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Sechstes Kapitel.
Frau Walsingham daheim

Es war bezeichnend für den Tagesbetrieb bei Leverton & Carsdale, daß nur zwei Menschen an regelmäßige Arbeitsteilung gebunden waren.

Mr. Leverton war zu Lebzeiten ein Pedant, und man konnte sich darauf verlassen, ihn von zehn bis fünf Uhr in seinem Büro zu treffen. Verabredungen pflegte er einzuhalten. Carsdale hingegen war unzuverlässig, unpünktlich, ein wahrer Irrwisch als Geschäftsmann. Manchmal erschreckte er die Reinemachefrau, indem er schon um acht in sein Zimmer stürzte. Oft saß er bis Mitternacht an seinem Pult. Dann ließ er sich wieder tagelang nicht in den Geschäftsräumen sehen.

Ebensowenig band Frau Walsingham sich an die Zeit. Ihre Arbeitszeit lief eigentlich von zehn bis sechs. Aber sie kam, wann es ihr beliebte, und ging, wann sie es für gut fand. Deswegen haßten und beneideten sie Fräulein Rouseby und Master Griffkin. Denn deren Dienst begann um neun Uhr dreißig und endete um sechs, und oft mutete man Griffkin zu, noch Botengänge zu machen, wenn er schon seine Uniform in Blau und Silber mit seinem bescheideneren Zivil vertauscht hatte, in dem er von dem heimischen Herd in Kennington zu kommen pflegte. »Sieht so aus«, meinte Griffkin an diesem späten Nachmittag, »als bestände der ganze Rummel hier nur aus uns beiden.«

Er war damit beschäftigt, Rundschreiben zusammenzufalzen und zu stempeln, die Fräulein Rouseby mühsam mit Anschriften versah. »Carsdale«, fuhr er fort, »ist wie die Figuren im Wetterglas. Sie wissen doch, da ist ein alter Mann auf der einen und eine alte Frau auf der anderen Seite. Dabei tut er den ganzen Tag nichts als quatschen. Und sie« – dabei zeigte er wütend mit dem Daumen auf die Tür, durch die Frau Walsingham um fünf verschwunden war – »ich möchte wissen, wozu sie da ist, wenn nicht ihre blitzenden Dinger um die Finger zu drehen und mit dem seidenen Rock zu rauschen. Und Leverton ist nun hin.«

»Ja«, bekräftigte Fräulein Rouseby, »er ist hinüber. In meiner letzten Stelle starb auch der Prinzipal. Er hinterließ uns allen zehn Pfund, Trauerkleider zu kaufen.«

»Donnerkiel«, rief Griffkin. »Zehn Pfund für schwarzes Zeug!«

»Tatsache. Natürlich haben wir nicht das ganze Geld dafür ausgegeben. Ich kaufte mir ein Crepekleid, einen neuen Hut und Schuhe, das ganze für zwei Pfund. Den Rest brachte ich auf die Sparkasse. Vielleicht hat uns Mr. Leverton auch etwas hinterlassen.«

»Na ja«, meinte Griffkin verächtlich. »Das glaube ich weniger. Schufte ich nicht schon ein ganzes Jahr hier, und noch nie habe ich eine Aufbesserung bekommen. Unter uns, wo nun Leverton abgekratzt ist, denk ich ernstlich an Veränderung. Meine Meinung ist, Carsdale und sie werden jetzt ein Kompagniegeschäft aufmachen. Da bin ich nicht wild auf meinen Posten, wenn sie Chef wird.«

»Das ist sie sowieso schon«, sagte Fräulein Rouseby und sah mißmutig auf den Stapel Briefe neben sich. »Als ich hierher kam, half sie zuerst bei dieser Arbeit, während sie nun um fünf wie ein Pfau davonstolziert. Ich werde um zehn Minuten zu spät fertig.«

»Ja, und Ihr Kavalier wartet an der Straßenecke«, bemerkte Griffkin. »Aber ich bin nicht so. Ich will ihm Bescheid sagen, wenn ich um sechs zur Post gehe.«

Frau Walsingham hatte allen Grund, um fünf das Büro zu verlassen. Denn trotz seiner vielen Geschäfte hatte Carsdale noch Zeit gefunden, sie anzuläuten und sie darauf vorzubereiten, daß er sie mit Richard besuchen werde. Außerdem gehörte sie zu den seltenen Frauen, die den Vorzug regelmäßiger Mahlzeiten zu schätzen wissen, und in der Hinsicht ließ sie sich durch nichts stören. Da sie nun heute ihrer Abendtoilette eine Stunde mehr widmen mußte, war es selbstverständlich, daß sie an der Arbeitszeit sparte. So begab sie sich zu ihrem Lieblingsrestaurant in Sohe, wo sie so bekannt war, daß man einen Tisch für sie reservierte. In Ruhe aß und trank sie und begab sich dann zu ihrer Wohnung, um zu Ehren des Gentlemans, der dreihunderttausend Pfund besaß, ihr schönstes Kleid anzuziehen.

Ihre Wohnung befand sich in einem großen Hause zwischen Bloomsbury und dem Tottenham Court Road. Die wenigen Menschen, die sie ihres Verkehrs würdigte, betrachteten ihre Wohnung als das Muster des Haushalts einer alleinstehenden Dame mit einem Dienstmädchen. Denn Frau Walsingham besaß einen erlesenen Geschmack. Und Carsdale sprach ähnlich zu Richard Shrewsbury, als sie das Restaurant verließen, in dem sie gespeist hatten.

»Wenn ich einen harten Arbeitstag hinter mir habe und Behaglichkeit brauche, besuche ich immer Frau Walsingham. Sie gehört zu den klugen Frauen, die einen Mann unterhalten können, ohne ihn tot zu reden.«

»Sie sieht sehr klug aus«, sagte Richard, der sonst nichts Rechtes zu antworten wußte.

»Sie ist eine der klügsten Frauen in ganz London«, sagte Carsdale mit Überzeugung. »Eine der wenigen Frauen, die etwas von Geldgeschäften verstehen.«

Richard überwand seine Schüchternheit und machte einen verzweifelten Angriff.

»Gibt es – werden wir auch einen Gatten von Frau Walsingham begrüßen?« fragte er.

Carsdale schüttelte den Kopf und nahm eine mitleidige Miene an.

»O nein«, erwiderte er, »sie ist Witwe. Es ist das eine traurige und dabei sehr romantische Geschichte. Sie hat früh geheiratet, viel zu früh, eine regelrechte Entführung durch einen hübschen, bezaubernden Mann. Walsingham war ein Weltenbummler und hatte die fixe Idee, da irgendwo zwischen Arabien und Persien etwas entdecken zu wollen. Der Esel nahm seine junge Frau mit, bekam, Dickschädel wie er war, Streit mit Eingeborenen, wurde erschossen, in ihrer Gegenwart ermordet. Sie entkam nur mit Hilfe eines einflußreichen Scheiks, der sie zur Küste und an Bord eines britischen Kriegsschiffes brachte. Natürlich kam sie halb irrsinnig vor Kummer heim und suchte Trost in der Arbeit. Das geschah vor fünf Jahren. Sie ist eigentlich immer noch ein junges Mädchen, aber, wie gesagt, eine der geschicktesten und klügsten Frauen in London.«

Richard dachte noch über die romantische Geschichte nach, als sie am Ziel waren, von einem sehr schicken Hausmädchen eingelassen und von Sylvia Walsingham empfangen wurden. Die Beleuchtung des Wohnzimmers war derart arrangiert, daß die Vorzüge ihrer Erscheinung wie die ihres Abendkleides voll zur Geltung kamen. Während Carsdale von ihren Nachmittagsunternehmungen berichtete, sah sich der junge Mann im Zimmer um und beschloß, bei seinen Bilder- und Büchereinkäufen Frau Walsingham zu Rate zu ziehen.

Zweifellos verstand die Dame es, Gästen, die dem anderen Geschlecht angehörten, den Aufenthalt bei ihr angenehm zu machen. Sie hatte eine erlesene Auswahl vorzüglicher Zigaretten und erstklassiger Liköre, und sobald die beiden Besucher es sich bequem gemacht hatten, brachte das Mädchen, das fast ebenso hübsch und klug aussah wie die Herrin, Whisky und Soda. Richard merkte, daß Carsdale sich hier zu Hause fühlte, und er dachte darüber nach, ob der Agent wohl Nachfolger des abenteuerlichen und höchst beklagenswerten Walsingham zu werden beabsichtigte. Aus unerforschlichen Gründen lehnte der junge Mann diese Vorstellung ab und kam zu dem Schluß, daß die Dame des Hauses die schönste Frau sei, die er in seinem Leben gesehen habe. Nach einer halben Stunde wurde sein Begleiter ans Telefon gerufen.

Carsdale zerkaute einen Fluch, der ehrlich gemeint klang, und ging hinaus. Er kam gleich wieder und machte ein betrübtes Gesicht.

»Ich muß fort«, sagte er, »Robinson hat angerufen. Er ist eben von Paris gekommen und erwartet mich im Charing Croß Hotel. Er hat mich schon überall gesucht. Ich bin trostlos, Verehrteste, aber Sie wissen, wie wichtig die Sache ist. Deswegen können Sie ruhig hier bleiben, Shrewsbury.«

»Natürlich«, bestätigte die schöne Frau. »Und meiner Ansicht nach ist es eine große Dummheit, die Leute wissen zu lassen, wo man zu finden ist.«

Carsdale brummte etwas von den Sklavenketten des Geschäfts und verabschiedete sich hastig, indem er Richard noch ermahnte, nicht zu vergessen, wo er seit heute wohnte. Frau Walsingham aber wandte sich ihrem Gast mit einem Gesichtsausdruck zu, der diskret andeutete, wie froh sie sei, nun endlich vor dem geschwätzigen Carsdale Ruhe zu haben.

»Wie gefällt Ihnen London?« fragte sie in dem nachsichtigen Ton eines älteren Menschen, der sich bei einem Kind erkundigt, ob das neue Spielzeug ihm zusagt. »Sehr«, antwortete Richard. »Ich kann mir aber noch keinen rechten Begriff davon machen, es ist so groß. Die größte Stadt, die ich bisher sah, war Port-of-Spain.«

»Und wo liegt das?«

»Es ist die Hauptstadt von Trinidad, wo wir unsere Zuckerrohrplantagen hatten. Es ist eine schöne Stadt, aber ich weiß nicht, wie oft man sie in London hineinstellen könnte. Solange ich hier niemand kannte, fühlte ich mich verzweifelt einsam.«

»Und jetzt?«

»Ich begreife nicht mehr, wie man sich unter so vielen Menschen vereinsamt vorkommen kann«, antwortete Richard.

»Man kann unter all diesen Millionen sich so verlassen vorkommen wie in Grönland«, bemerkte Frau Walsingham. »Ich weiß das, ich kenne selbst nur wenige Menschen. Ich habe mich sehr gefreut, als Carsdale Sie mitbrachte. Besuchen Sie mich oft. Haben Sie tatsächlich sonst keine Bekannten in London?«

»Keinen Menschen, abgesehen von ein paar Cricketspielern, die einmal Westindien bereisten. Gelegentlich werde ich sie einmal aufsuchen. Aber in vier Wochen kommt ein Mann, den ich sehr gut kenne. Ich freue mich ungeheuer auf das Wiedersehen. Er ist ein feiner Kerl – Burgoyne, der Weltreisende, wissen Sie!«

»So, so. Ich sah, daß im Abendblatt von ihm die Rede war. Er ist nicht verschollen und kommt wieder, nicht wahr? Sie kennen ihn also?«

»Er war ein paar Wochen unser Gast, es ist schon einige Jahre her. Er ist ein bedeutender Mann. Ich habe es auch in der Zeitung gelesen und freue mich riesig, daß er noch lebt. Jeder hielt ihn für verloren. Ich will ihn sofort nach seiner Landung begrüßen. Es kann ja nicht schwer fallen, einen derart berühmten Mann zu finden.«

»Das ist ja sehr hübsch für Sie«, meinte Frau Walsingham.

Danach lenkte sie die Unterhaltung geschickt auf Richard und seine persönlichen Verhältnisse und bewog ihn, von seinen Neigungen und Wünschen, von seinen Erlebnissen in Trinidad, seinen bescheidenen Zukunftsplänen zu erzählen, und dabei zeigte sie soviel Mitgefühl und Verständnis, daß der junge Mann frei von der Leber weg sprach und mit nichts hinter dem Berge hielt. Ehe er in einem förmlichen Glückstaumel fortging, versprach er, so oft wie möglich wiederzukommen und seine neue Freundin zum Essen und ins Theater zu führen, sobald sein Schneider ihn entsprechend ausgerüstet habe.

Als er sich verabschiedet hatte, mischte Frau Walsingham sich ein Glas Whisky mit Soda, zündete eine neue Zigarette an und betrachtete nachdenklich ihr Bild im Spiegel.

»Er kennt also Burgoyne«, sprach sie zu sich selbst. »Und – sie werden sicher zusammentreffen, ganz gewiß. Und was dann? Aber bis dahin vergeht noch ein ganzer Monat, und ein Monat ist schließlich eben ein Monat.«


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