Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunundzwanzigstes Kapitel.
Der stumme Gast

Carsdale kam von dem Zusammentreffen mit Winch und Franziska mit etwas gemischten Gefühlen. Er hatte einen Sieg über die beiden davongetragen, aber dieser Erfolg hatte ihm fast dreitausend Pfund gekostet. Freilich war diese Summe eine Kleinigkeit im Vergleich zu den Aussichten, die seine Brusttasche barg. Es waren nur drei wertlose Papierblätter, aber sie gaben ihm durch Richards Unterschrift die Vollmacht, über seines Klienten Vermögen zu verfügen. Er war der Herr über eine Viertelmillion.

Die Bank, die Richards Bargeld und Wertpapiere im Gewahrsam hatte, war ein altes Privatinstitut im Besitz von zwei Familien, deren Oberhäupter in der Geschäftswelt einen tadellosen Ruf genossen. Sie waren keineswegs argwöhnisch, als Carsdale einen Auftrag von Richard vorlegte, der ihn ermächtigte, nach Belieben Wertpapiere an sich zu nehmen. Sie machten nicht die geringste Einwendung, als er für zweihunderttausend Pfund Papiere auswählte, die sich sofort zu Geld machen ließen. Sie sprachen nur höflich die Hoffnung aus, daß Mr. Shrewsbury sich wohl befinden möchte.

»Durchaus wohl, danke, meine Herren. Er ist im Begriff, sich zu verheiraten, darum möchte ich den Hauptteil seines Vermögens besser anlegen. Die Papiere werden sofort wieder Ihrer Obhut übergeben.«

Die beiden alten Herren meinten, sie könnten eigentlich kaum günstigere Papiere zum Kauf vorschlagen. Da aber Mr. Shrewsbury heiraten wolle, wäre es vielleicht doch möglich, noch ein halbes oder gar ein ganzes Prozent mehr irgendwo herauszuschlagen, und zweifellos habe Mr. Carsdale solche Papiere im Auge.

»Oh, eine selten günstige Gelegenheit, meine Herren«, sagte Carsdale vergnügt.

»Hoffentlich macht Mr. Shrewsbury eine gute Partie«, meinte einer der Herren, »er ist noch so jung.«

»Eine glänzende Partie. Er heiratet eine sehr kluge Dame.«

Damit nahm er seine Wertpapiere und tauchte bald darauf in dem Labyrinth der City unter, wo Menschen mit den Ziffern und Symbolen des Geldes spielen wie Kinder mit Kieselsteinen, und innerhalb einer Stunde waren seine Papiere verkauft, und er verfügte über zweihunderttausend Pfund. Nun brauchte er nur noch die weite Welt zwischen sich und London zu bringen, und das wollte er unverzüglich tun. London hatte er gründlich abgegrast, er sehnte sich nach anderen Gegenden, wo ein Mann mit Kapital Wunder tun konnte. Da es Frühstückszeit war, ging er in ein berühmtes Cityrestaurant, aß und trank mit Behagen und studierte beim Kaffee die Schiffahrtslisten, ohne zu ahnen, daß ein harmlos aussehender, gutgekleideter Herr all seinem Tun großes Interesse widmete.

Wie alle Männer seiner Art hatte Carsdale einen wunden Punkt, und der seine hieß Sylvia Walsingham. Sie war nicht nur seine Base, sondern auch seine Schülerin, und als sie als halbes Kind die Torheit begangen hatte, davonzulaufen und Sydney Werrick zu heiraten, hatte er ihr geholfen, als harte Zeiten kamen. In Neuyork hatten die drei sich mit Geschäften dunkler Natur befaßt, die Werrick ins Gefängnis und die beiden andern in große Gefahr, dasselbe Schicksal zu erleiden, gebracht hatten. Sie waren nach England gegangen und hatten dort Glück gehabt. Doch das Glück war im Schwinden. Durch Levertons Tod hatte er Kunden verloren. Ein paar Spekulationen waren mißglückt. Sein Ruf war nicht mehr der beste. Höchste Zeit, ein neues Feld der Tätigkeit zu suchen.

Aber was wurde aus Sylvia? Er konnte sie nicht im Stich lassen. Das war sicher. Aber nicht weniger sicher war, daß er sich nicht auch noch mit Werrick belasten konnte. Um das zu vermeiden, mußte er ohne Verzug mit Sylvia das Weite suchen. Sie würde gewiß tun, was er sagte und riet. Und so trank er seinen Kaffee aus und begab sich zu den Büros der Royal Mail Steam Paket-Company. Als er wieder herauskam, war er im Besitz von zwei Schiffskarten erster Klasse nach Buenos Aires für den Dampfer, der am nächsten Morgen von Southampton auslief.

Nun beschloß er, reinen Tisch zu machen. Es hatte keinen Zweck, noch einmal das Büro in der Norfolkstraße oder seine Wohnung aufzusuchen. Da Shrewsbury in Paris war, konnte er damit rechnen, Frau Walsingham zu Hause anzutreffen. Auch nicht einen Augenblick dachte er an die Möglichkeit, daß sie eigene Zukunftspläne entworfen haben könnte.

Der Mann, der ihn beobachtete, hatte seine besonderen Schlüsse gezogen, als er ihn in das Schiffahrtsbüro eintreten sah. Als er ihm dann weiter folgte und bemerkte, daß er ein Warenhaus aufsuchte, wo man sich mit allen nur erdenklichen Artikeln versorgen konnte, wurden seine Vermutungen zur Gewißheit. Er ging in eine Fernsprechzelle und bat die Leiterin des Detektivinstituts um einen Gehilfen, da sein Mann offenbar das Weite suchen wolle. So hatte Carsdale für den Rest des Tages zwei Begleiter. Aber ahnungslos traf er weiter seine Vorbereitungen. Er kaufte alles, was er für eine Seereise brauchte, packte seine Einkäufe in zwei Reisetaschen und fuhr damit zu einer bestimmten Autogarage in Long Acre. Die beiden Männer sahen, wie das Gepäck hineingetragen wurde.

»Klar, daß er mit einem Auto ausreißen will«, sagte der eine. »Was sollen wir tun? Wir können ihn nicht festhalten.«

»Warten wir ein bißchen, vielleicht fährt er noch nicht. Mag sein, daß er nur die Taschen hier läßt. Wir wissen wenigstens, daß er von hier aus fort will. Das ist die Hauptsache.«

Carsdale suchte sich inzwischen sorgfältig einen Wagen aus, der allen seinen Anforderungen entsprach. Er zahlte die Miete, ließ sein Gepäck in den Wagen bringen und bestimmte, daß von neun Uhr an alles zur Abfahrt bereit sein müsse. Dann ging er, und die beiden Detektive zogen ihre Schlüsse. Der eine ging zum Institut, um Bericht zu erstatten, der andere folgte Carsdale.

Nachdem Carsdale, von seinem Verfolger nie aus den Augen gelassen, den Rest des Nachmittags mit müßigem Herumschlendern zugebracht und zu Abend gegessen hatte, machte er sich auf den Weg zu Sylvias Wohnung. Er zweifelte nicht daran, daß seine Pläne gelingen würden. Ein fester Glaube an seinen Stern war immer charakteristisch für ihn gewesen. Er hatte einen Schlüssel zu Frau Walsinghams Korridortür und öffnete. Da das nächstliegende Zimmer offenstand, rief er Sylvias Namen. Niemand antwortete, und etwas in dem tiefen Schweigen kam ihm unheimlich vor. Er zögerte, dann trat er ein. Auf der Schwelle zu Sylvias Schlafzimmer bemerkte er eine regungslose Gestalt, und er wußte instinktiv, daß es ein toter Mann war.


 << zurück weiter >>