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Sechsunddreißigstes Kapitel.
Skarrat auf der Spur

Inspektor Skarrat war zu dem Schluß gekommen, daß Carsdales Erzählung der Wahrheit entsprach und daß er tatsächlich erst in die Wohnung gekommen war, nachdem Werrick erschossen worden war. Aber er war auch ebenso fest überzeugt, daß Carsdale in dunkle Geschäfte verwickelt war, und er hoffte, durch Klärung dieser Angelegenheit auch der entflohenen Frau auf die Spur zu kommen. Begreiflicherweise beschäftigten sich seine Gedanken auch mit Sophie Guyner, die demnächst wieder entlassen werden sollte. So begab er sich zu dem Polizeirevier, um noch einmal mit ihr zu sprechen.

»Ich denke, wir brauchen Sie heute nicht mehr, Fräulein Guyner«, begann er. »Sie gehen natürlich nicht wieder in Ihre alte Wohnung zurück?«

Sophie schüttelte den Kopf. Davon abgesehen, daß sie früher oder später ihre Sachen abholen mußte, spürte sie nicht das geringste Verlangen, das Haus wiederzusehen.

»Aber Sie müssen mir Ihre Adresse geben. Ich werde Sie vielleicht morgen früh brauchen.«

»Ich bleibe bei einer Freundin, die in der Nähe vom Hampstead Weg wohnt«, antwortete Sophie und nannte ihm die Adresse.

»Und ich muß zum Tottenham Court Road«, bemerkte Skarrat. »Ich will dort in einem ruhigen Restaurant ein bißchen Abendbrot essen. Sie sehen aus, als wenn Sie auch Hunger hätten. Kommen Sie mit?«

Inspektor Skarrat war ein hübscher, stattlicher Mann. Fräulein Guyner hatte nichts dagegen, ihn zu begleiten, zumal dabei noch ein Abendessen heraussprang. Vor allen Dingen aber mußte sie jemand haben, mit dem sie von den Ereignissen des letzten Abends sprechen konnte. Skarrat ließ sie ungestört reden. Unter der Spreu, die sie lieferte, ließ sich vielleicht manches Weizenkorn finden.

Sophie war immer noch fest davon überzeugt, daß Carsdale und Frau Walsingham Werrick in die Wohnung gelockt hätten, um ihn zu töten. Skarrat ließ sie reden. Aber als sie fertig war, stellte er ein paar ruhige Fragen, und so erfuhr er die Geschichte von Richard Shrewsbury.

»Und eine hübsche Überraschung wird es für ihn sein«, sagte Fräulein Guyner. »Wenn er nicht so grün wie Gras wäre, hätte er schon längst etwas gemerkt. Aber das wird ihn aufwecken. Ich denke, er wird es in der Zeitung lesen. Vielleicht auch nicht – er ist im Ausland, in Paris.«

»Oh, sie haben dort auch englische Zeitungen. Also im Ausland ist er? Und wo wohnt er in London?«

Sophie gab eine eingehende Beschreibung von Richards Wohnung, die sie ein paarmal mit ihrer Herrin besucht hatte. Sie übertrieb die Pracht der Einrichtung, und der Beamte lauschte eifrig. Und während er so zuhörte, begann er gewisse Dinge zu verstehen, und er beglückwünschte sich zu dem Einfall, Fräulein Guyner zum Essen eingeladen zu haben.

»Sie hat sich wohl viel aus dem jungen Mann gemacht?« fragte er.

Verächtlich antwortete sie: »Viel aus seinem Geld gemacht, meinen Sie.«

»Hat ihn ordentlich ausgenommen? Juwelen und dergleichen, nicht?«

»Sie hat ein Diamantenhalsband von ihm, das zehntausend Pfund wert ist. Dazu noch einen Haufen anderes Zeug. Er muß viel Geld für sie ausgegeben haben, auch für Theater und Diners. Sie waren jeden Abend unterwegs.«

»Und Sie sagen, er ist in Paris? Im Vertrauen, meinen Sie, daß sie versuchen wird, zu ihm hinüberzugehen? Ist er so, daß sie ihm etwas vormachen kann?«

»Er hat sich genug von ihr vorlügen lassen«, sagte Sophie. »Ja, wenn sie rüberkäme, ließe er sich wohl wieder einwickeln. Aber was sollte ihr das wohl jetzt noch nützen?«

Skarrat machte ein sachverständiges Gesicht.

»Sie kennen unser Geschlecht nicht. Wenn der junge Mann in sie vernarrt ist, wird er ihr glauben. Und da er reich ist, wird er versuchen, sie in Sicherheit zu bringen. Mit Geld läßt sich viel machen.«

»Sie wird selbst nicht ohne Geld sein. Sie hat es immer verstanden, für ihren Vorteil zu sorgen.«

»Ja, es sollte mich nicht wundern, wenn sie nach Paris ginge. Aber man wird scharf auf alle Schiffe aufpassen, die nach Frankreich fahren.«

Als das kleine Abendessen zu Ende war, begleitete er Fräulein Guyner ritterlich bis an ihre Straßenecke. Dann überdachte er für einen Augenblick sein Tagewerk und nahm schließlich eine Droschke. Er befahl dem Kutscher zum Berkeley Square zu fahren. Aber unterwegs änderte er seinen Sinn und fuhr nach Scotland Yard. Von dort nahm er einen Polizisten mit und gab dann dem Kutscher wieder den ursprünglichen Auftrag. Am Ziel angelangt, befahl er dem Beamten, mit der Droschke zu warten, während er selbst ans Werk ging.

Im Erdgeschoß des Hauses, in dem Richard wohnte, saß der Portier in seiner Loge und las die Zeitung. Als er Skarrat bemerkte, legte er sie fort und kam heraus. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich plötzlich. Der Inspektor merkte, daß er ihn erkannt hatte. Das erleichterte seine Aufgabe.

»Guten Abend«, begann er. »Ich muß mit Ihnen sprechen. Ich bin von Scotland Yard, hier ist meine Karte, Inspektor Skarrat, wie Sie sehen.«

Der Portier nickte.

»Ich kenne Sie, Mr. Skarrat. Ich war selbst bei der Polizei, bis ich einen Unfall hatte. Was steht zu Diensten?«

»In diesem Hause wohnt ein junger Herr namens Shrewsbury, nicht wahr?«

Der Portier sah überrascht aus, und Skarrat lächelte.

»Es liegt nichts gegen ihn vor. Er ist verreist?«

»Ich glaube, er ist in Paris. Sein Diener sagte so etwas.«

»Wohnt er auch hier?«

»Er und seine Frau, er heißt Kedgin. Frau Kedgin ist gleichfalls verreist.«

»Gut, gut, ich will ihn heute abend nicht sprechen«, sagte Skarrat. »Sie haben den ganzen Abend über Dienst gehabt?«

»Seit acht Uhr, Herr.«

»Sie haben also jeden gesehen, der hier aus und ein ging?«

»Soviel ich weiß.«

»Schön. Sie müssen für sich behalten, was ich Ihnen jetzt sage. Haben Sie eine Frau in Schwesterntracht hineingehen sehen?«

»Nein, Herr. Ich kann mich nicht erinnern, eine solche Frau gesehen zu haben.«

»Gut. Sehen Sie morgen früh in die Zeitung, und Sie werden wissen, warum ich Sie gefragt habe. Übrigens, haben Sie jemals bemerkt, daß eine Dame Mr. Shrewsbury besucht hat, eine Dame in Begleitung ihres Hausmädchens?«

»Das wird seine Braut sein, Frau Walsingham«, sagte der Portier. »Kedgin erzählte mir von ihr. Ja, ich habe sie ein paarmal gesehen und auch ihr Mädchen, eine hübsche Person.«

»Also heute abend haben Sie Frau Walsingham nicht zu Gesicht bekommen?«

Der Mann schüttelte den Kopf. Nein. Seit einer Woche war sie nicht mehr gekommen. Und Skarrat ließ den Polizisten gehen und begab sich ebenfalls nach seiner Wohnung.

Aber am nächsten Morgen war er schon wieder früh bei der Arbeit. Man wußte noch nichts von Frau Walsingham. Trotz der scharfen Überwachung der Bahnhöfe und Häfen war nirgends eine Frau gesehen worden, auf die die Beschreibung gepaßt hätte. Erst gegen Mittag erhielt Skarrat eine Nachricht, und die kam von einer Seite, mit der er nicht gerechnet hatte, von dem Portier des Hauses am Berkeley Square.

Der Portier sandte ihm ein Telegramm, das ihn bewog, sofort hinzueilen. Der Mann sah verwirrt aus.

»Ich weiß nicht, wie es möglich ist, Mr. Skarrat«, sagte er, als sie allein waren, »aber ich habe gehört, daß eine Frau in Schwesterntracht letzte Nacht ins Haus gekommen ist. Ich kann es mir nicht erklären –«

»Macht nichts. Was haben Sie gehört?«

»Jympson, der Portier in dem Haus gegenüber ist, hat die Morgenzeitung erst sehr spät gelesen. Aber gleich danach kam er zu mir herübergelaufen und sagte, er habe gestern abend, als es schon dunkel war, eine Schwester in unser Haus gehen sehen. Wie ich es nicht –«

»Schon gut. Haben Sie heute morgen etwas von der Frau gemerkt?«

»Nein, Herr. Aber Mr. Shrewsbury ist zurückgekommen. Er ging gleich darauf wieder fort. Ich habe auch Kedgin heute noch nicht gesehen.«

»Ich werde einmal hinaufgehen«, sagte Skarrat. »Ist das hier der einzige Eingang?«

Der Portier erwiderte, daß das Haus keinen weiteren Eingang habe, und Skarrat stieg die Treppe hinauf. Er hatte schon zweimal angeklopft, ohne daß ihm geöffnet worden wäre, als Richard und Kapitän Blair kamen und ihn oben trafen.


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