Joseph Smith Fletcher
Der Stadtkämmerer
Joseph Smith Fletcher

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7. Kapitel.

Nächtliche Tätigkeit.

Von der kleinen Villenkolonie am Fuß des Waldhügels hatte man nur wenige Minuten bis zur Polizeistation am Ende der Hauptstraße zu gehen. Mallalieu war ein guter Fußgänger und hatte diese Entfernung schnell zurückgelegt. Aber während dieser kurzen Zeit kam er zu einem Schluß, denn er konnte ebenso schnell denken wie gehen.

Es stand für ihn fest, daß Cotherstone Kitely umgebracht hatte. Dieser Verdacht war ihm sofort gekommen, als er von dem Mord hörte. Und er war vollkommen davon überzeugt, als Bent erwähnte, daß Cotherstone nach dem Essen eine Stunde lang fortgegangen war. Zweifellos hatte sein Freund den Kopf verloren und diese Wahnsinnstat begangen. Es war nun seine Pflicht, Cotherstone zu beschützen und zu behüten. Himmel und Erde mußten in Bewegung gesetzt werden, damit der Verdacht nicht auf diesen Mann fiel. Denn wenn Cotherstone etwas zustieß, hatte dies natürlich auch Folgen für ihn selbst – und er hatte die Absicht, sich in jeder Weise zu wahren. Es war ganz gleich, ob ein Unschuldiger verurteilt wurde, wenn nur Cotherstone frei ausging.

Von vornherein mußte er die Tätigkeit der Polizei in eine bestimmte Richtung lenken, die Fäden selbst in der Hand behalten und den Gang der Untersuchung leiten. Harborough war der Mann, dem man zunächst einmal das Verbrechen aufbürden konnte. Mallalieu war gerade noch zur rechten Zeit benachrichtigt worden, um noch eingreifen zu können. Er kannte seine Macht und setzte ein unbegrenztes Vertrauen in seine Fähigkeit, alles in die richtige Bahn zu bringen. Diese Nacht wollte er opfern, um den Plan durchzuführen, der sich immer mehr und mehr in seinem Kopfe formte.

Während er in seiner Wohnung aufmerksam der Erzählung Bents lauschte, rekonstruierte er sich bereits den Mord, denn er konnte zu gleicher Zeit zuhören und denken. Niemand kannte Cotherstone so gut wie er. Der Mann war verschwiegen und klug, wußte sich stets zu helfen und hatte Erfindungsgabe. Wahrscheinlich hatte er sich in den frühen Abendstunden den ganzen Mordplan zurechtgelegt, und da er mit den Gewohnheiten seines Mieters vertraut war, wußte er auch genau, wann und wo er Kitely überfallen konnte. Den Strick aus Harboroughs Schuppen zu holen, war ein Meisterstück für sich. Verteufelt schlau! dachte Mallalieu. Die Sache mußte Cotherstone nicht allzu schwer geworden sein. Es war eigentlich eine glänzende Idee gewesen! Natürlich kannte Cotherstone Harboroughs Haus und Schuppen. Er kam ja häufig genug dort vorbei. Von der Gartenhecke aus hatte er wahrscheinlich unzählige Male die graue Leine an dem Nagel hängen sehen. Und was war leichter, als in Harboroughs Garten einzudringen und ein Stück davon abzuschneiden? Daß er den Strick nachher nicht von dem Hals seines Opfers entfernt hatte, war der beste Beweis für seine Schlauheit, denn dadurch hatte er von Anfang an den Verdacht auf einen Mann gelenkt, der in einem sonderbaren Ruf stand. Wenn Cotherstone nur die nötigen Nerven besaß, um durchzuhalten! Hoffentlich spielte ihm sein Gewissen nicht hinterher einen Streich. Aber da konnte er ja dann helfen. So unschuldig Harborough auch seiner Meinung nach war, der Gang der Untersuchung mußte gegen ihn gerichtet werden; sein Leben galt nichts im Vergleich zur Sicherheit von Mallalieu und Cotherstone.

Der Sergeant hatte dem Inspektor eben Bericht erstattet, als der Bürgermeister ankam.

»Ich habe schon alles erfahren«, erklärte Mallalieu und trat schnell näher. »Mr. Bent hat es mir erzählt. Wo ist denn der Strick?«

Der Sergeant zeigte auf die Leine, die auf einem braunen Papierbogen auf einem Seitentisch lag. Mallalieu nahm sie in die Hand und wandte sich dann an den Polizeiinspektor.

»Haben Sie schon etwas unternommen?« fragte er scharf.

»Noch nicht, Herr Bürgermeister. Wir haben eben beraten, was man unternehmen könnte.«

»Ich denke, das ist doch klar!« entgegnete Mallalieu. »Vor allem muß zweierlei geschehen. Läuten Sie Norcaster und High Gill an und geben Sie die Personalbeschreibung Harboroughs durch. Er wird wahrscheinlich von einem der beiden Plätze aus mit dem Zuge fortkommen wollen. Bitten Sie die Polizei in Norcaster, uns einige Detektivbeamte zur Aufklärung dieses Falles zur Verfügung zu stellen. Sie möchten die Leute sofort per Auto herschicken. Und dann alarmieren Sie vor allem Ihre eigenen Leute! Der Tatort oben muß abgesperrt werden, damit die Leute nicht dort herumtrampeln und jede Spur zerstören. Ferner stellen Sie einen Posten an Harboroughs Haus auf, im Falle er kühn genug sein sollte, noch einmal zu erscheinen. Wenn er das wagt, wird er natürlich sofort verhaftet. Also los!«

»Sind Sie denn davon überzeugt, daß es Harborough ist?« fragte der Inspektor.

»Na, der Augenschein spricht doch gegen ihn. Auf jeden Fall ist es Ihre Pflicht, ihn erst einmal festzunehmen. Kann er sein Alibi nachweisen, um so besser. Nun telefonieren Sie aber doch endlich und sorgen Sie dafür, daß wir Hilfe von Norcaster bekommen! Wir selbst haben zu wenig Beamte hier.«

Der Inspektor eilte aus dem Büro, und Mallalieu wandte sich an den Sergeanten.

»Ich hörte von Mr. Bent, daß Kitelys Haushälterin erklärte, der alte Mann sei heute mittag zur Bank gegangen und habe dort Geld abgehoben. Stimmt das?«

»Ja, er hat seine vierteljährliche Pension abgeholt. Miß Pett wußte aber nicht, wieviel es war.«

»Aber sie glaubt doch, daß er das Geld bei sich trug, als er überfallen wurde?«

»Sie sagte, daß er im allgemeinen immer viel Geld bei sich trug, aber heute sei es außergewöhnlich viel gewesen.«

»Das können wir ja bald feststellen. Ich werde zum Bankdirektor gehen und ihn fragen. Holen Sie Ihre Leute zusammen, wir haben jetzt keine Zeit zu schlafen. Sie hätten schon längst oben am Tatort Posten aufstellen sollen.«

»Ich habe einen Mann bei Kitelys und einen bei Harboroughs Haus gelassen. Hier in der Nähe wohnen noch zwei weitere Beamte, die will ich gleich herholen.«

»Ja, tun Sie das«, befahl Mallalieu. »Ich bin bald wieder hier.«

Er eilte die Hauptstraße entlang und kam bald zu einem altmodischen Gebäude in der Nähe des Rathauses, in dem sich die einzige Bank der kleinen Stadt befand. Auch der Bankdirektor wohnte hier. Die Straßen waren leer, und als Mallalieu klingelte und zu gleicher Zeit laut klopfte, klang das Echo unheimlich durch die Stille der Nacht. Gleich darauf öffnete sich oben ein Fenster. Mallalieu fuhr nervös zusammen.

Der Bankdirektor eilte in Pantoffeln und Schlafrock zur Haustür, um den mitternächtlichen Besucher einzulassen. Er sah den Bürgermeister bestürzt an, als er von dem Grund seines Kommens hörte.

»Ja, es stimmt«, sagte er, »Kitely war heute gegen Mittag auf der Bank – ich habe ihn selbst abgefertigt. Es war sein zweiter Besuch, nachdem er sich hier niedergelassen hat. Das erstemal kam er zu uns, kurz nachdem er das Haus von Mr. Cotherstone gemietet hatte, und wollte seine vierteljährliche Pension abheben. Er sagte mir dann, daß er ein früherer Detektiv sei und sich jetzt habe pensionieren lassen. Ich muß sagen, daß der Mann ein anständiges Ruhegehalt hatte. Er erzählte mir auch, daß er vierzig Jahre lang bei der Polizei war. Ja, das ist eine fatale Sache – ich kann Ihnen sogar noch etwas mehr darüber erzählen.«

»Was denn?« fragte Mallalieu erstaunt.

»Sie erwähnten doch vorhin Harborough?«

»Ja, ganz recht.«

»Als Kitely das Geld in Empfang nahm, stand Harborough auch an der Kasse. Er wollte eine Fünfpfundnote wechseln.«

Die beiden sahen sich einen Augenblick schweigend an, dann schüttelte der Bankdirektor den Kopf.

»Man sollte doch eigentlich nicht denken, daß ein Mann, der eine Fünfpfundnote wechseln lassen kann, einen andern ermordet, um ihm das Geld abzunehmen. Aber ich muß schon sagen, daß Kitely eine hübsche Summe von der Bank forttrug.«

»Ich muß selbst zugeben, daß Harborough in schwerem Verdacht steht. Sie können also bezeugen, daß er sah, wie Kitely das Geld einsteckte?«

»Selbstverständlich«, entgegnete der Bankdirektor. »Er mußte es sehen. Kitely steckte die Scheine in eine innere Westentasche.«

Mallalieu rieb nachdenklich sein Kinn und sah auf den Teppich nieder.

»Das ist also ein weiterer Anhaltspunkt«, sagte er schließlich. »Die Sache sieht doch recht ernst aus für Harborough.«

»Wir haben die Nummern der Banknoten, die ich Kitely gab. Die könnten vielleicht von Nutzen sein, wenn jemand versuchen sollte, einen der Scheine zu wechseln.«

»Das ist natürlich von großem Wert, aber ich glaube nicht, daß jemand das so kurz nach dem Verbrechen wagt. Es ist ein merkwürdiger Fall. Aber zunächst wendet sich der Verdacht gegen Harborough, und wir müssen auf alle Fälle sehen, daß wir ihn in die Hand bekommen.«

Mallalieu verließ das Haus des Bankdirektors und ging über die Straße zu der Wohnung des Arztes, um alle Einzelheiten genau festzustellen. Bei Dr. Rockcliffe verweilte er länger und verließ ihn schließlich sehr erstaunt. Der Doktor hatte ihm nämlich auch gesagt, daß der Mörder große Erfahrung in dieser Art des Tötens haben müßte. Es könnte allerdings auch ein Matrose sein, der mit Stricken und Knoten umzugehen verstand. Mallalieu war aber überzeugt, daß Cotherstone die Tat begangen hatte, und Cotherstone war mit solchen Dingen durchaus nicht vertraut.

»Das würde wieder auf Harborough passen«, dachte er. »Der muß natürlich als Schweineschlächter darüber Bescheid wissen. Nun, ich weiß, was ich zu tun habe.«

Der Polizeiinspektor und der Sergeant instruierten gerade zwei verschlafene Beamte, als Mallalieu wieder bei ihnen eintrat. Er wartete, bis sich die Polizisten entfernt hatten, und nahm dann den Inspektor beiseite.

»Ich habe noch einige weitere Tatsachen erfahren, die gegen Harborough sprechen. Er war auf der Bank, als Kitely sein Geld abhob. Es ist ja möglich, daß das nichts zu bedeuten hat; aber unter Umständen kann die Tatsache auch sehr schwer ins Gewicht fallen. Auf jeden Fall wußte er, daß der alte Mann eine große Summe bei sich trug.«

Der Inspektor nickte zwar, aber in seinen Zügen drückten sich immer noch Zweifel aus.

»Das ist allerdings ein Punkt, der Ihren Verdacht bestärken könnte, aber Sie wissen ebensogut wie ich, Herr Bürgermeister, daß Harborough niemals an Geldmangel leidet. Man nimmt hier allgemein an, daß er ein eigenes Vermögen besitzt. Er war immer ein wenig geheimnisvoll und undurchsichtig, solange ich mich besinnen kann. Er konnte doch seiner Tochter eine gute Erziehung geben und lebt auch sonst ganz gut. Ich habe noch niemals gehört, daß er Schulden hat. Er ist ja ein eigentümlicher Mensch. Wir wissen zum Beispiel, daß er wildert, aber er richtet es immer so gut ein, daß wir ihn nicht fangen können. Ich bin eigentlich davon überzeugt, daß er den Mord nicht begangen hat.«

»Aber wir kommen doch nicht um die Tatsache herum! Auf jeden Fall müssen wir den Mann stellen. Wenn er sich aus dem Staube macht, wenn er nicht nach Hause kommt –«

»Das würde allerdings gegen ihn sprechen«, gab der Inspektor zu. »Nun, ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht.«

»Schicken Sie nach mir, wenn irgend etwas passieren sollte«, entgegnete Mallalieu und verließ das Büro. –

Als er am nächsten Morgen wie gewöhnlich um sechs aufwachte, war er sehr neugierig. Er und Cotherstone waren tüchtige Geschäftsleute und davon überzeugt, daß ihre Arbeiter nur dann etwas leisteten, wenn sie unter Kontrolle der Chefs standen. Gewöhnlich trafen sich die beiden Teilhaber morgens um halb sieben auf dem Bauhof, gleichgültig, ob es Sommer oder Winter war. Mallalieu war sehr gespannt, wie Cotherstone aussehen und wie er sich verhalten würde.

Als der Bürgermeister das Baugeschäft erreichte, war sein Partner schon dort. Er gab einem Fuhrmann einen Auftrag und kontrollierte noch die Wagenladung, ehe er zu Mallalieu trat. In der Morgendämmerung sah er aus wie gewöhnlich, aber als er nun näherkam, entdeckte Mallalieu doch einen müden Zug in seinem Gesicht und Schatten unter seinen Augen. Auch hatte Cotherstone Mühe, seine Aufregung zu verbergen. Mallalieu selbst schwieg und beobachtete ihn nur. Auf jeden Fall wollte er seinen Freund zuerst sprechen lassen.

»Nun?« fragte Cotherstone.

»Nun?« entgegnete Mallalieu.

Cotherstone spielte nervös mit einem Rechnungsbuch und einigen Papieren, die er in der Hand hielt, dann sah er seinen Teilhaber scheu von der Seite an. Mallalieus Blick ruhte fest und durchdringend auf ihm.

»Hast du schon alles gehört?« fragte Cotherstone nach einem peinlichen Schweigen.

»Ja.«

Cotherstone sah sich um und sprach dann ganz leise, obwohl niemand in der Nähe war.

»Solange außer ihm niemand es wußte, solange er zu keinem anderen darüber sprach – und ich glaube nicht, daß er es getan hat –, sind wir sicher.«

Mallalieu sah noch immer auf Cotherstone, der unter diesem forschenden Blick nervös und unruhig wurde.

»Ach, glaubst du das?« sagte Mallalieu schließlich.

»Du vielleicht nicht?« rief Cotherstone ärgerlich.

In diesem Augenblick trat ein Polizist herein und wandte sich an den Bürgermeister.

»Könnten Sie vielleicht zur Polizeistation kommen, Herr Bürgermeister? Sie haben Harborough gerade dorthin gebracht, und der Inspektor möchte mit Ihnen sprechen.«

 


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