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Li-Tai-Pe: Das Lied vom Kummer

Der Wirt, meine herzlieben Brüderlein,
der Herr Wirt hat Wein, hat Wein.
Wir schlagen die Spunde, die Pipen ein,
wir wollen die eigenen Küper sein.
Schenkt ein! Schenkt ein! Schenkt ein!
Doch – halt! Keinen Tropfen getrunken! Halt!
Ich sing euch ein Lied erst vor,
ein Lied, das sich um die Seele euch krallt.
Hebt eure Kannen empor!
Wenn der Kummer kommt, wenn unser Sang
mit unserem Lärmen und Lachen verklang,
wer weiß es, ihr Freunde, wer weiß,
warum ihm ums Herze dann heiß?
Der Kummer, der Herzenskummer
sitzt mit in unserem Kreis.

Mein Herr Wirt, du hast einen Keller voll Wein.
Allein meine lange Laute ist mein!
Die Laute schlagen und fröhlich sein
und trinken und singen und lieben, ist fein.
Schenkt ein! Schenkt ein! Schenkt ein!
Ein Gläschen zur Zeit, zur richtigen Zeit,
– »Wir leben und lieben im Flor!« –,
dafür verschenk ich die Seligkeit.
Hebt eure Kannen empor!
Wenn summend der Kummer die Herrschaft gewann,
was will euer Gläsergeklingel euch dann?
Weiß keiner, ihr Schlemmergeschmeiß,
warum ihm ums Herze so heiß?
Der Kummer, der Herzenskummer
sitzt mit in unserem Kreis.

Und mag der Himmel auch ewig sein
und der Erdkreis sich drehn wie ein Kreisel klein,
wie lang wirst du, Klepper, dein dürres Gebein
noch schleppen und froh deines Goldes sein?
Schenkt ein! Schenkt ein! Schenkt ein!
Wenn's hoch geht, Brüderlein, hundert Jahr
lebst du im Saus, o du Thor!
Gewiß ist dir nichts als die Totenbahr!
Hebt eure Kannen empor!
Wenn im Schlummer der Kummer gekommen ist,
zu wessen Frommen ist Neid und List
und Geiz? Du grinsender Greis,
warum ist ums Herze dir heiß?
Der Kummer, der Herzenskummer
sitzt mit in unserem Kreis.

Mein Herr Wirt und herzliebe Brüderlein,
was quarrt dort am Friedhof im Mondenschein
und winselt? Hört ihr den Affen schrein?
Schluß mit dem Gaffen! Die Spunde hinein!
Schenkt ein! Schenkt ein! Schenkt ein!
Auf einen Zug die Humpen geleert
und mitgesungen im Chor!
»Wir leben und lieben unbeschwert!«
Hebt eure Kannen empor!
Der Affe verkroch sich. Wir beben noch.
Es lebe das Leben, das Leben hoch!
Wer weiß, ihr Freunde, wer weiß?
– Zwar rollts durch die Adern uns heiß! –
Doch der Kummer, der Herzenskummer,
sitzt mit in unserem Kreis.


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