Joseph Smith Fletcher
Der Stadtkämmerer
Joseph Smith Fletcher

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3. Kapitel.

Mord.

Cotherstone setzte sich an den Schreibtisch und versuchte, die Papiere zu prüfen, die Stoner gebracht hatte. Aber es gelang ihm nicht. Er hatte gehofft, durch die Aussprache mit seinem Teilhaber Erleichterung und Beruhigung zu linden, aber es quälte ihn immer noch eine unsagbare Angst. Solange Kitely lebte, waren sie nicht sicher. Selbst wenn sich der frühere Detektiv an einen Vertrag halten sollte, waren sie doch stets von ihm abhängig. Und dieser Gedanke war entsetzlich für Cotherstone, der seit achtundzwanzig Jahren niemand über sich gehabt hatte. Er wünschte, daß Kitely tot und begraben sein möchte, und sein Geheimnis mit ihm. Warum konnte man ein giftiges Insekt oder eine Schlange töten, wenn es einem beliebte, aber nicht einen menschlichen Blutsauger?

Schließlich gab er den Versuch auf, noch zu arbeiten. Die Zahlen tanzten vor seinen Augen, und er konnte die technischen Einzelheiten nicht mehr auseinanderhalten. Immer wieder wanderten seine Gedanken zu dem einen Punkt zurück. Er trommelte auf seine Schreibunterlage und starrte auf die tiefen Schatten im Zimmer.

Plötzlich klingelte das Telefon im äußeren Büro. Cotherstone zuckte erschrocken zusammen und erhob sich zitternd. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, als er hinausging.

»Wer ist dort?« fragte er.

Er hörte die erstaunte Stimme seiner Tochter.

»Vater, was tust du denn noch im Büro? Hast du nicht daran gedacht, daß wir Windle und seinen Freund, Mr. Brereton, um acht Uhr zum Abendbrot eingeladen haben? Es ist Viertel vor acht, komm doch nach Hause!«

»Das habe ich wirklich vergessen, ich war so beschäftigt. Ich komme gleich, Lettie!«

Aber als er den Hörer wieder hingelegt hatte, beeilte er sich nicht im mindesten. Es dauerte noch einige Zeit, bis er das Licht ausschaltete und dann umständlich das Büro abschloß. Es war ihm nichts unangenehmer, als an diesem Abend Gäste unterhalten zu müssen. Er ging langsam über den Markt zu den äußeren Stadtvierteln.

Vor vielen Jahren hatten er und Mallalieu sich eigene schöne Häuser an der westlichen Grenze der Stadt gebaut. Dort erhob sich ein langgestreckter, niedriger Hügelzug, den man Highmarket-Shawl nannte. Er beherrschte die ganze Stadt und war dicht mit Fichten und Tannen bestanden, zwischen denen hier und dort große Kalkfelsen aufragten. Am Fuß dieser Hügel hatten sie Bauland gekauft, hatten dort massive Steingebäude errichtet und sie mit allem modernen Luxus und Komfort ausgestattet. Cotherstone war immer stolz auf sein Heim gewesen, aber heute war es ihm zum erstenmal verhaßt, seine eigene Schwelle zu überschreiten. Die erleuchteten Fenster, die ihm schon von weitem zuwinkten, und der Duft guter Speisen erfreuten ihn nicht im mindesten. Er mußte sich überwinden, um überhaupt hineinzugehen und die beiden Gäste zu begrüßen, die bereits auf ihn warteten.

»Ich konnte leider nicht früher kommen«, sagte er, als Lettie ihn halb ängstlich, halb scherzend schalt. »Wir hatten heute nachmittag eine recht unangenehme Sache, und ich muß auch nach Tisch noch eine Stunde fortgehen. Es tut mir leid, daß ich es nicht anders einrichten konnte. Nun, wie geht es Ihnen?« wandte er sich an Bents Freund. »Ich fürchte nur, es kommt Ihnen hier sehr kalt vor, nachdem Sie sich immer in London aufgehalten haben.«

Bei Tisch betrachtete er den jungen Rechtsanwalt genauer, der einen sehr gewandten Eindruck machte. Noch begabter als Bent, dachte Cotherstone für sich, und das wollte viel heißen. Bent war ein fähiger Mensch und ein tüchtiger, energischer Geschäftsmann, der ungewöhnlich kluge Ideen und Pläne hatte. Er dachte nicht ruhig und besonnen über eine Frage nach, sondern handelte kurz und entschlossen. Cotherstone sah von einem zum andern und verglich sie miteinander. Bent war ein großer, schöner Mann mit blauen Augen, der gerne einen Witz hörte und lachte. Brereton dagegen war von mittlerer Größe, hatte dunkle Haare und Augen und auch dunkle Gesichtsfarbe, so daß man ihn fast für einen Ausländer hätte halten können. Er gehörte anscheinend zu den Menschen, die viel dachten und wenig sprachen.

Cotherstone zwang sich zu einer Unterhaltung; auch wollte er sehen, ob Brereton Lettie bewunderte. Es war seine größte Freude, zu beobachten, daß seine schöne Tochter auf andere Leute Eindruck machte. Und auch dieser junge Mann aus London schien ganz in ihrem Bann zu stehen und die Wahl seines Freundes zu billigen.

»Was haben Sie denn mit Ihrem Freunde angefangen?« sagte Cotherstone zu Bent. »Er ist doch schon seit gestern hier. Haben Sie ihm die Stadt gezeigt?«

»Ach, ich habe ihn hauptsächlich mit Familiengeschichten gequält«, entgegnete der junge Mann und sah lachend zu seiner Braut hinüber. »Sie wissen allerdings noch nicht, Mr. Cotherstone, daß ich in letzter Zeit versucht habe, möglichst viel über meine Vorfahren herauszubringen. Den ganzen letzten Monat habe ich mich schon damit beschäftigt. Der alte Kitely hat mich auf diese Idee gebracht.«

Cotherstone beherrschte sich mit Mühe, um nicht zusammenzuzucken.

»Sie meinen doch nicht etwa meinen Mieter? Was weiß denn der von Familiengeschichten? Er ist doch hier in der Gegend ganz fremd!«

»O, er weiß viel mehr als ich«, erwiderte Bent. »Er hat nichts zu tun, wie Sie wissen, und seitdem er sich hier niedergelassen hat, bringt er seine ganze Zeit damit zu, alle möglichen Akten auszugraben und durchzustudieren, die sich auf unsere Stadt beziehen. Es ist eine Liebhaberei von ihm. Der Stadtsekretär erzählte mir, daß Kitely fast das ganze alte Stadtarchiv durchstöbert hat. Und Kitely sagte mir eines Tages, daß er meinen Stammbaum aufstellen könnte, und da ich mich dafür interessierte, gab ich ihm den Auftrag, mit der Arbeit zu beginnen. Er hat schon viel Interessantes herausgebracht, und zwar gerade aus dem Stadtarchiv, von dem ich bisher noch nie etwas gehört hatte.«

Cotherstone schaute nicht auf.

»Dann waren Sie wohl in letzter Zeit viel mit Kitely zusammen?« fragte er möglichst gleichgültig.

»Er war ab und zu bei mir und hat mir seine Resultate gebracht. Meistens waren es Abschriften aus dem alten Stadtregister.«

»Hat denn das alles einen Zweck?« fragte Cotherstone. »Wird überhaupt etwas dabei herauskommen?«

»Bent möchte seinen Stammbaum bis zu den Kreuzzügen zurückführen«, antwortete Brereton schelmisch. »Er glaubt, daß der erste Bent womöglich schon mit Wilhelm dem Eroberer auf diese Insel kam. Aber der alte Kitely ist erst bis zu der Zeit der Königin Elisabeth gekommen.«

»Nun, ich wußte schon vorher, daß die Familie Bent schon seit vielen hundert Jahren in Highmarket ansässig ist. Und wenn man einen alten Stammbaum hat, warum soll man ihn nicht richtig ausarbeiten lassen? Kitely ist in diesen Dingen sehr bewandert. Der Stadtsekretär sagte mir, daß er sechshundert Jahre alte Urkunden lesen kann, als ob es Zeitungsartikel wären.«

Cotherstone war nachdenklich geworden. Kitely stand also in enger Verbindung mit Bent. Die beiden sahen sich häufiger, und sein künftiger Schwiegersohn hatte den Mann sogar mit einer bestimmten Arbeit beauftragt. Daraus ließ sich zweierlei folgern: erstens hatte Kitely bisher über seine geheimen Kenntnisse geschwiegen, und man konnte daher annehmen, daß er auch in Zukunft nichts sagen würde, wenn man mit ihm zu einer Verständigung kommen konnte; zweitens ging daraus hervor, daß Bent Kitely vertraute und ihm alles glauben würde, was er ihm sagte. Es mußte also sofort mit Kitely verhandelt werden. Der Detektiv wußte zuviel und war auch zu schlau, als daß man ihn so herumlaufen lassen durfte. Sie mußten zu einer solchen Vereinbarung mit ihm kommen, daß er unter allen Umständen den Mund hielt. Wenn es ihm und Mallalieu nur gelingen könnte, Kitely so in die Hand zu bekommen, wie er sie in seiner Gewalt hatte –

Als das Essen vorüber war, erhob er sich.

»Lettie, nun mußt du die beiden Herren allein unterhalten, bis ich zurückkomme. Singe doch Mr. Brereton etwas vor. Bent, Sie wissen, wo der Whisky und die Zigarren stehen. Bitte bedienen Sie sich, und tun Sie so, als ob Sie zu Hause wären.«

»Bleibe aber bitte nicht länger als eine Stunde, Vater«, bat Lettie.

»In einer Stunde bin ich wohl fertig, vielleicht auch schon früher. Jedenfalls beeile ich mich, so sehr ich kann.«

Gleich darauf trat er aus der Gartentür ins Freie. Er überdachte noch einmal, was er bei Tisch erfahren hatte. Windle Bent gehörte also zu den Leuten, die auf ihre Familie stolz waren. Der junge Mann freute sich darüber, daß er einen alten Stammbaum hatte und wußte, wer sein Ururgroßvater und seine Ururgroßmutter gewesen waren. Kitely mußte also um so mehr zum Schweigen gebracht werden, denn sicher würde Bent von seiner Verlobung mit Lettie zurücktreten, wenn Kitely ihm Cotherstones Geschichte erzählte. Man mußte mit Kitely so fertig werden, daß man später keine Nackenschläge mehr von ihm zu fürchten brauchte.

Cotherstone verschwand im Dunkeln, und es verging eine gute Stunde, ehe er zu seinem Hause zurückkehrte. Es war gerade zehn Uhr. Er besann sich später darauf, daß er auf die große Standuhr in der Diele schaute, als er wieder heimkam.

Als er die Tür zum Wohnzimmer öffnete, sah er die beiden jungen Leute und Lettie in der Nähe des Kamins sitzen, in dem ein großes Feuer brannte. Brereton hatte anscheinend den beiden anderen Geschichten erzählt.

». . . denn es ist eine Tatsache«, schloß der Rechtsanwalt gerade, »daß es sehr viele unentdeckte Verbrechen gibt, und daß viele Schuldige straflos bleiben.«

»Hoffentlich haben Sie sich inzwischen gut unterhalten«, sagte Cotherstone, als er nähertrat.

»Mr. Brereton hat uns von interessanten Kriminalfällen berichtet«, erwiderte Lettie. »Die sind tatsächlich viel merkwürdiger als Kriminalromane!«

»Dann ist es aber wohl Zeit, daß ich ihm etwas anbiete, wenn er sich so angestrengt hat«, meinte Cotherstone liebenswürdig. »Kommen Sie, meine Herren, wir wollen doch wenigstens ein Glas zusammen trinken.«

Sie gingen alle ins Speisezimmer, und Lettie brachte Flaschen und Gläser herbei.

»Sie interessieren sich also für kriminelle Dinge?« fragte Cotherstone, als er Brereton eine Zigarre anbot. »Sie sind wohl Spezialist in diesem Fach?«

»Ja, ich habe mich eingehend damit beschäftigen müssen«, entgegnete Brereton lächelnd. »Man kommt dazu und weiß selbst nicht, wie.«

»Ich höre eben, daß jemand den Gartenweg entlanggeht«, sagte Lettie plötzlich. »Er scheint es sehr eilig zu haben. Du wirst doch nicht etwa wieder fortgerufen werden, Vater?«

Die Hausglocke läutete schrill, und gleich darauf hörten sie, daß das Dienstmädchen mit jemand sprach.

»Das ist unser Nachbar – Mr. Garthwaite«, sagte Bent. »Ich erkenne ihn an der Stimme.«

Cotherstone setzte die Zigarrenkiste hin und öffnete die Tür. Ein junger Mann trat aufgeregt ein und sah sich fragend um.

»Es tut mir leid, Mr. Cotherstone, daß ich Sie stören muß. Aber der alte Mann, dem Sie das Haus da oben vermietet haben – Mr. Kitely –«

»Was ist denn mit ihm?« fragte Mr. Cotherstone scharf.

»Er liegt in dem Gebüsch oberhalb Ihres Hauses – ich wäre beinahe über ihn gefallen, als ich eben dort vorbeiging«, brachte Garthwaite atemlos hervor. »Er ist tot, da gibt es gar keinen Zweifel – und –«

»So sprechen Sie doch!« drängte Cotherstone, als Garthwaite zögerte.

»Er ist ermordet – ermordet!«

 


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