Joseph Smith Fletcher
Der Stadtkämmerer
Joseph Smith Fletcher

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20. Kapitel.

Geständnis.

Nur mit Aufbietung aller Kräfte konnte Brereton einen Ausruf unterdrücken.

»Das wundert mich aber«, sagte er nur erstaunt. »Ich dachte, eure Hochzeit sollte erst im nächsten Jahre stattfinden?«

»Cotherstone hat mich darum gebeten. In der letzten Zeit ist er direkt ein Kopfhänger geworden, hoffentlich ist er nicht ernstlich krank. Die Hochzeit findet bestimmt nächste Woche statt. Darf ich dich bitten, den Brautführer zu machen?«

»Aber natürlich! Dann geht ihr wohl auch gleich auf Reisen?«

»Ja, aber nicht so lange, wie ursprünglich geplant war. Wir wollen auf einige Wochen an die Riviera fahren. Ich habe heute schon alle nötigen Anordnungen getroffen. Hast du inzwischen etwas Neues herausgebracht? Dieser Mord an Stoner hat meinen Schwiegervater auch sehr mitgenommen. Ich möchte nur wissen, wann alle diese geheimnisvollen Verbrechen endlich aufgeklärt werden. Eins ist mir ja jetzt ganz klar. Harborough ist vollständig unschuldig, denn Stoner wurde sicher von demselben Mann ermordet, der den alten Kitely erdrosselte.«

Brereton wollte nicht weiter darüber sprechen. Er schützte Müdigkeit vor und begab sich auf sein Zimmer. Eins stand bei ihm fest. Bents Hochzeit durfte nicht stattfinden, solange Cotherstone unmittelbar in Gefahr schwebte.

Als er am nächsten Morgen aufstand, hatte er einen Entschluß gefaßt. Er wollte zu Cotherstone gehen und ihm sagen, was hier doch schon verschiedene Leute über sein Vorleben wußten. Vielleicht hatte Cotherstone eine Erklärung; jedenfalls mußte man ihm Gelegenheit geben, zu sprechen. Aber vor allem wollte Brereton darauf bestehen, daß Bent alles erfuhr.

Brereton überlegte sich, daß es das beste war, sich Tallington anzuvertrauen. Dieser Rechtsanwalt stand schon in älteren Jahren und genoß großes Ansehen wegen seiner Klugheit und Ehrlichkeit. Als langjähriger Einwohner der Stadt kannte er sicherlich Cotherstone sehr gut und konnte ihm einen Rat geben, wie er mit ihm verhandeln sollte. Der junge Rechtsanwalt kam bei seinem Kollegen an, als dieser gerade seine Morgenpost durchgesehen hatte, und erzählte ihm alles, was er in der letzten Zeit erfahren hatte.

Tallington hörte ihm aufmerksam zu, und sein Gesicht wurde ernster und ernster, als Brereton die einzelnen Tatsachen berichtete.

»Wir müssen zweierlei tun«, erklärte er schließlich. »Erstens müssen wir Bent herholen und ihn in alles einweihen, und dann müssen wir Cotherstone rufen und ihm auch alles sagen.«

»Warum soll es Bent zuerst erfahren?«

»Das sind wir ihm schuldig. Außerdem würde es Cotherstone doch sehr unangenehm sein, es ihm selbst zu sagen. Und uns wäre es auch peinlich, die Geschichte Bent in Cotherstones Gegenwart zu erzählen. Auf jeden Fall wollen wir sofort handeln, damit nicht auf andere Weise schon vorher etwas herauskommt.«

»Meinen Sie durch die Polizei?«

»Ja. Dergleichen kann man unmöglich für immer geheimhalten. Vielleicht sind auch schon andere Leute und Detektive an der Arbeit, vielleicht hat Stoner mit anderen darüber gesprochen. – Bents Büro liegt hier gleich um die Ecke, ich schicke einen Angestellten hinüber und bitte ihn zu uns. Es ist peinlich, aber unbedingt notwendig.«

Als Bent zehn Minuten später in Tallingtons Büro trat, fiel sein Blick zuerst auf den schwarzgebundenen Band mit den Zeitungsausschnitten, den Brereton mitgebracht hatte. Er sah seinen Freund überrascht an.

»Was macht denn das Ding hier? Hast du eine Entdeckung darin gemacht? – Warum wollen Sie mich eigentlich sprechen?« fragte er Tallington.

Brereton mußte seine Geschichte nun noch einmal erzählen, aber Bent war kein so ruhiger und vorurteilsloser Zuhörer wie der Rechtsanwalt. Zuerst wollte er ihm überhaupt nicht glauben, dann war er ärgerlich und beleidigt und unterbrach Brereton dauernd. Er stellte viele Fragen und kämpfte für Cotherstone. Die beiden anderen verstanden ihn nur zu gut, aber sie ließen nicht nach, bis sie ihn schließlich überzeugt hatten.

Plötzlich sprang er auf.

»Wer von den beiden ist denn nun der Mörder? Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß es Cotherstone ist!«

Tallington erhob sich und legte begütigend seine Hand auf Bents Schulter.

»Wir wollen kein Urteil fällen, bis wir gehört haben, was Cotherstone dazu zu sagen hat. Ich werde schnell herumgehen und ihn selbst herholen. Ich weiß, daß er jetzt allein im Büro ist, denn ich sah Mallalieu vor zehn Minuten ins Rathaus gehen. Es ist heute morgen Stadtverordnetensitzung, bei der er zugegen sein muß. Also nun lassen Sie den Mut nicht sinken, Bent! Es ist ja immerhin möglich, daß Cotherstone uns die Sache erklären kann.«

Cotherstones Büro lag nur ein paar Schritte entfernt, und Tallington kam in fünf Minuten mit Cotherstone zurück. Brereton sah Cotherstone genau an und bemerkte, daß er gefaßt war. Es schien, als ob er diese Krisis längst vorausgeahnt hatte und darauf vorbereitet war. Äußerlich war er vollkommen ruhig und kühl; er überschaute die Situation sofort, nahm auf dem Stuhl Platz, den Tallington ihm anbot, und wandte sich dann an den Rechtsanwalt.

»Nun, warum haben Sie mich hergeholt?«

»Ich sagte Ihnen doch schon auf dem Wege hierher, daß wir einmal privat über gewisse Informationen sprechen wollen, die wir kürzlich erhalten haben. Mr. Bent ist schon im Bilde. Natürlich ist diese Besprechung vertraulicher Natur. Also seien Sie bitte ebenso offen zu uns, wie wir es zu Ihnen sein werden. Zunächst möchte ich eine direkte Frage an Sie richten. Sind Sie und Ihr Partner Mallalieu identisch mit Mallows und Chidforth, die im Jahre 1891 wegen Unterschlagung von dem Schwurgericht in Wilchester zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt wurden?«

Cotherstone zuckte mit keiner Wimper, und seine Stimme klang klar und bestimmt, als er antwortete.

»Bevor ich darauf etwas erwidere, Mr. Tallington, möchte ich eine Frage an Mr. Bent richten. Wird meine Tochter darunter zu leiden haben, wenn etwas gegen mich vorgebracht werden kann?«

Bent errötete und wurde ungehalten.

»Sie sollten doch eigentlich wissen, was ich darauf antworten werde. Ihre Tochter hat nicht darunter zu leiden.«

»Ich kenne Sie als einen Mann, der sein Wort hält«, entgegnete Cotherstone und wandte sich dann an Tallington. »Auf Ihre Frage antworte ich mit einem uneingeschränkten Ja!«

Tallington öffnete Kitelys Buch mit den Zeitungsausschnitten und legte ihm den Bericht über die Gerichtsverhandlungen in Wilchester vor.

»Also sind Sie dieser Chidforth, der in diesem Artikel erwähnt wird, und Ihr Partner ist Mallows?«

»Ja, das stimmt«, erwiderte Cotherstone mit so fester Stimme, daß ihn alle erstaunt ansahen.

»Und was in dem Artikel gesagt wird, ist wahr? Ich meine, soviel Sie hier auf den ersten Blick sehen können?«

»Das muß ich annehmen«, entgegnete Cotherstone bereitwillig. »Es war die beste Zeitung, die wir in Wilchester hatten. Der Bericht wird sicher in allen Einzelheiten stimmen.«

»Wußten Sie, daß Kitely bei der Verhandlung zugegen war?« fragte Tallington weiter.

»Ich weiß es jetzt. Aber ich erfuhr es erst an dem Nachmittag, bevor der alte Kitely ermordet wurde. Ich will Ihnen die Sache ganz wahrheitsgemäß berichten. Kitely kam an jenem Nachmittag in unser Büro, um seine Miete zu bezahlen, und bei dieser Gelegenheit teilte er mir alles mit und machte den Versuch, mich zu erpressen. Am nächsten Tage wollte er um vier Uhr nachmittags wiederkommen, und Mallalieu und ich sollten uns inzwischen überlegen, wieviel Schweigegeld wir ihm anbieten wollten.«

»Sie haben also mit Mallalieu darüber gesprochen?«

»Natürlich. Es war für uns beide ein Faustschlag ins Gesicht, nachdem wir hier dreißig Jahre lang ehrlich gearbeitet hatten!«

Die drei anderen sahen sich schweigend an. Eine kurze Pause trat ein, und dann stellte Tallington die entscheidende Frage.

»Mr. Cotherstone, wissen Sie, wer Kitely ermordet hat?«

»Nein, aber ich vermute es.«

»Wer denn?« fragte Tallington.

»Derselbe, der Stoner ermordete, und zwar aus demselben Grunde.«

Cotherstones Gesicht zeigte einen entschlossenen Ausdruck. Er richtete sich in seinem Stuhl auf und legte seine Hand schwer auf den Schreibtisch.

»Es ist Mallalieu!« fuhr Cotherstone fort. »Ich habe ihn gleich von Anfang an im Verdacht gehabt, am Sonntagabend wurde es mir zur Gewißheit. Ich werde Ihnen auch sagen warum. Ich habe persönlich gesehen, daß Mallalieu Stoner erschlug.«

Ein tiefes Schweigen folgte. Es waren furchtbare Minuten.

»Sie haben gesehen, daß Mallalieu Stoner erschlug?« wiederholte Tallington ernst.

»Ja!« rief Cotherstone. »Ich bin an jenem Abend zu dem Hobwick-Steinbruch gegangen, um über alles nachzudenken. Als ich an das kleine Fichtengehölz kam, das an der Ecke des Steinbruchs steht, sah ich Mallalieu und Stoner. Sie hatten einen Wortwechsel und stritten miteinander. Ich konnte sie hören und auch sehen. Schnell schlüpfte ich hinter ein großes Gebüsch und beobachtete sie von dort aus. Ich hörte, daß Stoner Mallalieu durch seine Worte aufs höchste reizte, und plötzlich packte Mallalieu in einem Wutanfall seinen schweren Eichenstock und schlug damit auf Stoner ein. Der schreckte zurück, das Geländer brach, und er stürzte in die Tiefe. Das habe ich gesehen. Ich habe auch bemerkt, daß Mallalieu seinen Stock in den Steinbruch warf, und ich bin hinuntergegangen und habe ihn aufgehoben!

Nachdem die Tat geschehen war, beobachtete ich Mallalieu. Einmal glaubte ich schon, er hätte mich gesehen, aber ich täuschte mich. Er stieg in den Steinbruch hinunter, während es dunkel wurde und blieb einige Zeit dort. Dann kam er auf der entgegengesetzten Seite wieder heraus und ging nach der Stadt zu. Sobald er außer Sehweite war, kletterte ich auch hinunter und fand Stoner tot. In seiner Nähe lag der Stock. Ich hob ihn auf und nahm ihn an mich.«

Tallington sah zu Brereton hinüber.

»Mr. Cotherstone muß seine Aussagen vor der Polizei wiederholen«, sagte der junge Rechtsanwalt.

»Warten Sie noch einen Augenblick«, erwiderte Cotherstone. »Ich bin noch nicht zu Ende mit meinem Bericht. Da ich mich nun schon einmal ausspreche, will ich auch alles sagen. Ich tue es hauptsächlich um Ihretwillen, Bent, aber die beiden Rechtsanwälte hier sollen Zeugen sein. Ich weiß nicht, wie die alte Sache aus Wilchester wieder aufgerührt wurde, aber ich will wenigstens die Wahrheit darüber sagen. Ich habe zwei Jahre im Zuchthaus gesessen, das ist wahr. Aber ich habe nur für Mallalieu die Kastanien aus dem Feuer geholt!«

Tallington lehnte sich in seinem Stuhl zurück und beobachtete Cotherstone mit steigendem Interesse.

»Also dann war Mallalieu oder Mallows der eigentlich Schuldige?«

»Steht denn nicht in der Zeitung, daß er der Kassierer war?« entgegnete Cotherstone. »Er konnte vollständig über das Geld verfügen. Er hat mich so geschickt in die ganze Sache hineingezogen, daß ich mir nicht mehr zu helfen wußte, als der Zusammenbruch kam. Und erst als alles vorüber war und wir die beiden Jahre abgesessen hatten, erfuhr ich, daß Mallalieu das Geld sicher beiseite gebracht hatte.«

»Aber Sie haben es schließlich nachher erfahren«, bemerkte Tallington. »Und Sie haben doch später mit diesem Gelde Ihr Geschäft gegründet?«

»Ja, das stimmt. Aber ich möchte doch noch eins zu meinen Gunsten anführen. Ich habe das Geld zurückgezahlt, die ganzen zweitausend Pfund mit den Zinsen für dreißig Jahre. Mallalieu weiß davon nichts. Hier ist die Quittung!«

»Wann haben Sie es denn eingezahlt?« fragte Tallington, als Bent unwillig das Schriftstück nahm, das ihm Cotherstone reichte. »Ist es schon lange her, oder haben Sie es erst kürzlich getan?«

»Es war am Tage nach Kitelys Ermordung. Ich habe es durch einen Freund bezahlen lassen, der noch in Wilchester lebt. Ich wollte mit der Sache nichts mehr zu tun haben und mir nicht den Vorwurf machen lassen, daß jemand durch mich Geld verloren hat, und so zahlte ich.«

»Aber Sie hätten die Summe doch längst zurückgeben können? Mit vier Prozent Zinsen macht das doch etwa viertausendvierhundert Pfund aus!«

»Das ist auch die Summe, die er gezahlt hat«, warf Bent dazwischen.

»Alles, was Mr. Cotherstone mir gesagt hat, ist natürlich vertraulich«, sagte Tallington und reichte die Quittung Brereton hinüber. »Vielleicht sagen Sie uns auch noch, warum Sie das Geld einen Tag nach Mr. Kitelys Ermordung einzahlten?«

Cotherstone, der bis dahin bereitwillig geantwortet hatte, wurde rot und schüttelte ärgerlich den Kopf. Aber er wollte eben sprechen, als es klopfte. Bevor der Rechtsanwalt »Herein« rufen konnte, wurde die Tür von außen geöffnet, und der Polizeiinspektor trat in Begleitung zweier Leute ein, die Brereton als Detektive von Norcaster erkannte.

»Es tut mir leid, daß ich Sie hier stören muß, Mr. Tallington. Aber ich hörte, daß Mr. Cotherstone hier sei. – Mr. Cotherstone! – Ich möchte Sie bitten, mich zur Polizeistation zu begleiten. Es ist das beste, wenn Sie weiter keine Schwierigkeiten machen.«

»Erst will ich wissen, warum ich dorthin gehen soll«, erklärte Cotherstone entschieden. »Was liegt gegen mich vor?«

Der Polizeiinspektor schüttelte seufzend den Kopf.

»Ich kann leider nichts dafür, aber wir müssen Mr. Mallalieu und Sie wegen Stoners Ermordung verhaften. Der Befehl ist vor einer Stunde unterzeichnet worden, und Mr. Mallalieu ist schon in Gewahrsam. Kommen Sie nur mit, Mr. Cotherstone, ich kann auch nichts daran ändern.«

 


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