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Siebenunddreißigstes Kapitel.
Das leere Nachbarhaus

Richard blieb stehen, als Skarrat ihn anredete. Er sah ihn forschend an und erriet sofort seinen Beruf. Skarrat lächelte und zog höflich eine Karte aus der Tasche. Mit leichter Verbeugung reichte er sie ihm hin.

»Sie sehen, Mr. Shrewsbury, daß ich Polizeioffizier bin. Ich bin hergekommen, weil ich Sie einiges fragen muß.«

»Was gibt es?« fragte Richard. Ohne die Antwort abzuwarten, fuhr er fort:

»Hat Ihnen denn niemand geöffnet?«

»Ich habe zweimal laut geklopft, aber bisher ist niemand gekommen. Vielleicht sind Ihre Bedienten ausgegangen?«

Ohne zu antworten, nahm Richard seinen Schlüssel aus der Tasche. »Was wollen Sie von mir?« fragte er unhöflich.

»Sehr wenig, und ich kann es Ihnen in kurzen Worten sagen. Sie wissen, was heute nacht in den Marengo Mansions geschehen ist, und Sie wissen vermutlich auch, daß die Frau, die sich Walsingham nannte, in Schwesterntracht aus ihrer Wohnung geflüchtet ist. Ich habe Nachricht, daß sie in dieses Haus gekommen ist, und ich kann nicht feststellen, daß sie es verlassen hätte. Die Vermutung liegt nahe, daß sie sich in Ihren Räumen befindet. Ich denke, das ist alles klar, Mr. Shrewsbury?«

Richard sah Blair an, und dieser deutete ihm durch Zeichen an: Sagen sie ihm alles!

»Ja«, sagte er zu Skarrat, »Sie sind richtig informiert worden. Ich fand Frau Walsingham in meiner Wohnung, als ich heute morgen von Paris kam, und ich ließ sie dort zurück, als ich meine Freunde aufsuchte, um mich mit ihnen zu beraten. Kapitän Blair ging mit mir, um ihr vorzuschlagen, sich der Polizei zu stellen.«

»Das beste, was sie tun kann«, sagte Skarrat teilnahmsvoll. »Das beste – falls sie noch hier ist.«

»Noch hier?« rief Richard. »Wie meinen Sie das?«

Skarrat lächelte.

»Ich habe zweimal erfolglos geklopft. Wollen wir nicht lieber hineingehen?«

Richard schloß die Tür auf mit der Vorahnung einer kommenden Überraschung. Er rief laut Kedgins Namen. Es kam keine Antwort. Verwundert sah er auf seine Begleiter.

»Das ist seltsam. Ich habe Kedgin eingeschärft, die Wohnung bis zu meiner Rückkehr nicht zu verlassen.«

Skarrat hatte inzwischen in alle Zimmer geblickt, er war in die Bedientenwohnung gegangen und kam nun eiligst zurück.

»Es ist niemand da. Wo hielt sich die Frau auf?«

Er ging zu der Tür, die Richard ihm zeigte, und versuchte zu öffnen. Das Schloß gab nach, er stieß die Tür auf und sah hinein.

»Ah!« sagte er. »Sehen Sie her, meine Herren.«

Blair und Richard blickten ihm über die Schulter. Da lag, achtlos über das Bett geworfen, das Schwesternkleid.

»Ich dachte es mir, meine Herren. Ich bin zu spät gekommen, sie ist fort.«

»Aber wie?« fragte Richard.

»Wie? Ließen Sie nicht Ihren Diener gewissermaßen als Kerkermeister zurück?«

»Gewiß, aber –«

»Kein aber, Mr. Shrewsbury. Sie hat getan, was Gefangene schon öfters mit ihren Kerkermeistern gemacht haben. Sie ist mit ihm entflohen.«

»Aber, wenn ich Ihnen sage«, erwiderte Richard ungeduldig, »daß sie krank war. Sie war zu schwach, um mit mir zu reden, und –«

»Verzeihung, wenn ich Sie unterbreche, aber meiner Ansicht nach war das eine geschickte Täuschung. Sie ist mit dem Diener ausgerückt. Was war das für ein Mann, und woher hatten Sie ihn?«

»Carsdale empfahl ihn mir.«

»Gerade keine sonderliche Empfehlung. Wir müssen herausbekommen, woher sie die Kleider zur Flucht hat. Ist der Mann nicht verheiratet, und ist seine Frau nicht verreist?«

»Ja«, antwortete Richard, der inzwischen gewünscht hatte, weder von Carsdale noch von Frau Walsingham oder von London je etwas gehört zu haben.

»Dann ist sie in Frau Kedgins Kleidern fortgegangen. Hatten Sie Eigentum, das leicht fortzuschaffen war, in Ihren Räumen?«

»Leicht fortzuschaffen? Was meinen Sie eigentlich?«

»Ich meine Juwelen, Silber, Dinge, die Wert haben, und die man unschwer mitnehmen kann«, sagte Skarrat lächelnd. »Vielleicht hatten Sie auch noch kostbare Bilder, Wein, Zigarren?«

»Und was soll das?«

»Überzeugen Sie sich bitte, ob etwas fehlt.«

»Kommen Sie, wir wollen nachsehen«, sagte Blair. »Auch ich bin der Ansicht, daß Kedgin der Frau fortgeholfen hat. Womit wollen wir anfangen? Hatten Sie Juwelen hier?«

»Für zwei- oder dreitausend Pfund«, antwortete Richard.

»Gut, wo sind sie?«

Einen Augenblick später wußten sie, daß diese Frage nicht ganz leicht zu beantworten war. Im Vertrauen auf Kedgins Ehrlichkeit hatte Richard seine Wertsachen in einer unverschlossenen Schublade aufbewahrt. Ringe, Tadeln, Kettchen, Perlen – alles war fort.

»Wo haben Sie Ihr Silberzeug?« fragte Blair.

Auch das Silber war fort. Blair sagte nichts dazu, er hatte es nicht anders erwartet. Schweigend forschten sie weiter. Silber, Zigarren, Wein, Tischzeug, Wäsche, Kleider, alles war verschwunden.

»Ohne Frage Kedgins Arbeit«, bemerkte Skarrat. »Er hat die Sachen natürlich nicht jetzt fortschaffen können. Kein Wunder, wenn er entsetzt war, als Sie heute plötzlich zurückkamen. Wahrscheinlich hat Frau Walsingham ihn diese Nacht gestört, und Sie störten ihn heute morgen. Als sie hinter seine Schliche gekommen war, machten sie gemeinsame Sache, und sobald Sie den Rücken kehrten, flüchteten sie. Und nun werde ich Ihnen zeigen, meine Herren, welchen Weg sie gegangen sind.«

Er führte sie in die Bedientenwohnung. Er ging an ein Fenster und zog den Vorhang zurück.

»Sehen Sie bitte hinaus. Hier unten ist ein kleiner Hof, und unser Haus bildet die eine Seite des Vierecks. Hier stößt das Nachbarhaus an, und Sie können sogar sehen, daß es leersteht. Nun folgen Sie mir bitte weiter.«

Er führte sie in ein kleines Zimmer, das als Rumpelkammer diente. Von dort ging eine eiserne Leiter zu einer Dachluke. Er stieg die Sprossen empor, und die anderen kamen ihm nach.

»Diesen Weg haben sie genommen, meine Herren. Kommen Sie, jetzt stehen wir auf dem Dach des unbewohnten Hauses. Hier ist eine zweite Leiter. Jetzt sind wir in dem leeren Hause.«

Blair und Richard war der Gedanke, daß das Haus unbewohnt war, unbehaglich. Aber Skarrat ging vergnügt weiter.

»Sehen Sie, dort ist ein Ausgang zu einer Seitenstraße, er steht offen. Hier haben sie meiner Ansicht nach das Haus verlassen.«

»Vermutlich«, meinte Blair. Mißvergnügt sah er sich in dem halbverfallenen Gebäude um. »Gehen wir wieder«, sagte er, »mir ist die ganze Sache unheimlich.«

»Ja«, stimmte Richard zu, »es ist grauenhaft.«

Skarrat sagte nichts und stieg die knarrende Treppe wieder hinauf. Dabei sah er sich ständig mit forschenden Blicken um. Und plötzlich, als sie auf einem Treppenabsatz standen, von dem aus man die halbgeöffneten Türen sehen konnte, stieß er einen Schreckensruf aus.

»Mein Gott, was ist das?«

Der Richtung seines zitternden Fingers folgend blickten die beiden in ein Zimmer. Durch einen Spalt in dem Fensterladen fiel ein Lichtstrahl, und er beleuchtete den Arm und die Hand einer Frau. Sonst war nichts zu sehen. Die drei standen wie erstarrt, und niemand rührte sich.

Dann stürzte Skarrat in das Zimmer, Blair und Richard folgten ihm. Einer stieß die Fensterladen zurück. Und sie erkannten die Frau, die sie suchten, und die Kedgin in dieses verlassene Haus gelockt hatte, um sie tot daselbst zurückzulassen.


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