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Zweites Kapitel.
Das Lamm

Es war charakteristisch für Carsdale und Frau Walsingham, daß ihre Gesichter beim ersten Laut der sich öffnenden Tür einen rein geschäftlichen Ausdruck annahmen. Carsdale sah auf den Laufjungen, als sei dieser jugendliche Angestellte nichts als eine Maschine, die rein mechanisch eine Botschaft ausgerichtet habe. Die Frau schien völlig in den Brief vertieft zu sein.

»Wo ist Mr. Shrewsbury, Griffkin?« fragte Carsdale.

»Im Wartezimmer, Herr.«

»Hast du ihm gesagt, daß Mr. Leverton nicht da ist?«

»Nein, Herr, ich habe ihm nichts gesagt. Was befehlen Sie?«

»Laß ihn eintreten. Sie brauchen nicht hinausgehen, Frau Walsingham, ich werde Sie vielleicht nötig haben. Führe den Herrn hinein, Griffkin.«

Der Junge verschwand und ließ die Tür halb geöffnet. Einen Augenblick später riß er sie weit auf für einen jungen Herrn, der mit einem Ausdruck von schüchterner Erwartung eintrat. Als er die Schwelle überschritt, blickten der Mann und die Frau mit einer Neugier auf ihn, die um so größer war, als man sie sorgfältig verbergen mußte. Beide hatten, nachdem sie den Besucher scharf gemustert, denselben Gedanken. Mr. Shrewsbury war keineswegs so, wie sie ihn sich vorgestellt hatten.

Es war klar, daß der junge Mann, mochte ihm England noch so fremd sein, durch und durch ein Engländer war. Zwar war sein Gesicht derart gebräunt, wie man es bei einem Europäer in der Regel nicht fand, aber sonst verriet alles in seiner sechs Fuß hohen Gestalt das seit Generationen unvermischte englische Blut. Groß, schlank, breitschultrig stellte er jenen Typ dar, den man sonst nirgends auf der Welt als auf den englischen Jagdgebieten und Cricketplätzen sieht, ausgenommen, wenn das ernsthaftere Spiel des Krieges oder gefährlicher Abenteuer ihn auf anderen Schauplätzen braucht. Frau Walsingham stellte in ihren Gedanken fest, daß er schön war wie ein griechischer Gott. Sie fühlte ihr Herz schlagen, als sie ihn anschaute, und nur mühsam konnte sie es verhindern, daß ihre an Gehorsam gewöhnten Augen ihre Gedanken nicht verrieten.

In Carsdale verstärkte sich, während er den jungen Mann betrachtete, das Bewußtsein, daß er sich geirrt habe. Etwas in des Besuchers Gesichtsausdruck verriet, daß er keineswegs dumm war. Mochte er unerfahren bis zum höchsten Grade sein, er sah aus, als habe er einen starken Eigenwillen. Als Carsdale mit ausgestreckten Händen auf ihn zuging, ihn zu begrüßen, tat er es mit ernstem Gesicht.

Richard Shrewsbury nahm die dargebotene Hand mit einem Griff, der Carsdale an Riesen oder Hufschmiede erinnerte.

»Mr. Leverton?« fragte er eifrig. »Es ist zu gütig von Ihnen, mein Herr. Sie werden denken, daß ich reichlich früh komme, aber –«

Carsdale hob die Hand.

»Es tut mir leid«, sagte er und bot Richard einen Stuhl an, »aber ich bin nicht Mr. Leverton. Ich bin John Carsdale, sein Kompagnon. Die Dame hier ist Frau Walsingham, unsere in alles eingeweihte Sekretärin. Die Sache liegt so, daß Mr. Leverton seit einiger Zeit krank liegt. Da ich seine Post öffne, kam auch Ihr Brief heute morgen in meine Hände, und so erwarteten wir Ihren Besuch. Wir sprachen sogar eben erst von Ihnen.«

»Es tut mir leid, daß es Mr. Leverton nicht gut geht«, erwiderte der junge Mann. »Hoffentlich ist die Krankheit nicht ernsthaft?«

Carsdale sah Frau Walsingham an, und diese blickte zu Boden.

»Leider sehr ernst, Mr. Shrewsbury«, entgegnete der Agent. »Äußerst ernst. Aber warum den Tatbestand verheimlichen? Mr. Leverton ist tot.«

»Tot!« rief Richard und sah bestürzt auf den anderen. »So ist er schon seit längerer Zeit tot?«

»Er ist genau vor einer halben Stunde gestorben«, erwiderte Carsdale, indem er kaltblütig auf die Uhr sah. »Ich bekam gerade die telefonische Nachricht von seinem Tode, als Sie angemeldet wurden. Es hat uns nicht eigentlich überrascht, denn er war sehr krank, aber das Ende kam doch sehr plötzlich.«

Richard sah betreten von einem zum anderen. Er machte Miene, seine langen Gliedmaßen aus dem Armsessel, in den man ihn genötigt hatte, zu lösen.

»Das tut mir außerordentlich leid. Ich kannte Mr. Leverton natürlich persönlich nicht, aber ich schätzte ihn um meines Vaters willen, er sprach sehr oft von ihm. Doch ich möchte Sie nicht länger aufhalten, Mr. Carsdale.«

Aber Carsdale drückte ihn wieder in den Sessel.

»Sie halten mich nicht auf«, rief er, »ganz und gar nicht. Wie ich schon sagte, ich bin, oder richtiger gesprochen, war sein Kompagnon, und es würde ihm nur lieb sein, wenn ich für Sie tue, was er gern getan haben würde. Darum verfügen Sie über mich, Mr. Shrewsbury. Ich darf wohl behaupten, daß ich Ihnen ebenso gut dienen und raten kann.«

Carsdales Worte klangen so gütig und warm, daß sich des Jünglings Antlitz vor Freude rötete.

»Das ist überaus liebenswürdig von Ihnen, mein Herr«, sagte er. »Ich bin Ihnen sehr verbunden und werde Sie wieder aufsuchen, sobald ich mich in London eingerichtet habe.«

Carsdale lachte, es war ein nachsichtiges, väterliches Lachen.

»Besser ist es, Sie kommen vorher zu mir. Sonst könnten Sie sich an der falschen Stelle einrichten. Ich habe aus Ihrem Brief ersehen, daß Sie in London vollständig fremd sind.«

»Vollständig, ich habe gestern zum erstenmal englischen Boden betreten. Oh, es kommt mir alles ganz sonderbar vor.«

»Dann vergessen Sie nicht die alte Wahrheit, daß Fremde oft über das Ohr gehauen werden. Wenn Leverton hier wäre, würde er zuerst dafür Sorge tragen, daß Sie ein gemütliches Unterkommen finden. Er würde Sie zweifellos in sein eigenes Haus eingeladen haben. Das kann ich nicht, denn ich bin Junggeselle und wohne möbliert. Aber ich bin wohl imstande, Ihnen eine behagliche Wohnung ausfindig zu machen. Frau Walsingham wird mir bestätigen, daß ich London kenne wie diesen Raum hier.«

Frau Walsingham lächelte Mr. Shrewsbury ermutigend an.

»Mr. Carsdale kennt allerdings London in jeder Hinsicht«, sagte sie. »Er wird Ihnen ein vortrefflicher Führer sein.«

»Es ist ungemein liebenswürdig von Ihnen«, erwiderte der Besucher. »Ich – ich finde die Stadt einfach großartig, ungeheuerlich.«

»Und dabei sind Sie ungefähr seit zwei Stunden in London«, lachte Carsdale. »Warten Sie erst einmal ab, bis Sie etwas davon gesehen haben. Aber nun im Ernst, in welchem Hotel sind Sie abgestiegen?«

Richard errötete wie ein Knabe.

»Ich fürchte, es ist nicht besonders vornehm«, sagte er entschuldigend. »Mein Vater sprach öfters davon, aber die Verhältnisse haben sich wohl inzwischen geändert.« Er nannte den Namen eines altmodischen Hotels, das in gewissen Kreisen vor einigen dreißig Jahren berühmt gewesen war, und Carsdale rang die Hände. »Das geht natürlich nicht«, sagte er. »Der Ruhm dieses Hauses ist längst vorüber. Hören Sie bitte zu. Sie brauchen eine nette Wohnung in Westend, und dazu einen geschickten Kammerdiener. Beides kann ich Ihnen besorgen. Das ist vorteilhafter, als wenn Sie im Hotel hausen, und außerdem können Sie dann speisen, wann Sie wollen. Ich kann Ihnen die betreffenden Zimmer schon heute nachmittag zeigen.«

»Es ist sehr nett von Ihnen, sich soviel Mühe zu machen«, sagte Richard. »Mir wäre das sehr lieb, ich hasse Hotels. Aber haben Sie denn Zeit?«

Carsdale winkte abwehrend mit der Hand.

»Oh, wir fabrizieren hier in London sozusagen Zeit. Außerdem möchte ich gern für Sie tun, was Leverton getan haben würde. Wir wollen die Zimmer heute besichtigen. Dann werden Sie einen guten Schneider, Schuhmacher usw. nötig haben. Lassen Sie das alles meine Sorge sein. Der Diener, den ich Ihnen besorgen kann, ist ein patenter Kerl. Aber man soll sich nie von seinen Bedienten beraten lassen, was Geschäfte angeht.«

»Warum denn nicht?« fragte Richard harmlos.

»Weil diese Menschen dabei auf ihre eigene Rechnung zu kommen suchen«, erwiderte Carsdale in feierlichem Ton. »Wenn Sie in London Einkäufe betreffend Rat nötig haben, dürfen Sie sich nur an selbstlose Freunde oder an Ihren Anwalt wenden, sonst werden Sie betrogen. Das ist natürlich alles nur solange notwendig, bis Sie eigene Erfahrung gesammelt haben, und das wird bald der Fall sein.«

Richard fand den Mut, Frau Walsingham zuzulächeln, er wußte selbst nicht, warum.

»Dann werde ich Sie, Mr. Carsdale, fürchte ich, zunächst in Anspruch nehmen müssen«, sagte er, »denn ich habe keine Freunde in London. Als ich heute morgen ankam und sah, wie riesig groß die Stadt ist, überfiel mich ein Gefühl von Verlassenheit und fast von Furcht.«

Carsdales Gesicht wurde mitleidig. Er schüttelte den Kopf und blickte auf Frau Walsingham.

»Ja«, meinte er ernst. »Ein Mensch kann in London so einsam sein wie ein Eremit in der Wüste. Aber Sie werden nicht einsam sein, Sie sind jung und werden bald Freunde finden. Wir müssen nur sehen, daß sie von der rechten Art sind. Aber leider«, fügte er hinzu, indem er aufstand, »muß ich nun an meine Arbeit. Doch steht der Nachmittag zu Ihrer Verfügung. Ich werde Sie um drei in Ihrem Hotel abholen, Mr. Shrewsbury. Bis dahin – verlaufen Sie sich nicht in unserer Steinwüste.«

Richard empfand, daß er damit entlassen war, und verbeugte sich vor Frau Walsingham. Carsdale führte ihn zu einer Seitentür hinaus und brachte ihn bis zum Fahrstuhl.

»Verfügen Sie bitte ohne Bedenken ganz über mich«, sagte er, als er dem Besucher die Hand schüttelte. »Ich möchte, daß Sie die Überzeugung gewinnen, daß ich Ihnen ebenso dienstbereit bin, wie es mein verstorbener Kompagnon gewesen wäre.«

»Sie sind zu gütig«, sagte Richard. Er zögerte einen Augenblick. »Ich möchte Mr. Levertons Familie mein Beileid aussprechen«, fuhr er schüchtern fort. »Vielleicht raten Sie mir, wie ich es am besten anfange?«

»Natürlich, natürlich. Also bis heute nachmittag!«

Er winkte mit der Hand und lächelte Richard verbindlich und freundschaftlich zu, als der Fahrstuhl sich in Bewegung setzte. Aber das Lächeln machte einem betroffenen Gesichtsausdruck Platz, als er wieder zu Frau Walsingham in sein Zimmer trat. Und die Dame sah genau so betroffen aus. Sie biß sich auf die Oberlippe und deutete auf den Nebenraum.

»Hans«, flüsterte sie, »Franziska Leverton ist in ihres Vaters Privatbüro. Griffkin sagt, sie ist eben gekommen. Und denk dir, Winch, der Notar, ist bei ihr.«


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