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Erstes Kapitel.
Die Wölfe

»Dreihunderttausend Pfund! Und solch ein Sündengeld in den Händen eines unerfahrenen grünen Jungen von einundzwanzig Jahren. Und nun soll der Zufall es Mr. Barklay Leverton in die Hände spielen!«

Carsdale legte den Brief, den er eben gelesen hatte, fort, ging durch das Zimmer und öffnete ein Fenster. Dann lehnte er sich hinaus und blickte hinunter auf die Norfolkstraße. Es war ein lieblicher Maimorgen, und die Menschen hasteten vorbei im löblichen Bemühen, vor dem Glockenschlag zehn ihre Büros und Geschäftsräume zu erreichen. Denn London ist, was den Beginn der Arbeitszeit angeht, die faulste Stadt der Welt. Man spürte den warmen Hauch neuen Lebens in der Luft. Die Mieter unterhalb von Leverton & Carsdales Büros hatten einen Flor von Blumen auf ihren Fensterbrettern, und der Duft erreichte den Mann da oben. Aber Carsdale achtete weder auf die eilenden Menschen noch auf den strahlenden Sonnenschein oder den Duft der unschuldigen Blumen. Er dachte einzig daran, daß ein unreifer junger Bursche die Absicht bekundete, Barklay Leverton damit zu betrauen, ein Vermögen von dreihunderttausend Pfund anzulegen und zu verwalten. Eine schöne Summe, dachte Carsdale mit zynischem Lachen, eine runde, nette Summe, von der etwas Hübsches für den abfiel, der das Glück hatte, mit ihr zu arbeiten.

Das Schlagen einer der Uhren aus der Nachbarschaft weckte Carsdale aus seiner Träumerei. Er wandte sich vom Fenster ab, nahm aus einer offenen Kiste eine Zigarre und zündete sie an. Dann betrachtete er sein Bild in einem Spiegel. Mit dieser Personalinspektion war er zufrieden. Er war groß, von guter Figur. Sein Lächeln war gefällig und einnehmend, sein Gesicht hübsch. Er hatte braunes Haar und dunkle Augen, war sehr sorgfältig gekleidet.

»Ich denke, John Carsdale kann mehr Eindruck auf einen jungen Menschen machen als Barklay Leverton«, murmelte er, als er sich vom Spiegel abwandte und auf den Knopf einer elektrischen Klingel drückte. »Es kommt nur darauf an, die Gelegenheit zu haben, die günstige Gelegenheit!«

Geräuschlos öffnete sich die Tür, und der Kopf und die Schultern eines Jungen kamen zum Vorschein. Er trug eine schmucke Uniform in Blau und Silber. Der Kopf mit den struppigen Haaren schien ungebührlich groß für die schmächtigen Schultern. Im Gesicht fielen die aufgeweckten blauen Augen über einer Stupsnase und der breite Mund auf. Diese Augen waren mit einer stummen Frage auf seinen Chef gerichtet.

»Ich lasse Frau Walsingham bitten, zu mir zu kommen«, sagte Carsdale.

Der Junge verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war. Carsdale setzte sich an sein Pult, nahm den Brief und drehte ihn nervös in den Fingern, bis die Tür sich aufs neue öffnete. Dann blickte er auf und erhob sich halb aus seinem Sessel.

»Schließe die Tür ab, Sylvia«, flüsterte er, »ich muß etwas mit dir besprechen.«

Die Frau, die eingetreten war, warf einen scharfen Blick auf Carsdale, schloß die Tür und setzte sich. Einen Augenblick musterte er sie kritisch.

»Du siehst heute morgen sehr gut aus«, sagte er plötzlich. »In der Tat, ausgezeichnet, und darüber freue ich mich.«

Die Frau lächelte. Es war ein ruhiges, undurchsichtiges Lächeln, aus dem man alles Mögliche hätte erraten können. Sie war sehr hübsch und außerordentlich gepflegt in ihrer Erscheinung. Haar, Zähne, Hände zeigten die Sorgfalt eines Menschen, der bei der Toilette nichts außer acht läßt. War sie auch für die Bürotätigkeit etwas zu elegant gekleidet, schienen die Ringe, die an ihren schlanken, weißen Fingern glänzten, überflüssig zwischen Geschäftsbüchern und Papieren, so waren doch Kleidung und Ringe von erlesenem Geschmack und paßten zu ihr wie die schönen Augen und die feinen Ohren. Sie machte durchaus den Eindruck einer Frau, deren Fähigkeiten auf den verschiedensten Gebieten lagen.

»Und warum freust du dich darüber?« fragte sie etwas spöttisch. »Aus geschäftlichen Gründen?«

Carsdale schob ihr den Brief hin, den er noch immer nervös hin und her gedreht hatte.

»Es ist eine glänzende Sache, wenn man eine schöne Frau in seinem Büro hat«, sagte er mit leisem Lachen. »Da – lies.«

Frau Walsingham warf einen forschenden Blick auf den Brief.

»Oh? Ein Privatbrief an Leverton.«

»Er war nicht als Privatbrief bezeichnet«, erwiderte Carsdale gleichgültig. »Und habe ich, seit er krank liegt, nicht alle seine Briefe geöffnet? Hast du übrigens etwas Neues von ihm gehört?«

»Ja, er hat eine schlimme Nacht gehabt. Ich werde nachher einmal anläuten, wenn die Ärzte da gewesen sind. Nun will ich den Brief lesen, mag darin stehen was will.«

Was Frau Walsingham, Sekretärin bei Leverton und Carsdale und mit letzterem eng befreundet, las, war eine in knabenhafter Handschrift verfaßte Mitteilung vom Tag vorher aus einem Hotel in Southampton. Während des Lesens entschied sie, daß der Schreiber freimütig und vertrauensvoll war bis zu einem Grade, der ihm gefährlich werden konnte.

 

»Sehr verehrter Mr. Leverton«, lautete der Brief, »ich bin ein Fremder für Sie und muß Sie darum daran erinnern, daß Sie und mein Vater, Martin Shrewsbury, intime Freunde waren, bevor er vor langen Jahren nach Westindien ging. Ich, sein einziges Kind, Richard Sh., bin einundzwanzig Jahre alt. Vor sechs Wochen ist mein lieber Vater plötzlich gestorben, und ich habe etwas über dreihunderttausend Pfund von ihm geerbt. Das ist eigentlich der Grund meines Schreibens an Sie. Das Geld liegt auf einer Londoner Bank, und ich möchte es natürlich irgendwie arbeiten lassen. Mein Vater hat oft von Ihrem Verständnis für Geldgeschäfte gesprochen, und ich fand Ihre Adresse zwischen seinen Papieren. Würden Sie mir vielleicht um der alten Freundschaft willen mit Ihrer Erfahrung und gutem Rat beistehen? Ich war noch nie in England. Mein Vater wollte mich dorthin auf die Schule schicken, aber als ich in das Alter kam, starb meine Mutter. Da er nur noch mich hatte, schob er es immer wieder auf, und schließlich blieb ich endgültig zu Hause. So verstehe ich von Geschäften nicht mehr, als ich bei der Verwaltung unserer Plantagen gelernt habe. Doch war es meines Vaters Wille, daß ich gleich nach seinem Tode nach England gehen sollte. Er hatte seine Angelegenheiten so geordnet, daß alles sofort erledigt werden konnte. So bin ich nun hier, und alles erscheint mir fremd. Morgen früh will ich von Southampton nach London fahren, und ich werde mir erlauben, gleich nach meiner Ankunft bei Ihnen vorzusprechen.

Mit ergebenster Hochachtung

Ihr Richard Shrewsbury.«

 

Frau Walsingham las den Brief zweimal, ehe sie ihn zusammenfaltete und zurückgab. Ihr Gesicht war so ruhig und undurchdringlich wie immer, als sie Carsdale anblickte.

»Und?« sagte sie.

»Dreihunderttausend Pfund!« rief der Mann aus.

Frau Walsingham sah ihn fest aus halbgeschlossenen Augen an.

»Und?« wiederholte sie.

Carsdale sprang auf und ging erregt auf und ab.

»Dreihunderttausend Pfund und ein grüner Junge, der noch nie in England war. Liebe Sylvia, was für Möglichkeiten für dich und mich! Was für Aussichten!«

»Der Brief ist an Leverton gerichtet«, sagte sie trocken.

»Leverton«, antwortete Carsdale, »ist schwer krank und wird es voraussichtlich wochenlang bleiben. Dieser junge Hans im Glück kommt heute, und wir werden ihn empfangen. Und – du und ich, liebe Sylvia, sind nicht auf den Kopf gefallen.«

»Es geht so, wir können immer noch lernen. So gedenkst du also als erster auf dem Plan zu sein?«

»Natürlich, und die Sache ist einfach genug. Der Junge kommt hierher. Mr. Leverton ist unglücklicherweise durch Krankheit verhindert, aber Mr. Carsdale, sein Kompagnon, ist da und wird sich glücklich schätzen, sich des Sohnes von Levertons altem Freunde annehmen zu können. Der erste Eindruck ist immer entscheidend. Daran dachte ich, als ich sagte, daß ich mich über dein vortreffliches Aussehen freue.«

Frau Walsingham antwortete nicht gleich. Offenbar in Gedanken versunken spielte sie mit ihren Ringen. Plötzlich wandte sie sich an Carsdale, der immer noch auf und ab ging und an seiner großen Zigarre sog.

»Du mußt damit rechnen, Hans«, sagte sie schnell und bestimmt, »daß Leverton und der junge Mensch schließlich doch einander treffen.«

»Hauptsache ist, daß ich der erste bin«, erwiderte Carsdale. »Wir beide müssen nur zuerst den Löffel in die Puddingschüssel stecken. Die Ärzte sagen, daß Leverton im günstigsten Fall mit wochenlangem Krankenlager davonkommt. Und so –«

»Du vergißt verschiedenes, Hans. Denke daran, daß es noch eine Franziska Leverton gibt.«

»Ein Mädel von neunzehn Jahren gegen uns beide!«

»Franziska Leverton ist in ihrer Art ebenso gerissen wie du. Du weißt so gut wie ich, daß sie seit der Krankheit ihres Vaters alle paar Tage herkommt, um zu sehen, was es gibt. Wie willst du es verhindern, daß sie von diesem Jungen hört. Und wenn Leverton erfährt, daß du den Brief behalten hast –«

»Ja, Franziska ist entschieden im Wege«, sagte Carsdale hastig. »Aber das läßt sich ändern. Man kann verhindern, daß der junge Mann ihr in den Weg läuft, und –«

Das Läuten des Fernsprechers unterbrach ihn. Er warf seine halb aufgerauchte Zigarre fort und nahm den Hörer.

»Ja, ja«, sagte er mechanisch. »Ja – hier ist Carsdale. Was sagen Sie?«

Frau Walsingham wandte sich bei seinem plötzlichen Ausruf um. Er sah sie mit weit aufgerissenen Augen an.

»Leverton ist tot!« rief er aus. »Hörst du? Leverton ist tot!«

»Tot? Wie –«

»Vor zwanzig Minuten gestorben. Der Doktor sagt –«

Doch in diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und der borstige Schopf des Laufjungen blickte in das Zimmer.

»Ein Herr wünscht Sie zu sprechen, Mr. Richard Shrewsbury.«


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