erhoben. Nun mußte Brereton bis zu den Schwurgerichtssitzungen in Norcaster warten, und es blieben ihm daher noch drei Wochen Zeit, um seine Verteidigung vorzubereiten oder die Schuld eines andern zu beweisen.

Christopher Pett hatte es als Rechtsvertreter des Ermordeten für seine Pflicht gehalten, in Highmarket zu bleiben, bis die Verhandlungen vor dem Polizeigericht und die Totenschau zu Ende geführt waren. Bei beiden Gelegenheiten war er dadurch aufgefallen, daß er viele unnötige Fragen stellte. Breretons Abneigung gegen ihn war dauernd gewachsen. Vor allem waren ihm Petts Vertraulichkeit und seine unterwürfige Höflichkeit zuwider.

»Ich wundere mich nur, Mr. Brereton«, sagte er einmal, »daß Sie die Vertretung für diesen Mr. Harborough angenommen haben. Sie könnten doch in London inzwischen viel mehr ausrichten. Und dabei hat er nicht einmal Aussicht, der kommt sicher an den Galgen. Ich weiß schon, was die Geschworenen in Norcaster sagen werden. Die ziehen sich gar nicht erst zur Beratung zurück, sondern sprechen sofort ihr Schuldig.«

»Wenn der richtige Täter auf der Anklagebank sitzt, wird das schon stimmen, Mr. Pett«, erwiderte der Rechtsanwalt.

»Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß dieser Harborough unschuldig ist? Sie, der eine so große Erfahrung in Kriminalfällen hat!«

»Wir werden ja sehen«, entgegnete Brereton und wandte sich ab. Als Pett die Hand auf seinen Arm legte, runzelte er die Stirn. »Ich möchte nicht weiter mit Ihnen darüber sprechen, ich habe nun einmal meine eigene Ansicht über diesen Fall.«

»Aber Mr. Brereton, einen Augenblick noch«, drängte Pett. »Unter uns gesagt, halten Sie es für möglich, daß noch jemand anders als Täter in Frage kommt?«

»Hat Ihnen Ihre verehrte Tante nicht erzählt, daß ich sie für schuldig halte?« fragte Brereton boshaft. »Sie wissen noch lange nicht alles, was ich weiß!«

Pett trat einen Schritt zurück und sah Brereton unsicher an, denn er wußte nicht, ob dieser die letzten Worte im Ernst oder im Scherz gesprochen hatte. Brereton lachte kurz auf und ging fort.

Brereton nahm die Gelegenheit wahr, noch einmal mit Harborough zu sprechen, ehe dieser wieder ins Gefängnis nach Norcaster gebracht wurde. Er bat ihn noch einmal dringend, seine hartnäckige Haltung aufzugeben.

»Nur wenn es zum Äußersten kommt, werde ich sprechen«, entgegnete Harborough fest. »Und auch dann tue ich es nur um meiner Tochter willen. Ich bin fest davon überzeugt, daß es nicht dazu kommt. Wir haben noch drei Wochen, und in dieser Zeit kann sich viel ereignen.«

»Aber Ihr gesunder Menschenverstand muß Ihnen sagen, daß in einem so verwickelten Fall kaum drei Jahre ausreichen, um die Sache zu klären; in drei Wochen kann ich nicht viel tun.«

»Sie sind doch nicht allein an der Arbeit«, meinte Harborough. »Die Polizei und die Detektive sind doch auch tätig.«

»Die tun nur ihr Bestes, Sie als den Täter hinzustellen. Wenn die erst einmal jemand verhaftet haben, denken sie gar nicht daran, sich nach einem anderen umzusehen. Und wenn Sie mir nicht sagen wollen, wo Sie waren und was Sie in jener Nacht gemacht haben, dann muß ich es selbst herausfinden.«

Harborough sah seinen Anwalt mit einem eigentümlichen Blick an, den dieser nicht verstand.

»Nun gut«, sagte er, »wenn Sie es herausbringen –«

Er brach mitten im Satz ab und gab keine weiteren Erklärungen mehr.

Brereton verließ ihn und ging nachdenklich nach Hause.

»Er gibt also zu, daß man etwas herausfinden könnte«, dachte er. »Und ebenso gibt er zu, daß man es herausbringen kann. Wenn ich nur wüßte, wie ich dahinterkommen könnte!«

Zu Hause überreichte ihm das Dienstmädchen einen eingeschriebenen Brief.

»Er ist inzwischen für Sie angekommen, die Haushälterin hat unterzeichnet.«

Brereton nahm das Schreiben an sich. Es kam ihm sofort der Gedanke, daß es etwas mit dem Fall Harborough zu tun haben könnte. Die Adresse war mit der Maschine geschrieben, und der Brief war in London aufgegeben.

Brereton öffnete vorsichtig den Umschlag und zog einen Quartbogen heraus, auf dem einige in Maschinenschrift geschriebene Zeilen standen. In den Brief waren sechs neue Scheine über je einhundertfünfzig Pfund eingelegt.

Brereton legte die Banknoten beiseite und las den Brief sorgfältig durch.

»An Mr. Gifford Brereton.

Ich habe aus der Zeitung ersehen, daß Sie als Rechtsanwalt die Verteidigung John Harboroughs übernommen haben, der wegen der Ermordung eines gewissen Kitely angeklagt ist. Ich sende Ihnen einliegend die Summe von neunhundert Pfund, die Sie für Harboroughs Verteidigung aufwenden sollen; Sie können nach freiem Ermessen über die Summe verfügen und brauchen in keiner Weise zu sparen, um Harboroughs Unschuld zu beweisen, von der ich fest überzeugt bin. Wenn Sie weiteres Geld brauchen, so annoncieren Sie nur in der Times ›Fond Highmarket braucht Auffüllung‹. Darunter setzen Sie die Anfangsbuchstaben Ihres Namens. Meiner Meinung nach wäre es gut, wenn Sie sofort eine Belohnung von fünfhundert Pfund für denjenigen ausschrieben, durch dessen Angaben der wirkliche Mörder gefaßt und überführt werden kann. Sollte dieses Angebot nicht bald neue Tatsachen zutage fördern, dann verdoppeln Sie die Belohnung. Ich wiederhole noch einmal, daß in dieser Angelegenheit keine Mühe gescheut werden darf. Geld spielt überhaupt keine Rolle. Der Absender dieses Briefes wird sich durch die Zeitungsnachrichten stets auf dem laufenden halten. Geben Sie bitte den Zeitungsleuten alle nötigen Informationen!«

Brereton las diese außerordentliche Mitteilung dreimal, dann steckte er Banknoten und Brief in seine innere Tasche und ging zu der Villa Northrop hinüber, um Miß Avice Harborough zu sprechen.

Er wurde in das Wohnzimmer gebeten. Avice sah bleich und angegriffen aus, als sie eintrat. Er reichte ihr den Brief.

»Ihr Vater hat irgendwo mächtige Freunde«, bemerkte er nur kurz.

Zu seinem Erstaunen schien Avice nicht überrascht zu sein; sie fuhr nur ein wenig zusammen, als sie die Scheine sah, und errötete, als sie den Brief las. Dann gab sie ihm das Schreiben zurück und sah ihn fragend an.

»Es war immer so viel Geheimnisvolles um meinen Vater, daß ich nicht darüber erstaunt bin«, entgegnete sie. »Aber ich bin sehr dankbar, daß der Schreiber an die Unschuld meines Vaters glaubt – das ist für mich das Wesentliche an dem ganzen Brief.«

»Warum tritt er wohl nicht öffentlich auf und beweist sie?«

Avice schüttelte den Kopf.

»Der Schreiber oder die Leute, die hinter ihm stehen, wünschen doch, daß Sie es beweisen sollen. Ich glaube aber sicher, daß er sich im schlimmsten Fall melden würde.«

Brereton sah sie einige Sekunden schweigend an. Vom ersten Augenblick an hatte er sich merkwürdig zu ihr hingezogen gefühlt, und nun kam ihm zum Bewußtsein, daß sein Interesse an ihr größer war, als er sich bis jetzt selbst eingestanden hatte.

»Der Fall Ihres Vaters ist das größte Geheimnis, das mir jemals begegnete«, sagte er plötzlich. »Sie machen sich Sorgen. Tun Sie das nicht, ich bitte Sie darum. Ich will Himmel und Erde in Bewegung setzen, denn ich bin von der Unschuld Ihres Vaters vollkommen überzeugt. Und Sie sehen, daß er mächtige Helfer hat. Ich werde alles tun, was mir hier geraten wird. Ich hätte es selbst schon unternommen, wenn ich ein reicher Mann wäre. Also haben Sie guten Mut, wir kommen vorwärts. Sagen sie jetzt bitte Mr. Northrop, daß Sie mit mir ausgehen möchten. Wir müssen den Rechtsanwalt aufsuchen, damit die Belohnung sofort ausgesetzt wird.«

Als sie zusammen die Hauptstraße der Stadt hinuntergingen, sah Brereton Avice wieder an.

»Sie fühlen sich jetzt besser«, sagte er dann etwas unvermittelt. »Das macht sicher die gute Nachricht.«

»Ja, und vor allem das Bewußtsein, daß ich selbst etwas tun kann. Es ist so schrecklich, zur Untätigkeit verurteilt zu sein.«

»Ich verstehe Sie sehr gut. Aber ich wüßte etwas, was Sie für Ihren Vater tun könnten. Neulich sah ich Sie auf einem Rad. Geben Sie doch den Unterricht einige Tage auf, fahren Sie in der Umgegend umher und versuchen Sie herauszubekommen, wo Ihr Vater in jener Nacht war. Daß er es uns nicht sagen will, ist immer noch kein Grund, es nicht selbst herauszufinden. Irgendwo muß er doch gewesen sein, und irgendwer muß ihn gesehen haben. Wir wollen selbst mit den Nachforschungen anfangen. Sie kennen doch die hiesige Gegend ganz genau? Was sagen Sie zu meinem Vorschlag.«

»Das würde ich gerne tun. Northrops sind sehr liebenswürdig zu mir, sie werden das sicher verstehen. Morgen früh beginne ich gleich. Ich will alle Dörfer zwischen den Hügeln und der See aufsuchen.«

»Das ist vorzüglich. Sicher werden Sie auch Erfolg haben.«

»Ich wüßte nicht, was wir hätten tun sollen, wenn Sie nicht im rechten Augenblick gekommen wären. Wir werden das nie vergessen. Mein Vater hat zwar einen seltsamen Charakter, aber er ist nicht das, wofür ihn die Leute in Highmarket halten. Sie werden sehen, daß er sich Ihnen dankbar erweist.«

»Erst muß ich aber etwas tun, um mir seinen Dank zu verdienen«, entgegnete Brereton.

Bents Rechtsanwalt, den sie zu Rate zogen, war sehr damit einverstanden, daß man eine Belohnung aussetze. Er machte große Augen, als er den anonymen Brief und die Banknoten sah.

»Ihr Vater ist doch tatsächlich ein sonderbarer Mensch«, sagte er zu Avice. »Haben Sie wirklich keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat?«

»Nicht im mindesten.«

»Dann wollen wir also die Anschläge und die Zirkulare drucken lassen. Fünfhundert Pfund sind eine schöne Summe. Manche Leute in Highmarket würden ihre eigene Mutter für die Hälfte des Geldes verkaufen. Ich sehe schon, daß sich die ganze Bevölkerung in ein Heer von Amateurdetektiven verwandelt!« –

Am nächsten Tage wurde überall in Highmarket die Bekanntmachung verbreitet. Sie wurde in allen Läden und in allen Büros aufgehängt. Einer der ersten Leute, die sie lasen, war Herbert Stoner von der Firma Mallalieu & Cotherstone.

 


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