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Siebzehntes Kapitel.
Ein Psycholog

Als Burgoyne sich von den Verlobten verabschiedet hatte, kam ihm neben dem Gedanken an die Beraubung des Geldschranks noch ein zweiter, daß nämlich Richard sich in den Händen gewissenloser Leute befand. Weder Carsdale noch Frau Walsingham hatten einen besonders günstigen Eindruck auf ihn gemacht. Bei beiden hatte sein scharfes Auge eine argwöhnische Zurückhaltung festgestellt. Zuerst hatte er es für närrisch von seinem jungen Freund aus Trinidad gehalten, daß er sich mit einer unbekannten Frau verlobte. Nun aber wurde er ernstlich beunruhigt.

»Ich fürchte, mein Diamantenhalsband wird zur Nebensache werden«, überlegte er. »Wenn diese Menschen mich wirklich betrogen haben, so werden sie nicht davor zurückschrecken, Master Dick um seinen Mammon zu bringen. Das Frauenzimmer bekommt es mit Wohnungseinrichtung und Geschenken und, Gott weiß was noch, auf gesetzmäßigem Wege fertig. Der Mann dagegen scheint ein vollkommener Halunke zu sein. Aber die Frage ist wieder: Was tun?«

Plötzlich fiel ihm ein Name ein.

»Beim Zeus!« rief er aus. »Gavin Blair muß helfen!«

Als er an diesen Mann dachte, ging Burgoynes Erinnerung eine lange Strecke zurück. Er dachte an Sandhurst, wo er und Blair als Knaben zusammen gewesen waren. Er dachte an die späteren Tage in Aldershot, an die mehr oder weniger angenehmen Garnisonen in England und Irland, wo sie Leutnants in demselben Infanterieregiment gewesen waren. Er dachte an einige Feldzüge in fremden Erdteilen und an ein Gefecht, bei dem Blair den linken Arm verlor, so daß er den bunten Rock für immer ausziehen mußte. Aber ihm fiel auch ein, daß sein Freund noch allerlei Liebhabereien gehabt hatte. Kunst, Literatur und Musik hatten ihn immer interessiert, und endlich hatte er sich auch mit psychologischen Problemen beschäftigt.

Blair genoß bei seinen Freunden den Ruf, den Dingen mit unerbitterlicher Logik bis zu ihrem Ursprung nachzugehen. Darum erinnerte sich Burgoyne dieses Namens mit einem Gefühl der Erleichterung. Gavin Blair war der Mann, den er brauchte.

Burgoyne blätterte in seinem Notizbuch und fand die Adresse seines Freundes. Er blickte auf seine Uhr.

»Fast fünf«, murmelte er. »Ich will hinfahren, vielleicht treff ich ihn noch an.«

Der Kapitän betrat den Korridor eines großen Mietshauses in der Nähe der Themse und stellte mit Befriedigung fest, daß Blairs Name noch auf der Mietertafel stand. Seine Genugtuung wuchs, als auf sein Klopfen hin Blair selbst öffnete. Er war ein großer, athletisch gebauter Mann mit grauem Haar und Schnurrbart, der, wenn nicht der leere Ärmel gewesen wäre, den Eindruck eines mit körperlicher Arbeit beschäftigten Mannes gemacht hätte. Er streckte dem Besucher die kräftige Hand hin und blickte ihn aus seinen stahlblauen Augen fest an.

»Tritt ein, Burgoyne«, begrüßte er ihn, »ich habe dich schon erwartet.«

»Du hast mich erwartet? Doch nicht jetzt?«

»Jetzt«, entgegnete Blair. »Vor fünf Minuten, als ich an diesem Tisch schrieb, sagte ich mir plötzlich: ›Ralph Burgoyne kommt, er ist schon beinahe hier.‹ Da legte ich meine Schreiberei beiseite. Trink einen Schluck und suche dir etwas zum Rauchen aus.«

Burgoyne nahm sich eine Zigarette und zündete sie nachdenklich an.

»So hast du immer noch den alten Instinkt oder das zweite Gesicht oder was es sonst ist?« fragte er. »Aber darum bin ich eigentlich zu dir gekommen. Ich habe zwar eine Menge zu tun, wie du begreifen wirst. Doch brauche ich deinen Rat. Es liegt eine verzwickte Aufgabe vor mir, und ich halte dich für den einzigen Menschen in London, der mir bei der Lösung helfen kann.«

Blair stopfte sich eine große Pfeife aus einem seltsamen alten Tabakskasten und setzte sich dann Burgoyne gegenüber in einen Sessel.

»Nun erzähle«, sagte er, »und vergiß nicht, mit dem wirklichen Anfang zu beginnen und keine Einzelheit auszulassen. Übereile dich nicht, ich bin Herr meiner Zeit.«

»Danke. Um also mit dem Anfang zu beginnen …«

Blair hatte drei Pfeifen ausgeraucht, und der Abend war schon angebrochen, als Burgoyne endlich schloß.

»Nun weißt du alles. Sage mir, was du darüber denkst.«

Blair blies eine Kette von Ringeln gegen die Decke.

»Ich kann dir sagen, was ich denke. Ich bin der Ansicht, daß dein Halsband ein Rettungsanker für diesen jungen Menschen sein wird.«

Burgoyne sah seinen Freund verblüfft an.

»Meinst du?« fragte er. »Das würde mich sehr freuen. Aber – wie?«

»Weil ich nicht den leisesten Zweifel habe, daß sie der schuldige Teil ist. Dieser Carsdale mag auch beteiligt sein, aber ich glaube es kaum. Kannst du die Frau überführen, so wird aus der Heirat nichts. Denn so leidenschaftlich und ritterlich der Junge auch sein mag, er wird nie eine Diebin heiraten.«

»Ich sehe das ein«, entgegnete Burgoyne. »Wenn sie aber nun in aller Eile heiraten?«

»Das ist nicht anzunehmen, solange sie keinen Verdacht schöpft«, antwortete Blair. »Aber ein Grund mehr für dich, vorsichtig zu sein. Wenn du sie beunruhigst, wird sie den Jungen veranlassen, sich eine besondere Heiratslizenz zu besorgen. Aber auch aus anderen Gründen brauchen wir eine übereilte Heirat nicht zu fürchten. Sie wird Aussteuer und dergleichen benötigen. Du hast Zeit.«

»Aber was soll ich tun? Es darf nichts in die Öffentlichkeit kommen, ich mag nichts mit Polizei und Detektiven und ähnlichen Dingen zu tun haben.«

»Natürlich nicht. Du kannst vieles ganz allein tun. Da sind verschiedene Fragen, die mir soeben aufstoßen. Laß mich sie formulieren:

1. Wer sind John Carsdale und Sylvia Walsingham in Wirklichkeit, und wie waren ihre Beziehungen zu dem verstorbenen Barklay Leverton?

2. Wie lebte Frau Walsingham vor der Ankunft Richard Shrewsburys?

Ich habe noch eine dritte, auf die ich später zurückkommen will.«

»Die zweite Frage kann ich selbst sofort beantworten«, sagte Burgoyne. »Shrewsbury hat mir erzählt, daß die Dame in einer elegant eingerichteten Wohnung auf ziemlich großem Fuße lebt.«

»Schön, das ist schon etwas. Nun eine andere Frage. Du erzähltest mir, daß du Franziska Leverton bei dem Notar trafst. Was für einen Eindruck machte sie auf dich?«

Burgoyne dachte einen Augenblick nach.

»Ich möchte sagen den eines praktischen, geschäftstüchtigen jungen Mädchens von kühler Überlegung.«

»Also ein weibliches Wesen, das etwas geheimhalten kann, wenn es nötig ist?«

»Das möchte ich mit Entschiedenheit bejahen«, erwiderte Burgoyne.

»Du sagtest, daß die junge Dame ihres Vaters Praxis in gewissem Umfange fortführt? Weißt du, wo das ist?«

»Ja, in ihrer Privatwohnung in Maida Vale«, sagte Burgoyne. »Ich weiß das, weil Shrewsbury mir nahelegte, ihr geschäftliche Aufträge zu geben, was ich allerdings ablehnte.«

»Nun möchte ich aber, daß du trotzdem in Geschäftsbeziehungen zu ihr trittst. Ich habe die Überzeugung gewonnen, daß sie dir in deiner Sache sehr nützlich sein kann. Frage mich nicht nach dem Grund, sondern setze dich an diesen Tisch und schreibe, was ich dir diktieren werde. Also bitte:

 

Sehr geehrtes Fräulein!

Ich habe erfahren, daß Sie in gewissem Sinne Ihres Vaters Praxis weiterführen, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir eine Unterredung gewähren würden. Ich werde morgen vormittag um elf Uhr vorsprechen und mir erlauben, einen Freund, Kapitän Blair, mitzubringen, der an dem Geschäft interessiert ist.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Ralph Burgoyne.«

 

»Das wirst du«, fuhr Blair fort, »zu Hause auf dein eigenes Briefpapier übertragen und sofort abschicken. Morgen früh hole ich dich in Shrewsburys Wohnung ab, und auf dem Weg nach Maida Vale werde ich dir mitteilen, was du dort zu sagen hast. Und nun mach dich auf, alter Junge, ich muß vor dem Essen noch einen Artikel beendigen. Von deinen Reisen kannst du mir erzählen, wenn wir diese ekelhafte Geschichte erledigt haben.«

Burgoyne ging im felsenfesten Vertrauen auf seines Freundes Fähigkeiten und schrieb den Brief an Franziska Leverton, die sich nicht wenig wunderte, als sie ihn empfing. Sie war etwas aufgeregt, als die beiden Herren angemeldet wurden. Aber sie erinnerte sich dessen, daß es ihr sehnlichster Wunsch war, möglichst geschäftsmäßig und gemessen zu wirken. Blair amüsierte sich im geheimen über die etwas herablassende Art, mit der sie die beiden empfing, ihnen Stühle anbot, während sie selbst ihren Platz hinter dem Schreibtisch einnahm.

»Was steht zu Diensten, Herr Kapitän?« fragte sie fast unhöflich.

Burgoyne, der von Blair genau instruiert war, blickte verlegen in seinen Hut.

»Tatsache, Fräulein Leverton, ist, daß ich Sie in einer höchst wichtigen und leider auch unangenehmen Sache sprechen muß.«

»Unangenehm?«

»Unangenehm für mich«, sagte Burgoyne weiter seine Lektion her. »Sie entsinnen sich, daß ich kürzlich von Ihnen und Mr. Winch das angebliche Halsband, das ich Ihrem Vater übergeben hatte, erhielt.«

»Das angebliche Halsband!« rief Franziska aus.

»So sagte ich«, wiederholte Burgoyne ruhig. »Was ich erhielt, war eine wertlose Nachahmung meines Eigentums.«


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