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Chouchou

Ich erwachte, als an die Türe geklopft wurde; die Türe öffnete sich, und die Hand meiner Wirtin schob, wie jeden Morgen, das Tablett mit dem Frühstück auf den Kamin neben die zerbrochene Standuhr, die niemand wieder hätte in Gang setzen können. Nur in Paris kann man ein so winziges Zimmer finden und bewohnen. Das Fenster mit seinen alten schadhaften Gardinen und trüben Scheiben ging auf die rußgeschwärzte Feuermauer in einem kleinen Hof. Die uralte schmutzige und zerrissene Tapete mit dem einst goldenen Blumenmuster hatte eine dunkel schwarzbraune Farbe angenommen. Das Bett nahm die Länge einer Wand ein. Die Hand ausstreckend konnte ich das Tablett an mich ziehen. Es lag ein Brief darauf, den ich las, und sein Inhalt bewog mich rascher aufzustehen, als ich sonst in diesen Tagen tat.

So klein, so traurig und düster war das Zimmer, daß nur die Not mich darin bleiben ließ, und die Hoffnung, die dieser Brief mir brachte, war die, daß ich es bald mit einem helleren und größeren würde vertauschen können.

Ich hatte Eile; denn auf dem mattblauen Papier stand, daß ich mich zwischen 11 und 12 Uhr bei Herrn Lecordier in der Rue Médicis einfinden sollte, um, wenn die Besprechung zu einem Ergebnis führte, den Unterricht seines Sohnes zu übernehmen.

Nicht ohne eine gewisse Beklommenheit stieg ich die zwei Treppen empor, klingelte und gab dem Mädchen, das mir aufmachte, eine meiner letzten Visitkarten. Sie öffnete mir die Türe zu einem kleinen Salon, der, wenn er kalt und gewöhnlich aussah, durch die beiden großen, bis zum Fußboden reichenden Fenster mit ihrem geschmiedeten Geländer, den Blick auf den Luxembourggarten und das hereinströmende Licht, reichlich entschädigt.

Ich sah in den Park hinüber und auf die noch laublosen Bäume, die um diese Zeit spärlichen Spaziergänger darin, als Herr Lecordier eintrat. Er hielt meine Visitkarte in der Hand und blickte darauf nieder und dann wieder auf mich. Er war ein hagerer Mann im schwarzen Gehrock, die akademische Palme im Knopfloch; sein Gesicht war schmal und mit Sommersprossen bedeckt, mit einem rötlichen frisierten Bart, rötlichen schon ergrauenden Haaren. Die Augen waren traurig und schienen einen unsicheren Blick zu haben.

»Sie sind uns von Herrn Ricous empfohlen«, wiederholte er mehrmals im Lauf eines kurzen Gesprächs, in dem er mich nach meinen Studien fragte. Dann nahm er seinen schwarz geränderten Kneifer ab und reinigte ihn mit seinem Taschentuch, setzte ihn wieder auf und sah meine Karte an.

Er sagte nichts Endgültiges, und ich wußte nun kaum mehr, als ich beim Eintreten gewußt hatte. Sein Zögern erklärte sich, als eine weibliche Stimme aus dem Nebenzimmer »Sosthène!« rief.

Er ging bis an die Türe, öffnete sie ein wenig und fragte etwas, was ich nicht genau verstand. »Aber ja, aber ja, meine Liebe!« antwortete er wie auf einen Vorwurf; dann verschwand er durch die Türe, die er, als das Gespräch fortgesetzt wurde, hinter sich schloß. Nach einer Weile kam er wieder, und fast unmittelbar hinter ihm eine Dame in einem dunkel schillernden Seidenkleid, der er mich vorstellte und die sich an den Tisch setzte und mich durch ein Lorgnon betrachtete. Es war eine etwa dreißigjährige Frau von üppigen Formen mit dichtem blondem Haar, das einen nicht natürlichen goldenen Schimmer hatte; ihre Haut war sehr weiß und zart; sie war zweifellos hübsch, aber in ihren Augen war ein kalter Ausdruck.

Auch sie sprach kurz von der Empfehlung Herrn Ricous, sagte, daß ihr Sohn kränklich gewesen sei und daher zu Hause unterrichtet werden sollte. Ich erwiderte, daß ich mich bemühen würde, ihn vorwärts zu bringen. Sie schien ungeduldig, fertig zu werden, und Bemerkungen ihres Gatten machten sie sichtlich noch ungeduldiger, obwohl sie es nur durch ein Aufwerfen ihres hübschen Kopfes zeigte. Sie wünschte zu wissen, was ich forderte, und während ich einen Augenblick überlegte, da ich nicht zu wenig verlangen und noch weniger die Stellung, die meine letzte Hoffnung war, verlieren wollte, machte sie ein Angebot, das sehr sparsam war, und das ich annahm.

»Es ist gut,« sagte sie, »wir sind einig,« und aufstehend rief sie: »Georges! Chouchou! komm doch!«

Ein etwa zwölfjähriger Knabe trat ein, sah mich von der Seite an und gab mir, von der Mutter aufgefordert, gleichgültig die Hand. Sein Gesicht war blaß und lang, er hatte die zarte weiße Haut der Mutter und die Sommersprossen des Vaters; er trug das Haar ziemlich lang; es war zurückgekämmt, aber es lockte sich nicht; sein Ausdruck hatte etwas Schläfriges.

Die Stunden begannen am nächsten Tage. Es war weder ein liebenswürdiges noch ein begabtes Kind, das ich zu unterrichten hatte, und es hatte ein höhnisches und scheinheiliges Wesen; aber es war dennoch ein Kind, das man gewinnen konnte; und ich gewann ihn, indem ich mit ihm spielte. Das hatte keiner seiner Lehrer getan und dafür war er, soweit er es sein konnte, dankbar. Er brach, wenn er sich freute, in ein sonderbares kurzes Lachen aus, das nur einen Ton hatte; seine Spielversuche hatten etwas Ungelenkes, und er wurde leicht lärmend. Es war an einem der ersten Tage, die ich dort war, wir saßen an seinem niedern Tisch in dem nicht sehr ordentlichen kleinen Eckzimmer mit dem schrägen Fensterbalkon, das das seine war; Chouchou hatte sich an den Rand seines Bettes gehängt und den Kopf zurückgeworfen und lachte in seiner sonderbaren Art, als Frau Lecordier plötzlich eintrat und mit kaltem scharfen Ton fragte, ob wir nicht besser täten, die Zeit zur Arbeit zu benützen. Ich erlaubte mir, sie darauf aufmerksam zu machen, daß die Stunde längst überschritten wäre, worauf sie sofort mit der liebenswürdigsten Stimme mich tausendmal um Entschuldigung bat, und mir dankte, daß ich mich Chouchou so widmete und mich des armen Jungen annahm.

In der Tat wurde er verzogen und vernachlässigt zugleich. Herr Lecordier betonte bisweilen, wenn ich ihn sah, daß der Zeichenunterricht wichtig sei, für den ich keine Begabung hatte, während der Knabe sonst bald Fortschritte machte. Ich erfuhr später, daß Herr Lecordier selbst an einer Schule Zeichenlehrer gewesen war; jetzt war er Beamter im Unterrichtsministerium.

Nach den ersten vier Wochen machte Frau Lecordier mir den Vorschlag, mich monatlich mit einer runden Summe zu bezahlen, die sehr viel geringer war als das ursprüngliche Stundenhonorar; dafür sollte ich täglich mit der Familie frühstücken und den Tee trinken. Ich nahm dies an. Ich hatte mein düsteres kleines Hotelzimmer aufgegeben und ein angenehmeres und helleres in der Nähe gefunden, das kaum mehr kostete, und es blieb mir immer noch Zeit, für mich zu arbeiten. Ich konnte mich auch endlich wieder anständiger anziehen, so daß einer meiner Freunde, der unter uns »Marat« genannt wurde, mir die schlimmste Verbürgerlichung voraussagte und sich drei Francs von mir auslieh.

Der Mittagstisch, an dem ich teilnahm, war weder unterhaltend noch angenehm. Madame Lecordier hatte eine Art zu sehen, wieviel ich von den Speisen nahm, wieviel Zucker ich in den Tee tat, die, obwohl sie nie ein Wort sagte, einem Verbot völlig gleich kam. Herr Lecordier erschien zerstreut und sorgenvoll; er sprach wenig, fragte vielleicht, ob das Mädchen seinen Seidenhut zum Plätten getragen, erzählte etwas Gleichgültiges aus dem Amt oder von einem Bekannten, und immer antwortete seine Frau mit eben noch merklicher Ungeduld; alles, was er sagte, schien sie irgendwie zu irritieren, und vielleicht war das der Grund, daß er so wenig sprach. Manchmal aber hatten sie lange und heftige Erörterungen in ihren Zimmern hinter verschlossenen Türen, aus denen die kalte scharfe Stimme Madame Lecordiers drang, während ihr Mann zu protestieren oder sich zu rechtfertigen schien. Dann horchte der Kleine ängstlich gespannt und aufgeregt oder auch manchmal hämisch lachend, aber als auch ich einmal unwillkürlich lauschte, weil die Stimmen besonders heftig klangen, da wurde er böse und rief: »Sie sollen nicht ... Das ist nicht für Sie!«

»Sie haben wohl wenig Geld?« fragte er mich eines Tages. »Man muß sehr viel Geld haben.«

»Woher weißt du das?«

»Von Mama.«

Zum Tee kamen an bestimmten Tagen Damen und auch Herren zu Madame Lecordier; ich sah gelegentlich einen oder den anderen der Besucher gehen oder kommen, wenn ich wegging, aber nie war ich im Salon. Eines Sonntags, als ich um Stunden, die entfallen waren, nachzuholen, auch an diesem Tage unterrichtete, traf ich beim Mittagessen einen Gast, den Senator Pontifain. Ich hatte den Namen schon nennen gehört. Es war ein kleiner, etwas beleibter, wohlgekleideter Herr mit grauem Haar und Schnurrbart und blauen, manchmal unruhig blickenden Augen in dem runden Gesicht, das von gesunder roter Farbe war. Der Tisch war an diesem Tage mit Sorgfalt gedeckt und mit Blumen geschmückt, die Gerichte waren zahlreicher und gewählt, der Wein vortrefflich. Das Gespräch war lebhaft und wurde von Herrn Pontifain beherrscht, Herr Lecordier hörte mit vorgebeugtem Kopf gespannt zu, wenn der Senator sprach, und murmelte allenfalls ein paar beifällige Worte. Frau Lecordier stellte Fragen und machte überlegen klingende, aber doch immer für den Gast zuvorkommende Einwände, der ihr seinerseits jedesmal versicherte, daß sie außerordentlich klar sehe, daß die reizendsten Frauen bisweilen auch das schärfste Urteil hätten und ihr sonst galante Höflichkeiten sagte.

Das ganze Gerede der drei Personen war platt und überflüssig, obwohl Herr Pontifain auch von Sitzungen, von einer wichtigen Regierungsvorlage, sowie von einer Unterredung sprach, die er mit dem Minister gehabt hatte. Ich war ihm beim Eintreten flüchtig vorgestellt worden und wurde während des ganzen Mittagstisches nicht ins Gespräch gezogen, aber ich fühlte, daß diese Sätze für mich, um mir zu imponieren, gesprochen wurden. Sobald ich meine Tasse schwarzen Kaffees getrunken hatte, verließ ich mit meinem Zögling das Zimmer. Ich ging an diesem Tag etwas früher fort; zugleich mit mir kam auch der Senator aus dem Salon. Ich ließ ihm natürlich den Vortritt und eilte dann auf der Treppe mit dem schnelleren Schritt meiner Jugend grüßend an ihm vorüber, während er gewichtig, die Rosette der Ehrenlegion im Knopfloch, die Stufen hinab schritt. Er schien nur zugleich vergnügt und nachdenklich zu sein.

Ich hatte schon bemerkt, daß die finanziellen Verhältnisse im Hause nicht glänzende waren; ich konnte es schon daran merken, daß mein Gehalt mir keineswegs pünktlich bezahlt wurde; es war mir oft unangenehm; aber es stärkte im Verein mit meinen Erfolgen meine Stellung. Denn Herr Ricous war einmal dagewesen und hatte Chouchous Fortschritte bestätigt.

Chouchou prahlte gerne und erzählte mir, daß seine Eltern im Sommer eine große Reise ans Meer machen würden, in ein sehr elegantes Bad, und daß sie ihm ein Gewehr und ein Croquetspiel versprochen hätten, sobald Papa ... da brach er ab. Da aber, je mehr meine Gegenwart eine gewohnte wurde, die Gespräche bei Tische mit weniger Zurückhaltung geführt wurden, entnahm ich gewissen Andeutungen, daß Herr Lecordier eine Beförderung erwartete, von der die Familie sich viel versprach, und ich glaubte zu erraten, daß diese Beförderung, oder was es sonst war, von dem Einfluß des Herrn Senators Pontifain abhing, und daß er darum so festlich bewirtet worden war.

Ich hatte eben wieder einmal mein Geld von Herrn Lecordier am Zwölften statt am Ersten bekommen und hatte, nach dem Tee bei dem Madame gefehlt hatte, Chouchou noch bei seinen Aufgaben geholfen und war dann nach dem »Chat blanc« geeilt, das am andern Ende der Rue de Vaugirard lag, wo ich meine Freunde traf. Wir rauchten und tranken und schwatzten Literatur und Politik, und da einer von uns, Joseph Loyset, in einer Redaktion beschäftigt war und gelegentlich in die Kammer kam, so fragte ich ihn beiläufig, ob er den Senator Pontifain kenne?

»Pontifain, Pontifain? warte, – ist das nicht so ein kleiner dicker mit blühendem Gesicht? Er ist eine Null, aber schlau und hat Einfluß.«

»Ein hohles Faß, das obenauf schwimmt«, sagte ein anderer lachend.

»Man sollte diese dreckigen Parasiten einfach abschießen«, rief Marat düster. Er trug langes Haar und einen wirren Bart und eine schlecht sitzende rote Krawatte; übrigens waren wir alle damals revolutionär gesinnt.

Das Gespräch sprang zu anderm über. Wir saßen im Freien; der Abend war warm und die Straße still. Ich stand als einer der letzten auf; Loyset, mit dem ich zu Abend essen wollte, hatte ein Rendezvous und ließ mich im Stich. Ich ging allein durch die dunkelnde Straße, in der bereits die Laternen brannten, und sah eben einem Mädchen nach, als wenige Schritte hinter mir ein geschlossener Wagen anhielt, ein Mann ausstieg und eine Stimme, die mir bekannt vorkam, dem Kutscher eine Adresse nannte. Es war der Mann, von dem wir vorhin gesprochen hatten, der Senator Pontifain. Er entfernte sich in der entgegengesetzten Richtung; der Wagen fuhr weiter und an mir vorüber; der Schein einer Laterne fiel ins Innere; tief in die Ecke gelehnt, wie um nicht gesehen zu werden, saß eine Dame; ich aber hatte zu gute Augen, und obwohl sie Hut und Schleier trug, erkannte ich Madame Lecordier.

Was ging es mich an? – Trotzdem beschäftigte es meine Gedanken.

Beim nächsten Mittagessen fehlte Madame Lecordier. Das kam vor; sie speiste dann später allein. Herr Lecordier aß zerstreut, mit trüben Blicken; Chouchou spielte unaufhörlich mit seinem Besteck, bis ich es ihm aus der Hand nahm. Er wehrte sich, und ich verwies es ihm. Herr Lecordier, der, wenn seine Frau nicht zu Hause war, sich mir gegenüber gern überlegen gebärdete, begann Plattheiten über Erziehung zu sprechen, die vor dem Kind völlig unangebracht waren. Nachher nahm er ihn auf die Knie und küßte ihn; er war ein zärtlicher Vater.

Als ich aus dem Hause ging, fuhr eben ein Fiaker vor, ein offener Wagen, in dem Frau Lecordier saß; sie hatte eine Menge von Paketen, und bat mich, sie ihr abzunehmen und hinaufzutragen; ihre Bitte, trocken wie ein Befehl, verdroß mich; aber da man einer Dame solch einen Dienst nicht gut weigern kann, trat ich an den Wagen: sie belud mich mit den Paketen, dankte, und ich ging ins Haus zurück; während ich die Treppe hinanstieg, hörte ich den Wagen wieder wegfahren. Im Korridor stand Chouchou, überrascht, daß ich wiederkam; neugierig griff er nach den Paketen und half mir, sie in das Boudoir der Mutter tragen, in dem ich noch nie gewesen war; es lag auf der andern Seite des Schlafzimmers, das ich gleichfalls nie betreten hatte, neben dem Zimmer Chouchous, mit einem eignen Ausgang auf den Korridor; nur Herr Lecordier hatte kein eigenes Zimmer. Das Boudoir war mit jener falschen süßlichen Eleganz eingerichtet, die man in solchen Damenzimmern findet: himmelblaue Tapeten mit Guirlanden, rosenfarbene Fenstervorhänge, Nippsachen und Blumentischchen, Albums mit Photographien und schlechte Bilder, und alles roch nach Parfüm. Auf einem unechten Rokokoschreibtisch standen gleichfalls Photographien, darunter groß unter Glas, mit einer Widmung, die Rosette der Ehrenlegion im Knopfloch, den runden Kopf wichtig erhoben, das Bild des Senators Pontifain. In seiner naiven Einbildung erinnerte mich der Ausdruck an den des großen weißen Katers, der in dem Café, in dem wir gestern von ihm gesprochen hatten, auf dem Schanktisch zu sitzen pflegte.

»Das ist ein bedeutender Mann, und unser guter Freund«, sagte plötzlich die Stimme Herrn Lecordiers hinter mir.

So unerwartet kamen diese Worte, daß ich mich umwendete und ihn anstarrte. Und mochte meine Miene, wie das vorkommt, etwas von dem verraten haben, was ich dachte: keiner von uns vermochte seine Blicke abzuwenden; ob es nur Sekunden waren, es schien eine Ewigkeit; dann senkte der Mann seine immer ein wenig müden Augen. Ein Schweigen und eine Verlegenheit entstanden zwischen uns, die beängstigend waren, bis Chouchou es mit seinem sonderbar mißtönigen Lachen unterbrach: »Was habt ihr zwei denn einander so anzusehen, Papa?« fragte er.

Herr Lecordier wollte etwas sagen, er fand offenbar nichts, er stammelte nur ein paar unverständliche Worte und ging aus dem Zimmer.

Da rief der Junge »Papa! Papa!« und lief ihm nach.

Ich beeilte mich gleichfalls fortzukommen. Noch im Kaffee war ich so nachdenklich, daß die andern mich fragten, was mir wäre. Meine Sorge war, die Stunden, die ich so nötig brauchte, zu verlieren. Aber die Wochen vergingen, ohne daß sich irgend etwas ereignete, und jener merkwürdige Augenblick war wie nicht gewesen, wie ja alles Unausgesprochene sich leicht verwischt und vergessen wird.

Dann traf ich Chouchou eines Tags in seinem weißen Anzug, eine Blume im Knopfloch; er wollte durchaus keine Stunde nehmen; denn es sein ein Fest: Papa habe Geburtstag. Ich bestand darauf, schon weil ich nicht wußte, wie Frau Lecordier es auffassen würde. Das Kind war zerstreut und ungezogen, und als es draußen klingelte, war er kaum zu halten. Madame Lecordier öffnete die Türe des Zimmers und bat mich sehr liebenswürdig, Chouchou heute freizugeben. Ich blieb allein und überlegte, ob ich fortgehen oder am Mittagessen, auf das ich schließlich ein Recht hatte, teilnehmen sollte. Chouchou kam indessen mit einem kleineren, sehr geputzten Jungen herein und spielte mit ihm. Dann stürmten beide hinaus und kamen sogleich wieder, und Chouchou teilte mir mit, es würde Torte und Eis geben. Gleich darauf wurden sie in den Salon gerufen. Ich versuchte zu arbeiten. Die Zeit verging langsam, schließlich kam Léocadie, das Mädchen, und rief mich zu Tische. Es fiel mir auf, in wie unfreundlichem Ton sie es tat.

Es waren gar nicht so viel Personen, als ich nach dem Stimmenlärm vermutet hätte. Ich beglückwünschte Herrn Lecordier, der sich eben zu Tische setzte. Neben ihm saß eine magere junge Frau, eine Verwandte, Madame Chippe, die Mutter des kleinen Jungen; aber da auf der andern Seite zwischen ihr und Madame Lecordier, die ein enganliegendes blaues Kleid trug, der Senator Pontifain saß, so schien dieser der Ehrengast des Tisches zu sein, den man feierte. Neben Herrn Lecordier saß Chouchou, dann der kleine André, dann ich und zwischen mir und der Hausfrau Herr Chippe, gleichfalls ein stiller Mann, mit einem dünnen grauen Bart, der mit unendlicher Ehrfurcht zu dem Herrn Senator aufsah.

Das Mittagessen und die Weine waren vortrefflich; das Gespräch wurde lebhaft; sogar Herr Chippe machte statistische Mitteilungen aus seiner Branche – er hatte ein Konfektionsgeschäft – zu den allgemeinen Bemerkungen des Herrn Senators über die wirtschaftliche Lage. Mit dem Eis kam Champagner; die Gläser wurden gefüllt; und Herr Pontifain stand auf:

»Meine Damen und Herren,« begann er feierlich, »wir sind heute nicht an einem gewöhnlichen Tage beisammen: es ist der Tag, der Sosthène Lecordier der Welt geschenkt hat.« Chouchou ergriff seines Vaters Hand und hielt sie fest. Der Senator pries Sosthène Lecordiers Verdienste um die Erziehung der Jugend Frankreichs und um den Zeichenunterricht an den Elementarschulen, erst als Lehrer, dann als Beamter im Ministerium, pries ihn, während Herr Lecordier bald beschämt in seinen Teller und bald strahlend zu ihm aufsah, als Muster eines pflichttreuen Beamten, deutete an, daß der Lohn dieser Pflichttreue nicht lange mehr ausbleiben würde, pries ihn als Menschen und als Freund und als den musterhaften Gatten der liebenswürdigsten, geistreichsten und liebevollsten Gattin, sowie als Vater eines reizenden vielversprechenden Kindes. »Erlauben Sie, mein lieber Freund,« schloß er, »daß ich Sie zu alledem von ganzem Herzen beglückwünsche!« Alle klatschten lauten Beifall, während er, den gerundeten Bauch anlehnend, über den Tisch mit Herrn Lecordier anstieß; auch die andern erhoben sich und ihre Gläser; die beiden Kinder, die einen Tropfen Wein in Zuckerwasser bekommen hatten, stellten sich auf ihre Stühle und riefen »Es lebe Papa!« und »Es lebe Onkel Sosthène!«

Jetzt stand Herr Lecordier auf, nahm den schwarzgeränderten Kneifer ab und putzte ihn mit der Serviette und sah in seinen Teller. »Herr Senator,« begann er, »Herr Senator ... meine lieben Freunde ... ich kann nicht so sprechen, wie ein Mann, der gewohnt ist, auf der Tribüne des Parlaments vor ganz Frankreich zu reden, der heute abend dort sprechen wird. Was Sie mir gesagt haben ... was Sie mir gesagt haben, ... das ist zu viel ..., aber ... ich ...« so weit kam er, dann hatte er den Faden verloren; man hörte nur ein Stammeln von Dank, und er begann zu schluchzen. Vielleicht sah nur ich die Bewegung des Ärgers und des Hohns in den Lippen und Augen seiner Frau ... der Senator Pontifain jedoch war aufgesprungen und auf Herrn Lecordier zugeeilt und umarmte und küßte ihn. Wieder klatschten alle Beifall, und die Kinder schrien, so laut sie konnten. Man ging in den Salon. Der Wein hatte eine gemütliche Stimmung erzeugt; selbst Léocadie servierte jetzt die Liköre und den Kaffee mit ganz anderer Laune, sie erwiderte sogar zu Madames sichtlicher Unzufriedenheit auf einen Scherz, den Herr Chippe sich erlaubte, und erzählte, wie die Kinder ihr immer wieder in die Küche gelaufen waren. Der Senator saß rauchend und pompös in der Sofaecke, und seine Blicke suchten, wie es mir wenigstens schien, ziemlich offen nach der Hausfrau, die sich unter dem Rauschen ihrer seidenen Röcke lächelnd zu ihm setzte, und sein Gesicht mit dem grauen Schnurrbart sah mehr als je wie das unsres weißen Katers aus, wenn er gekraut wurde. Herr Lecordier bot Herrn Chippe und auch mir von den teuren Zigarren an, die er von seinem Freunde, dem Herrn Senator, bekommen hatte; Chouchou und der kleine Andre hatten sich auf Schemel ans Fenster gesetzt und spielten Karten um Geld, wobei Chouchou gewann, bis der kleinere Junge weinte und von seiner Mutter beruhigt werden mußte. Inzwischen servierte Léocadie weiter, und in dem engen Raum stieß sie Herrn Lecordier an, oder er sie; die vollen kleinen Gläschen fielen um und der grüne und gelbe Likör floß auf dem silbernen Tablett zusammen. Madame preßte nur die Lippen aufeinander und winkte mit den Augen. »Oh mein Gott!« rief Léocadie und verschwand. Es mußte mehrmals geklingelt werden, ehe sie wiederkam und nochmals servierte. Der Senator trank lächelnd und stellte sein Glas auf das Tischchen neben ihm. Die Kinder jagten durchs Zimmer, Chouchou stieß an das Tischchen, und der Curaçao floß dem Herrn Senator auf die weiße Weste und die hellgraue Hose. »Oh verflucht!« rief er und sprang auf. Herr Lecordier stürzte mit seinem Taschentuch zu Hilfe, aber Madame hielt ihn zurück und bestellte heißes Wasser; Madame Chippe empfahl Eau de Cologne. Léocadie brachte ein Becken voll heißen Wassers herein und rieb an den dicken Schenkeln des würdigen Mannes. Aber so ginge es nicht, erklärte sie gleich, Monsieur möge die Hosen ausziehen, da sie die Stelle überplätten müßte. Herr und Frau Lecordier waren verzweifelt, aber Chouchou, der sich entschuldigen mußte, lachte schadenfroh beim Zusehen. Der Senator bemerkte es wohl, und ich sah, daß die Wut in ihm kochte. Dennoch begütigte er: er habe ja noch reichlich Zeit, nach Hause zu fahren und sich umzukleiden, ehe die Senatsitzung begann.

Er schien einen Augenblick nachzudenken und stand auf: »Lecordier, mein Freund, hören Sie«, sagte er, und trat mit ihm ans Fenster und sie sprachen leise miteinander. Madame beobachtete sie sehr aufmerksam. Léocadie trug Becken und Tücher hinaus. Herr und Frau Chippe hatten indessen Chouchou und ihrem eigenen Jungen ins Gewissen geredet; sie wollten nun fortgehen, aber Chippe hatte, wie er Madame leise sagte, gleichfalls noch etwas Geschäftliches mit ihrem Mann zu erledigen. »Nicht heute!« erwiderte sie ebenso leise, aber mit so entschiedenen Blicken, daß Herr Chippe, wenn auch kopfschüttelnd, verzichtete. Der Senator reichte ihm nur sehr zerstreut die Hand, während er sich vor Madame Chippe mit gewohnter Höflichkeit verbeugte; man fühlte, daß seine Anwesenheit dem ganzen Mittagstisch für die beiden Chippe etwas Feierliches, fast Gottesdienstliches gegeben hatte. Sie gingen endlich wirklich, Frau Lecordier begleitete sie hinaus, und ich nahm Chouchou in sein Zimmer hinüber. Bald darauf hörte ich die Wohnungstüre nochmals schließen: Herr Lecordier ging wie jeden Nachmittag ins Ministerium.

Eine Weile später hörten wir nebenan die Türe gehen: Madame und ihr Gast waren in dem kleinen Boudoir; wir hörten sie reden und Madame manchmal laut und herzlich lachen. Dann wurde es still.

Durch das offene Fenster drang die heiße Nachmittagsluft herein und von Zeit zu Zeit der ferne Lärm spielender Kinder aus dem Luxembourggarten oder das Rollen eines vorüberfahrenden Omnibusses. Der Wein hatte mich müde gemacht; Chouchou wäre auch jetzt keiner Aufmerksamkeit fähig gewesen, und wir spielten. Plötzlich hatte er einen Einfall; er wollte die Dominosteine seiner Mutter haben, sprang auf, und »Mama! Mama!« rufend, öffnete er die Türe zum Boudoir. Es war leer. Chouchou stürmte durch das Schlafzimmer nach dem Salon hinüber; da er alle Türen offen ließ, hörte ich, wie Frau Lecordier ihn scharf aus dem Zimmer wies. Aber er hörte nicht darauf, und auch ich rief vergeblich »Georges! Georges!« Da hörte ich ganz deutlich den Senator sagen: »Lassen Sie mich machen, Coralie! ... Komm, mein Junge: wir spielen Expreßzug mit Retourbillet!« Einen Augenblick später kam er rasch durch die Schlafzimmertüre, während er Chouchou vor sich hielt und herübertrug. Chouchou brüllte und schlug ihn mit den Absätzen an die Schienbeine und mit dem Kopf in den Bauch. Der Senator setzte ihn nieder, faßte ihn am Ohr und zog ihn ins Kinderzimmer, wo er ihn losließ.

Rasend vor Wut schlug Chouchou mit den Füßen an die Türe, die der Senator hinter sich abgeschlossen hatte, während er gleichzeitig die Hand über das mißhandelte Ohr hielt. Schließlich wurde die Türe wieder geöffnet und Frau Lecordier kam herein; ihr hübsches rundes Gesicht unter den so sehr hellen goldenen Haaren schien völlig ruhig: »Herr Berthaud,« sagte sie zu mir, »bitte, gehen Sie mit Chouchou aus, damit er sich in der frischen Luft beruhigt. Mein kleiner Chouchou, sei artig!«

»Ich will nicht artig sein! der infame Kerl! ich kann ihn nicht ausstehen! ich ...« die Hand der Mutter verschloß ihm den Mund; sie beugte sich herab und sprach in sein Ohr, Chouchou wurde still.

Während des Spaziergangs sprach er kaum ein Wort. Ich setzte mich im Park auf eine Bank im Schatten; Chouchou stand oder spielte versonnen um mich herum. Ich versuchte zu lesen, aber immer wieder schweiften meine Gedanken ab.

Als wir zurückkamen, war das Treppenhaus dämmrig und kühl. Wir mußten lange klingeln; dann öffnete uns nicht Léocadie, sondern Frau Lecordier. Sie war im Hauskleid, das Haar in Unordnung. Sie habe geschlafen und wolle noch schlafen, sagte sie; Chouchou sollte in sein Zimmer gehen und sich vollkommen still verhalten. Von mir schien sie zu erwarten, daß ich sogleich wieder gehen würde.

Das tat ich auch. Unten rief man die Abendblätter aus. »La Presse ...!« »La Patrie ...!« brüllten die Zeitungsjungen auf dem Boulevard Saint Michel. Ich ging zum »Chat blanc«, in dem nur Loyset saß. Der große weiße Kater lag auf dem Schanktisch und blinzelte mich an.

»Wie gehts, Pontifain?« sprach ich ihn an und kraute ihn unterm Kinn; er schnurrte behaglich.

»Du mit deinem Pontifain!« sagte Loyset. »Was hast du mit ihm? woher kennst du ihn? mache dich nur beliebt: vielleicht kannst du etwas abkriegen. Der Mann macht jetzt rasende Geschäfte an der Börse, er und seine Bande.«

Am nächsten Tag, – ich hatte Chouchou seine Stunde gegeben, wie gewöhnlich, – bestand das Mittagmahl aus den Resten vom Tage vorher. Sie waren auffallend gering. Léocadie befragt, erklärte kurz, mehr sei nicht übrig geblieben. Als auch von der Torte und vom Wein fast nichts hereinkam, verlor Madame Lecordier ihre Beherrschung. »Das ist zu stark. Das werden Sie ersetzen, Léocadie!« rief sie.

»Da werden Sie mir erst meinen Lohn für die letzten Monate zahlen müssen!« schrie Léocadie und schlug die Türe hinter sich zu.

»Sosthène!« sagte Frau Lecordier.

»Meine Liebe?« antwortete ihr Gatte.

»Ich ersuche dich, mit Léocadie zu sprechen!«

»Meine Liebe, du weißt, daß mir das nicht liegt und daß es keinen Zweck hat.« Sie stand empört auf. Er folgte ihr begütigend. »Warte nur acht Tage; Pontifain hat mir ...« und sie verschwanden beide durch die Schlafzimmertüre.

Ich ging hungrig vom Tische.

Die acht Tage vergingen, ohne daß sich etwas besonderes ereignet hätte. Dann war ein Sonntag, und am Montag mußte Chouchou aus irgendeinem Grunde mit seiner Mutter ausgehen. Ich sollte darum erst abends kommen, ihn zu unterrichten.

Vorher war ich im Café. Meine Freunde saßen in eifrigem Gespräch. »Wieder ein Panama!« rief der eine.

»Wie?« fragte ich.

Loyset wies auf die Zeitung. Ich las: »Große Skandale in der Kammer. Der Immunitätsausschuß tritt zusammen. Man spricht von einer Krise.« »Da, dein Freund Pontifain ist auch dabei!«

»Mein Freund!«

»Er hat sich auch schon in Sicherheit gebracht.« Er las: »Der Senator Pontifain ist gestern nacht nach Brüssel abgereist. Er wird vorläufig nicht zurückkehren.«

Unwillkürlich sah ich mich nach dem Kater um. Er war nicht da.

»Wenn man diese schmutzigen Räuber nur alle hängen würde!« sagte Marat.

Ich stand auf, denn es war Zeit, zu meinem Schüler zu gehen. Als ich aus dem Kaffeehaus trat, sah ich den Kater vorsichtig um die Ecke schleichen. »Hast du auch Aktien bekommen?« rief ich.

Ich dachte lebhaft über das künftige Schicksal der Familie Lecordier nach, während ich mich nach ihrer Wohnung begab.

Ich ging die Treppe hinauf. Das Haus war mir plötzlich unheimlich geworden. Auf mein Klingeln öffnete Léocadie. Grußlos verschwand sie wieder in die Küche. Die Wohnung schien leer; auch in dem kleinen Kinderzimmer war niemand.

Ich wollte Léocadie fragen; da hörte ich ein Geräusch im Boudoir nebenan. Die Türe war halb offen; ich sah Chouchou und trat ein.

Chouchou war allein; er stand an dem kleinen Schreibtisch, er hatte das Bild des Senators Pontifain aus dem Rahmen gelöst und hielt es in der Hand. Er sah mich nicht kommen, sah auch seinen Vater nicht, der, wie damals, von der anderen Seite erschien. Mit wutverzerrtem Gesicht sah er auf das Bild; dann spuckte er es an, warf es zur Erde und trat mit dem Fuße darauf.

Herr Lecordier sah dies, wurde bleich, machte einen Schritt vorwärts, faßte Chouchou beim Kragen, und dieser sonst so zärtliche Vater gab seinem Sohne zwei schallende Ohrfeigen. Chouchou brach in ein wildes Geheul aus und stampfte und schlug mit den Füßen.

Herr Lecordier hob das Bild auf, reinigte es und befestigte es sorgfältig wieder in dem Rahmen. »Er weiß noch nichts!« dachte ich.

Eine Stimme rief: »Sosthène!«

»Coralie?« rief er zurück, durch den Ton ebenso betroffen wie Chouchou, der zu weinen aufhörte.

In der Türe, eine Zeitung in der Hand, stand Madame Lecordier. Nie habe ich ein so verstörtes, blasses Gesicht gesehen. Im nächsten Augenblick drückte sie die Zeitung zusammen, warf sie von sich und entfloh wieder und schloß die Türe hinter sich ab.

Ich rief Chouchou in sein Zimmer. Die Stunde, die ich ihm gab, wollte nicht viel heißen.

Am anderen Tage wurde mir gekündigt.

*


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