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Zwölftes Kapitel.
Bei Mr. Carsdale

Frau Walsingham las ihr Telegramm dreimal. Dann wandte sie sich an das Mädchen, das in der Nähe stand und sie forschend betrachtete.

»Sophie«, sagte sie ruhig, »läuten Sie den Elektherium Club an und fragen Sie, ob Mr. Carsdale im Hause ist. Wenn ja, lassen Sie ihn ans Telefon bitten.«

Bald kam das Mädchen zurück mit dem Bescheid, daß Mr. Carsdale warte.

»Machen Sie sich fertig, mit mir auszugehen, und lassen Sie den Portier ein Auto bestellen.«

Das Mädchen verschwand, und sie ging in die Telefonzelle.

»Bist du es?« fragte sie.

»Ja, und es ist Schlafenszeit.«

»Ich muß dich diese Nacht noch sprechen.«

»Du meinst heute morgen. Gut, soll ich hinkommen?«

»Nein, ich komme gleich zu dir. Fahre sofort nach Hause.«

»Ist es denn so dringend?«

»Ja. Fahre sofort nach Hause.«

»Gut, in zwanzig Minuten.«

Frau Walsingham band einen Schleier um den Hut, warf einen Mantel über ihr elegantes Kleid und ging, das Telegramm noch immer in der Hand, die Treppe herunter. Ein Auto stand vor der Tür, daneben wartete Sophie Guyner in Hut und Mantel.

»Der Chauffeur weiß Bescheid«, sagte sie.

Frau Walsingham antwortete nicht, und sie stiegen ein. Als sie vor Carsdales Haus ankamen, hielt dort gerade ein anderer Wagen. Die drei trafen sich vor der Tür.

»Hallo, das paßt«, sagte Carsdale. Er führte die beiden in seine Wohnung hinauf. Im Eßzimmer hieß er das Mädchen sich in einen Lehnstuhl setzen, goß ihr ein Glas Wein ein, stellte die Biskuitdose vor sie hin und gab ihr Zeitungen.

»Da haben Sie Unterhaltung, Sophie«, sagte er, »während wir unser Geschäft besprechen. Treten Sie ein, Frau Walsingham.«

Er führte seinen Besuch durch einen Nebenraum in ein drittes Zimmer, das ihm als eine Art von Büro diente und machte Licht.

»Wir können nicht genug Raum zwischen uns und Sophies scharfen Ohren haben«, sagte er. »Was gibt's? Hallo, du siehst blaß und verstört aus, willst du einen Whisky?«

»Nein, ich danke. Setz dich, Hans. Ich habe dir viel zu erzählen, und ich mußte dich unbedingt sofort sprechen. Ich weiß ja, daß du nie vor zwei Uhr schlafen gehst. Kannst du dir denken, wen ich heute traf?«

»Wie sollte ich?«

»Sandy Kinahan.«

Carsdale stand offenen Mundes da.

»Teufel«, rief er aus. »Ist er wieder zurück?«

»Ja, er saß in meinem Mittagsrestaurant am Nebentisch. Wahrscheinlich war er mir dorthin gefolgt. Ich erkannte ihn sofort, aber wir ließen uns beide nichts merken. Draußen sprachen wir uns, und er erzählte, daß – daß er tot ist.«

»Er! Tot?« rief Carsdale aus. »Tot, tatsächlich?«

»Sie haben ihn bei einer Rauferei erschossen in einem Ort namens Carville in Nevada.«

Carsdale starrte sie eine Minute lang an. Dann schlug er die Hände zusammen. »Himmel, Sylvia – wenn es nur wahr wäre!«

Frau Walsingham faltete das Telegramm auseinander.

»Das habe ich auch Sandy gesagt. Er riet mir, an den Polizeichef zu kabeln. Ich tat es mit Rückantwort. Hier ist sie. Ich bekam sie kurz, ehe ich dich im Klub anläutete.«

Carsdale las die Mitteilung zweimal. Er nickte mehrmals mit dem Kopf.

»Scheint in Ordnung zu sein, scheint in Ordnung zu sein«, sagte er. »Was für ein Glück, was für ein Glück, Sylvia. Aber vergiß nicht, du mußt es bestätigt, amtlich urkundlich beglaubigt haben, weil –«

»Weil, Hans?«

»Weil du wieder heiraten wirst.«

Frau Walsingham sah zur Tür und senkte die Stimme, obwohl kein Lauscher zu befürchten war.

»Das ist nun die zweite Sache, wegen der ich dich sprechen wollte. Hans, der Junge hat um mich angehalten.«

Carsdale zog die Augenbrauen hoch.

»Lieber Himmel«, rief er aus. »Im Ernst?«

»In vollem Ernst.«

»Wann denn?«

»Heute abend. Ich hatte vorher nicht die leiseste Ahnung.«

»Und – du?«

»Ich willigte ein, fast zwang er mich dazu.«

»Es verblüfft mich, daß dieser Hansguckindiewelt anfängt, auf eigenen Füßen zu stehen«, bemerkte Carsdale. Er setzte sich wieder und sah die Frau aufmerksam und nachdenklich an. »Schließlich, warum solltest du ihn nicht heiraten, Sylvia«, sagte er plötzlich. »Du bist eine kluge Frau, du kannst, wenn du willst, eine anständige Frau werden und ehrliches Spiel spielen –«

»Das werde ich, wenn ich ihn heirate«, sagte sie etwas ärgerlich.

»Schön, wenn ich sage du kannst, ist das ebenso wie: du wirst. Hm. Ernsthaft bleibt die Sache immer noch. Das Märchen mit Walsingham läßt sich zur Not irgendwie rechtfertigen. Sicher, das geht. Aber ich will dir etwas sagen. Eine Gefahr bleibt, und die heißt – Kinahan.«

Frau Walsingham sah ihn eindringlich an.

»Du meinst, er könnte gefährlich werden?«

»Ich halte Sandy Kinahan für fähig, mit Erpressungen zu operieren«, erwiderte er. »Man muß sich die Sache überlegen. Wo kann man ihn erwischen?«

»Ich treffe ihn morgen – nein, heute abend – wieder am Soho Square.«

»Schön, ich muß ihn sprechen. Zum Glück habe ich den Gentleman, wenn auch nur ein wenig, in der Zange. Aber es wird ausreichen. Du mußt ihn bewegen, mich aufzusuchen. Sage, ich will etwas für ihn tun. Geht das?«

»Ich werde es einrichten.«

»Das beste ist, du bringst ihn hierher. Ich möchte nicht, daß er nach der Norfolkstraße kommt. Komm heute abend mit ihm, ich werde von acht bis zehn warten.«

»Schön, ich komme um halb neun mit ihm. Jetzt will ich gehen.«

Sie stand auf und ging auf die Tür zu. Da sie aber merkte, daß Carsdale in Gedanken versunken war, blieb sie stehen und wartete. Endlich stand auch er auf.

»Ich überlegte eben – Kinahan war außer mir der einzige Mensch, der etwas wußte. Stimmt es nicht?«

»Es stimmt. Niemand weiß sonst darum.«

»Dann kommt also nur er in Frage, das vereinfacht die Sache. Also bis morgen Abend. Komm, ich bring dich an deinen Wagen.«

Im Eßzimmer saß Sophie Guyner und schlief. Carsdale sah sie fest an und überlegte, ob sie wohl wirklich schlief oder nur so tat. Aber Frau Walsingham, die seine Gedanken erriet, nickte beruhigend.

»Es war ein langer Tag«, sagte sie. »Sophie!«

Im selben Augenblick klopfte es an die Korridortür, so daß die Schlafende erwachte und die beiden zusammenschraken.

»Was heißt das?« schalt Carsdale. »Wohl ein Nachtschwärmer, der noch etwas trinken will. Einen Augenblick.«

Ohne die Türen hinter sich zu schließen, ging er hinaus und öffnete. Ein Polizist stand vor ihm.

»Verzeihung, mein Herr, sind Sie Mr. Carsdale?«

Carsdale nickte kurz. »Was gibt's?«

»Ich komme vom Charing Croß-Krankenhaus. Dort ist ein Mann eingeliefert, der unter einen Autobus geraten ist. Er liegt im Sterben und wollte Sie noch einmal sprechen. Ihre Adresse hatte er in seinem Notizbuch. Wenn Sie könnten, möchten Sie eine Dame namens Sylvia oder Sylvie –«

Carsdale unterbrach ihn.

»Kommen Sie herein«, sagte er und führte den Mann in das Zimmer, in dem Sophie, nun ganz wach, Frau Walsingham anstarrte. Diese nickte Carsdale zu, als er mit dem Polizisten eintrat.

»Ich habe alles gehört.« Sie wandte sich an den Mann. »Wie sah der Verunglückte aus?«

»Ein großer Mensch, spricht wie ein Amerikaner mit irischem Akzent. Am besten kommen Sie gleich, die Ärzte sagen, er macht nicht mehr lange. Er wollte der Dame etwas erzählen. Mein Wagen steht unten.«

Sie hatten die Hälfte des Weges zum Krankenhaus zurückgelegt, ehe einer sprach. Dann wandte sich Carsdale an den Beamten. »Wissen Sie, wie es geschah?«

»Rannte in einen Bus, der vom Haymarket kam«, sagte dieser lakonisch.

Carsdale nickte und beugte sich zu Frau Walsingham.

»Natürlich ist es Kinahan«, sagte er. »Möchte wissen, was er zu sagen hat.«

Im Krankenhaus führte ein Wärter die beiden Frauen in ein Wartezimmer und nahm Carsdale beiseite.

»Sie kommen zu spät«, sagte er. »Der Mann starb gleich, nachdem der Polizist fort war. Ist er ein Verwandter oder Freund von Ihnen?«

»Nein, aber ich kann angeben, wer er ist.«

Er folgte dem Wärter, kam zehn Minuten später zurück, zog Sylvia in eine Ecke und flüsterte:

»Es war Kinahan. Er ist tot, ich sah ihn. Er hat nichts gesagt, kein Wort, ehe er starb. Nun lebt außer mir kein Mensch mehr, der dein Geheimnis kennt. Du bist in Sicherheit.«


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