Henry Fielding
Die Geschichte des Tom Jones / Theil V
Henry Fielding

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Siebentes Kapitel.

Die Unterredung zwischen Herrn Jones und Herrn Nightingale.

Das Gute oder das Böse, das wir Andern anthun, fällt, wie ich glaube, sehr oft auf uns selbst zurück; denn wenn gutmüthige Personen sich über ihre eigenen wohlthätigen Handlungen eben so freuen, wie die, welchen sie gethan werden, so dürfte es auch keine so ganz bösartigen Menschen geben, welche Andere in Schaden zu bringen vermögen, ohne selbst einiges Weh im Herzen über das Unglück zu empfinden, das sie ihren Mitmenschen zufügen.

Herr Nightingale wenigstens war kein solcher Mensch; Jones sah denselben im Gegentheile in der neuen Wohnung traurig an dem Kamine sitzen, wo er im Stillen die unglückliche Lage bejammerte, in welche er das arme Aennchen 36 gebracht hatte. Kaum erblickte er seinen Freund, so stand er schnell auf, eilte ihm entgegen und sagte nach vielen Glückwünschen, es könne ihm nichts gelegener kommen als dieser freundschaftliche Besuch, denn er sei nie in seinem Leben verstimmter gewesen.

»Es thut mir leid,« antwortete Jones, »daß die Nachrichten, welche ich bringe, Sie schwerlich in eine bessere Stimmung versetzen werden; im Gegentheile, dieselben dürften Sie im höchsten Grade erschüttern. Erfahren aber müssen Sie Alles. Ich komme also, um ohne weitere Vorrede zu sprechen, von einer würdigen Familie, die Sie in Noth und Elend gestürzt haben.« Herr Nightingale erbleichte bei diesen Worten, Jones aber kehrte sich nicht daran, sondern schilderte mit den lebhaftesten Farben die tragische Geschichte, mit welcher wir den Leser bereits im letzten Kapitel bekannt gemacht haben.

Nightingale unterbrach die Erzählung nicht einmal, obgleich bei manchen Theilen derselben sein Gefühl heftig angeregt wurde. Als Jones geendet hatte, sagte Nightingale endlich nach einem tiefen Seufzer: »Was Sie mir da sagen, lieber Freund, rührt mich aufs Innigste. Der schlimmste Unfall war der, daß das arme Mädchen meinen Brief nicht für sich behielt. Ihr Ruf hätte unverletzt und die ganze Sache ein tiefes Geheimniß bleiben können; es hätte dann mit dem Mädchen nicht schlimmer gestanden. Es kommen ja dergleichen Fälle viele in der Stadt vor und wenn der künftige Ehemann etwas merkt, wann es zu spät ist, so kann er nichts besseres thun, als seinen Verdacht vor seiner Frau und vor der Welt geheim zu halten.«

»Das konnte bei Ihrer armen Anna nun freilich nicht der Fall sein,« entgegnete Jones. »Sie haben die Liebe derselben in dem Maße gewonnen, daß nicht der Verlust 37 ihres Rufes, sondern Ihr Verlust sie betrübt und sie nebst ihrer ganzen Familie ins Unglück stürzen wird.«

»Ich kann Sie versichern,« fiel Nightingale ein, »das Mädchen besitzt ebenfalls mein Herz so vollständig, daß meiner künftigen Frau, wer sie auch sein mag, wenig davon übrig bleiben wird.«

»Können Sie in diesem Falle wirklich daran denken, sie zu verlassen?«

»Was kann ich thun?« antwortete Nightingale.

»Fragen Sie nur das Mädchen,« entgegnete Jones warm. »In der Lage, in die Sie das Mädchen gebracht haben, kommt es nach meiner aufrichtigen Meinung ihr allein zu, die Art und Weise zu bestimmen, wie Sie das Geschehene wieder gut zu machen haben. Nur das Interesse des Mädchens, nicht das Ihrige, kann hier in Betracht kommen. Sie fragen: was kann ich thun? Können Sie etwas anderes thun, als die Erwartungen der Familie und des Mädchens selbst erfüllen? Diese Erwartung habe auch ich selbst immer gehegt, sobald ich Sie beide beieinander sah. Sie werden mir verzeihen, wenn ich nach der Freundschaft, mit der Sie mich beehrt haben, spreche und der Mund mir überströmt von dem Mitleiden, das ich mit den armen Leuten fühle. Ihr eignes Herz wird Ihnen am besten sagen, ob Sie durch Ihr Benehmen die Mutter sowohl als die Tochter zu der Meinung gebracht haben, Sie hätten die ehrlichsten Absichten; ist dies der Fall, so überlasse ich es Ihren eigenem Verstande, in wie weit Sie gebunden sind, auch wenn Sie kein bestimmtes Eheversprechen gegeben haben.«

»Ich muß nicht blos das zugestehen, was Sie andeuten,« sagte Nightingale, »ich fürchte sogar, daß ich das Eheversprechen, das Sie erwähnen, gegeben habe.«

38 »Und Sie können nach diesem Geständnisse noch einen Augenblick zögern?«

»Bedenken Sie, lieber Freund,« antwortete der Andere, »ich weiß, Sie sind ein Mann von Ehre und würden Niemanden rathen, gegen die Vorschriften der Ehre zu handeln; kann ich, wenn es auch sonst keinen Einwand gäbe, nachdem ihre Schande öffentlich bekannt geworden ist, mit Ehren eine Ehe mit ihr eingehen?«

»Ohne Zweifel,« entgegnete Jones; »die beste und wahrhafte Ehre verlangt es sogar von Ihnen. Da Sie ein Bedenken der Art gegen mich aussprechen, so werden Sie mir auch erlauben, dasselbe genauer zu prüfen. Können Sie mit Ehren die Schuld tragen, ein junges Mädchen und deren Familie durch falsche Vorspiegelungen hintergangen, sie dadurch hinterlistiger Weise um ihre Unschuld gebracht zu haben? Können Sie mit Ehren wissentlich, geflissentlich und auf listige Weise einen Menschen in das Unglück stürzen? Können Sie mit Ehren den guten Ruf, den Frieden, ja vielleicht Leben und Seele dieses Menschen vernichten? Kann die Ehre den Gedanken ertragen, daß dieses Wesen ein schwaches, hilf- und schutzloses junges Mädchen ist? – ein junges Mädchen, das Sie zärtlich liebt und für Sie stirbt? – das sein ganzes Vertrauen auf Ihre Versprechungen setzte und diesem Vertrauen alles opferte, das ihm theuer ist? Vertragen sich solche Betrachtungen auch nur einen Augenblick mit Ehrenhaftigkeit?«

»Der gesunde Menschenverstand,« sprach Nightingale, »stimmt allerdings mit allem dem überein, was Sie sagen; wie Sie aber recht wohl wissen, spricht sich die Meinung der Welt so ganz anders darüber aus, daß ich mich niemals würde wieder sehen lassen dürfen, wenn ich eine Hure heirathete, wäre es auch meine eigene.«

»Pfui, Herr Nightingale, geben Sie ihr keinen so 39 unedeln Namen; als Sie ihr versprachen, sie zu heirathen, wurde sie Ihre Frau und sie sündigte mehr gegen die Klugheit als gegen die Tugend. Und vor welchen Leuten würden Sie sich vor Schaam nicht wieder sehen lassen können? Doch nur vor den gemeinen, thörichten, lasterhaften. Verzeihen Sie mir, wenn ich sage, daß eine solche Schaam eine falsche ist und nur falsche Ehre begleitet. Jeder Mann von wahrem Verstande und Gemüthe würde meiner Ueberzeugung nach der That seinen Beifall schenken und sie für ehrenvoll halten. Aber auch angenommen, sie fände bei Niemanden Beifall, würde sie nicht Ihrem eigenen Herzen wohlthun? Und gewährt das warme freudige Gefühl, welches das Bewußtsein einer ehrenhaften, edelsinnigen, wohlwollenden Handlung erzeugt, der Seele nicht höheres Vergnügen als das unverdiente Lob von Millionen? Stellen wir die Sache ganz unverstellt vor Ihre Augen. Sehen Sie auf der einen Seite das arme, unglückliche, zärtliche, gläubige Mädchen in den Armen ihrer Mutter dem Tode nahe; hören Sie, wie im Todeskampfe ihr brechendes Herz nach Ihrem Namen seufzet; wie sie die Grausamkeit, die sie zum Tode niederdrückt, mehr beklagt als anklagt. Stellen Sie sich die Lage ihrer liebevollen verzweifelnden Mutter vor, die durch den Verlust ihrer lieblichen Tochter zum Wahnsinn, vielleicht zum Tode gebracht wird. Sehen Sie das arme hilflose verwaisete Kind und betrachten Sie dann sich selbst als die Ursache all der Noth dieser armen kleinen würdigen und schutzlosen Familie. Auf der andern Seite stellen Sie sich vor als erretteten sie dieselbe aus ihren Leiden. Bedenken Sie, mit welcher Freude, mit welchem Entzücken das liebenswürdige Mädchen in Ihre Arme eilen würde; sehen Sie, wie das Blut in ihre bleichen Wangen zurückkehrt, wie ihr mattes Auge sich belebt, wie ihr Busen vor Jubel wallt! Bedenken Sie die Freude der Mutter, 40 das Glück Aller; stellen Sie sich die kleine Familie vor, die Sie durch eine Handlung vollkommen glücklich machen. Ueberlegen Sie sich diese Alternative und ich müßte mich in meinem Freunde ganz irren, wenn es noch langer Ueberlegung bedürfte, ob er die Armen unwiederbringlich unglücklich machen oder durch einen edeln raschen Entschluß sie von dem Rande des Elendes und der Verzweiflung auf den höchsten Gipfel menschlichen Glückes erheben will. Dazu vergessen Sie nicht, daß es Ihre Pflicht ist, so zu handeln, daß das Unglück, aus dem Sie die armen Leute befreien, von Ihnen absichtlich über sie herbeigeführt wurde.«

»Lieber Freund,« entgegnete Nightingale, »es bedurfte Ihrer Beredtsamkeit nicht, um meine Gefühle zu erregen. Ich bedaure die armen Leute von Herzen und würde gern alles, was in meiner Macht steht, thun und geben, wären niemals Vertraulichkeiten zwischen uns vorgekommen. Ja, glauben Sie mir, ich hatte manchen Kampf mit meiner Liebe zu kämpfen, bevor ich es über mich gewinnen konnte, jenen grausamen Brief zu schreiben, welcher alles das Unglück in der bedauernswerthen Familie verursacht hat. Dürfte ich nach meiner eignen Neigung handeln, so würde ich das Mädchen morgen heirathen, wahrhaftig! aber Sie werden auch einsehen, wie unmöglich es ist, meinen Vater zu vermögen, seine Einwilligung zu einer solchen Heirath zu geben; er hat bereits für mich gewählt und morgen soll ich, in Folge seines ausdrücklichen Befehles, der Dame meine Aufwartung machen.«

»Ich habe nicht die Ehre, Ihren Vater zu kennen,« sagte Jones, »Würden Sie, für den Fall, daß er überredet werden könnte, das einzige Mittel ergreifen, durch welches die arme Familie zu retten ist?«

»So schnell als ich meinem Glücke nachjagen würde,« antwortete Nightingale, »denn das Glück werde ich bei 41 keinem andern Weibe finden. Ach, lieber Freund, könnten Sie sich vorstellen, was ich in den letzten zwölf Stunden des armen Mädchens wegen gefühlt habe, ich bin überzeugt, Sie würden nicht das Mädchen allein bemitleiden. Die Liebe zieht mich hin zu ihr und habe ich irgendwie thörichte Ehrenscrupel gehegt, so sind sie durch Ihre Worte völlig beseitiget worden. Könnte mein Vater vermocht werden, meine Wünsche zu erfüllen, so würde zu meinem und zu Annas Glücke nichts mehr fehlen.«

»So bin ich entschlossen, es zu unternehmen«, entgegnete Jones. »Sie dürfen mir nicht zürnen, in welchem Lichte auch die Sache dargestellt werden müßte, die ja, darauf verlassen Sie sich, ihm überhaupt nicht lange verheimlichet werden kann; denn Dinge dieser Art werden schnell verbreitet, sobald sie einmal bekannt geworden sind, wie es hiermit schon der Fall ist. Sollte ein Unglück eintreten, wie ich es wirklich besorge, wenn es nicht bald verhindert wird, so würde das Publicum Ihren Namen so laut und auf eine Art aussprechen, daß es ihrem Vater das Herz zerschneiden müßte, wenn er gewöhnliches menschliches Gefühl besitzt. Wollen Sie mir also sagen, wo ich den alten Herrn finden kann, so werde ich keinen Augenblick verlieren. Sie dagegen können unterdeß nichts Besseres thun, als daß Sie das arme Mädchen besuchen. Sie werden sich überzeugen, daß ich bei der Schilderung von dem Zustande der Familie nicht übertrieben habe.«

Nightingale gab zu dem Vorschlage sogleich seine Einwilligung, nachdem er aber Jones die Wohnung seines Vaters und das Kaffeehaus genannt hatte, wo er denselben höchst wahrscheinlich finden würde, zögerte er einen Augenblick; dann setzte er hinzu: »lieber Jones, Sie versuchen etwas Unmögliches. Kennten Sie meinen Vater, Sie würden gar nicht daran denken, seine Einwilligung 42 zu erhalten. Halt! vielleicht geht es so: sagen Sie ihm, ich sei bereits verheirathet; vielleicht söhnt er sich leichter mit der Sache aus, wenn sie bereits geschehen und nicht mehr zu ändern ist. Und wahrhaftig, Ihre Worte haben mich so ergriffen und ich liebe meine Anna so leidenschaftlich, daß ich wirklich wünsche, es wäre schon geschehen, welche Folgen es auch haben möchte.«

Jones billigte die Andeutung und versprach, sie zu benutzen. Sie trennten sich darauf, Nightingale, um seine Anna zu besuchen, Jones, um den alten Herrn ausfindig zu machen.


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