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Viertes Kapitel.
Rückkehr zur rechten Zeit

Inzwischen waren Mr. Winch und seine Begleiterin die Norfolkstraße entlang bis zu dem belebten Strand gegangen. Dort hatten sie eine Autotaxe genommen, die sie zu dem Büro des Notars, New Square, brachte.

Franziska war froh, als sie in dem friedlichen Zimmer des altmodischen Hauses saß. Die bloße Gegenwart Mr. Winchs, eines väterlichen Mannes mit grauem Backenbart und gemessenen Bewegungen, wirkte beruhigend nach dem lärmenden Wesen John Carsdales. Mr. Winch schien die Gedanken des Mädchens zu erraten, und er suchte ihr darum den bequemsten Sessel im Zimmer aus.

»Nun, liebes Kind«, begann er, nachdem er die Brille aufgesetzt hatte, »lassen Sie mich die Aufzeichnungen sehen, die Ihr Vater Sie heute nacht bezüglich dieser Dinge hier machen ließ. Sie schrieben alles genau, wie er diktierte?«

»Wort für Wort«, erwiderte Franziska, indem sie einen zusammengefalteten Bogen Papier hervorbrachte. »Ich habe es ihm hinterher vorgelesen.«

»Sehr gut, sehr gut«, meinte der Notar. »Lassen Sie mich jetzt noch einmal sorgfältig lesen, wir haben es vorher nur durchflogen.«

Er breitete den Bogen Kanzleipapier, den das Mädchen ihm gab, aus, hielt ihn dicht vor seine Brillengläser und las den Inhalt laut, langsam und nachdenklich.

 

»Den 18. Mai 1908. Barklay Levertons Anweisung für seine Tochter Franziska Leverton für den Fall seines plötzlichen Todes.

Erstens: Spätestens eine Stunde nach meinem Tode gehst du zu Mr. Septimus Winch, New Square, und bittest ihn, dich in mein Büro zu begleiten und den Schlüssel zu meinem Privatgeldschrank, den ich ihm kürzlich einhändigte, mitzunehmen.

Zweitens: Du öffnest den Schrank und nimmst aus dem Fach rechts ein Paket mit Wertpapieren, die in braunes Papier gewickelt und rot gesiegelt sind. Du händigst sie Mr. Winch ein.

Drittens: Im linken Fach wirst du ein Päckchen finden, das in Leder genäht und schwarz versiegelt ist, dazu einen ebenso gesiegelten Umschlag. Diese beiden Sachen nimmst du selbst mit. Gib acht, sie nicht zu verlieren.

Viertens: Ihr geht beide sofort zu Mr. Winchs Büro. Dort verschließt Mr. Winch die Wertpapiere in seinem Geldschrank, um sie später durchzusehen.

Fünftens: Ihr öffnet den Umschlag und lest den Inhalt der aus zwei mit A und B bezeichneten Papieren besteht.

Sechstens: Dann öffnet ihr das versiegelte Paket und prüft den Gegenstand, von dem in den Papieren die Rede ist.

Siebentes: Mr. Winch soll dann Paket wie Umschlag wieder versiegeln und in deiner Gegenwart auf seiner Bank in Verwahrung geben bis zu dem in den Papieren vermerkten Termin.«

 

»Hm!« sagte der Notar, indem er den Bogen fortlegte, »diese Anweisungen sind ziemlich geheimnisvoll, liebes Kind. Sie haben keine Ahnung, was es mit dem versiegelten Paket auf sich hat?«

»Nein, ich weiß nur, daß es sich um einen Gegenstand von höchstem Wert handeln muß.«

»Offenbar, offenbar«, stimmte Mr. Winch bei. »Ich verstehe nur nicht, warum mein verstorbener Klient nie zu mir davon gesprochen hat.«

»Er hat auch zu mir nie davon gesprochen. Vielleicht beabsichtigte er es in der vergangenen Nacht, aber er war zu schwach, um zu sprechen, nachdem er diktiert hatte.«

»So wird es sein«, sagte der Notar. »Nun will ich mich der ersten unserer Pflichten entledigen und die Wertpapiere in meinen Geldschrank einschließen. Sehen Sie, liebes Kind, ich tue sie in diese Schublade, später können wir sie durchsehen. Nun wollen wir den Inhalt des Umschlages untersuchen. Erst nehmen wir das Papier A. Vielleicht lesen wir es zusammen.«

Aber trotz seines Vorschlages las der alte Herr laut, jedes einzelne Wort betonend.

 

»Abbotsbury House,
Norfolk Street, Strand,
London WC
den 21. Juni 1905.

Herrn Barklay Leverton, Hochwohlgeboren.

Ich bestätige hiermit, von Ihnen fünftausend Pfund Sterling als Darlehen zum Zweck meiner Forschungsreise nach Zentral-Südamerika erhalten zu haben. Als Sicherheit habe ich Ihnen ein Diamantenhalsband überlassen, das mir gehört und seit hundert Jahren sich im Besitz meiner Familie befindet. Einst soll es Eigentum der Kaiserin Marie Louise gewesen sein. Sollte ich die fünftausend Pfund zuzüglich fünf Prozent Zinsen jährlich nicht bis zum 21. Juni 1908 bezahlen, so bin ich damit einverstanden, daß das Halsband in Ihren Besitz übergeht

Ralph Seymour Burgoyne.«

 

Mr. Winch nahm die Brille ab und sah seine Begleiterin erstaunt an.

»Burgoyne!« rief der Notar aus. »Das ist sicher der Reisende, der große Forscher!«

»Der verschollen sein soll«, bemerkte Franziska eifrig. »Sie wissen doch – man hat seit einem Jahr nichts mehr von ihm gehört.«

»Sicherlich, sicherlich, liebes Kind. Das ist wirklich ein sehr wichtiges Dokument. Ich hatte keine Ahnung, daß Ihr Vater ein solches Geschäft gemacht hat. Nun wissen wir, daß es sich um ein Diamantenhalsband handelt. Am besten sehen wir gleich nach, ob es noch unversehrt ist.«

»Aber wir haben das Papier B noch nicht gelesen«, warf Franziska ein. »Müssen wir uns nicht an die Bestimmungen meines Vaters halten?«

»Doch, doch«, gab der alte Herr zu, indem er das zweite Papier in die Hand nahm. »Was haben wir da? Ah, etwas Handschriftliches von Ihrem Vater. Vielleicht lesen Sie es, liebes Kind. Ihres Vaters Schrift war immer schwer zu entziffern.«

»Gut. Das Schreiben ist vom 14. Mai 1907. Es lautet: ›Nachtrag zu dem Abkommen zwischen Kapitän Burgoyne und mir, von dem in dem Papier A die Rede ist. Da das Gerücht geht, Kapitän Burgoyne und seine Expedition seien in den Urwäldern Südamerikas verschollen, und es bestände keine Hoffnung auf Rückkehr, so halte ich es für nötig, meine Wünsche betreffend das Diamantenhalsband niederzuschreiben.

Wenn Kapital und Zinsen zum Termin nicht bezahlt werden, kann das Halsband verkauft werden. In diesem Sinne bin ich mit Kapitän Burgoyne einig geworden. Obwohl es ein Familienerbstück ist, hat es keinen Gefühlswert für ihn, zumal er nicht zu heiraten beabsichtigt, so daß wenig Aussicht besteht, es etwa einer Tochter zu hinterlassen.

Ich bin aber entschlossen, falls ich den Termin erleben sollte (was zweifelhaft ist, da ich schwer herzleidend bin), das Halsband für mindestens noch ein Jahr zur Verfügung zu halten. Und ich wünsche, daß meine Tochter als meine alleinige Erbin und mein Testamentsvollstrecker sich nach dieser meiner Bestimmung richten.

Barklay Leverton.‹«

Mit Tränen in den Augen blickte das Mädchen den Notar an.

»Sie werden nach seinem Wunsch handeln?« fragte sie. »Ich weiß, daß Sie Testamentsvollstrecker sind.«

»Natürlich, natürlich, liebes Kind«, rief Mr. Winch aus. »Gewiß respektieren wir seine Wünsche. Die Geschichte ist richtig romantisch. Aber nun wollen wir nach dem Halsband sehen. Einst Eigentum der Kaiserin Marie Louise, der zweiten Frau Napoleons, wenn ich nicht irre. Höchst interessant, das Halsband muß sehr wertvoll sein.«

Aber nachdem sie die verschiedenen Hüllen, mit denen der Schmuck umgeben war, entfernt hatten, war Mr. Winch enttäuscht. Die altertümliche goldene Einfassung war matt und fleckig. Die Steine sahen, wie er meinte, wie Glas aus.

»Aber sehen Sie doch die Größe und das Feuer!« rief Franziska aus. »Oh, Mr. Winch, der Schmuck ist mehr wert als fünftausend Pfund, viel mehr.«

»Sehr wahrscheinlich, liebes Kind, sehr wahrscheinlich«, stimmte Mr. Winch zu. »Um so mehr Grund haben wir, ihn sofort wieder einzupacken, zu versiegeln und zusammen mit den beiden Schreiben auf meine Bank zu bringen. Wir wollen uns gleich auf den Weg machen.«

Als sie eine halbe Stunde später von Mr. Winchs Bank in Chancery Lane zurückkamen, griff Franziska plötzlich nach des alten Mannes Arm und deutete auf die dick gedruckten Schlagzeilen einer Zeitung, die ein Junge schwenkte, indem er seine Ware ausrief.

»Sehen Sie doch, sehen Sie doch!« rief sie aus. »Haben Sie es gelesen? ›Neues von der Burgoyne-Expedition. – Alle Mitglieder am Leben und gesund!‹«

Sie entriß dem Jungen ein Zeitungsblatt, während Mr. Winch in seinen Taschen nach einem Kupferstück suchte. Plötzlich hielt sie ihm die Zeitung dicht vor die Augen.

»Da steht es«, sagte sie. »Ach, Sie können ja ohne Brille nicht lesen. Hören Sie zu: ›Die Mitglieder der Burgoyne-Expedition, sieben an der Zahl, sind in Lima angekommen und werden sofort nach England fahren, wo man mit ihrem Eintreffen in Southampton etwa für den 20. Juni rechnet.‹ Da steht es schwarz auf weiß, Mr. Winch.«

Der Notar nickte mehrmals mit dem Kopf, bevor er Franziska anblickte, und bemerkte dann ernsthaft:

»Er wird gerade zur rechten Zeit hier sein.«


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