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Die Tochter des Antichrist

Der Zufall der Wanderung hatte Neville Charlestone in das Dorf geführt. Nun saß er in der dämmernden Stube des Gasthofs am Fenster und blickte auf den stillen Platz vor der Kirche hinaus. Die Sonne war hinter dem Kirchendach verschwunden und leuchtete nur noch durch die Baumwipfel; vor einer Haustür stand ein grüner Strohsessel, auf dem eine Katze lag. Mit einemmal erscholl aus einer Seitengasse ohrenbetäubender Lärm; eine ganze Schar Burschen und Mädchen, mit grünen Zweigen in den Händen, stürmten auf den Platz und bildeten einen Kreis um einen verborgenen Mittelpunkt. Eine Weile war es still, dann ertönte das gleiche durchdringende Geschrei wieder. Der Kreis verschob sich, und Charlestone konnte einen alten Mann sehen, der ein junges Mädchen am Ohr gefaßt hielt. Er wollte sich bereits empören und gegen die Überzahl einschreiten, als er auch schon bemerkte, daß hier nichts Schlimmes geschah. Der Alte ließ sein lachendes Opfer los und schien zu sprechen. Auf seine kurze Rede folgte lautes Beifallsklatschen, und der ganze Schwarm marschierte singend und johlend hinter dem seltsamen Führer über den Platz, dicht an dem offenen Fenster vorüber, an dem Charlestone saß. Es war ein langer hagerer Greis; aus einem schmalen seinen Gesicht glühten zwei große wilde Augen hervor; auf dem kahlen, von flatternden weißen Haaren umrandeten Kopf trug er einen grünen Blätterkranz; das Antlitz war emporgerichtet, so daß der lange weiße Bart seltsam abstand, die Arme warf er bald zum Himmel empor, bald schlug er sie übereinander; so schritt er wild und feierlich vorüber und verschwand mit dem tollen Zug um die Ecke. Die Katze war vom Stuhl gesprungen, Hundegebell erscholl, der Geistliche kam aus dem Pfarrhof; eine ältliche magere Frauensperson hinter ihm; andere würdige Leute traten hinzu, und alle besprachen den Vorfall in sichtlicher Erregung. Jetzt aber verstummten sie und blickten mit strengen, sittlich beleidigten Mienen nach der andern Seite des Platzes, und Charlestone, der wie in der Loge eines Theaters saß, in dem für ihn gespielt wurde, sah eine wunderliche Schönheit auftreten. Sie trug ein einfaches, weißes, am Halse tief ausgeschnittenes Kleid, das auf der Brust mit sonderbaren goldgestickten Zeichen geschmückt war; an den nackten Füßen trug sie Sandalen, auf dem Kopfe einen breiten Strohhut; ihr Gang war edel, der Ausdruck des sonngebräunten jungen Gesichts kummervoll. Sie kam rasch auf den Geistlichen zu; der aber wehrte sie mit feierlich ausgestreckten, beschwörenden Armen ab, als ob etwas Unreines und Verderbliches sich ihm nahen wollte, und kehrte ihr, als sie trotzdem zu ihm sprach, unhöflich den Rücken zu. Sie stand betroffen vor feindseligen und spöttischen Gesichtern, als eine große Dogge über den Platz gesprungen kam und mit wütendem Bellen auf den Geistlichen losfuhr; dieser wich zurück und schrie halb ängstlich, halb drohend, man möge den Hund entfernen, der ihm immer wieder an die Beine fuhr und zuletzt einen seiner schwarzen Rockschöße mit den Zähnen erfaßte. Vergeblich rief das Mädchen den Hund zurück, während sie selbst von den Frauen, namentlich von der älteren mageren Person aus dem Pfarrhause tätlich bedroht wurde. Der kleine hilfeschreiende Pastor und das ungefüge triumphierende Hundemaul, das den ergriffenen frommen Rockschoß knurrend festhielt, boten einen so lächerlichen Anblick, daß der Fremde im Fenster sich vor Lachen schüttelte. Aber wie erstaunte er, als über ihm ein helles Hohngelächter antwortete, das sein Kichern nachahmte. Unwillkürlich bog er sich aus dem Fenster und sah empor ... da erhielt er einen so heftigen Stoß, daß er mit dem Kopf an den Fensterrahmen schlug: ein ländlicher Polizist war, der Wand des Hauses entlang laufend, unsanft und eilig an ihm vorüber gestreift. Aus seinem Revolver feuerte er einen Schuß auf den Hund ab, der niemanden traf. Das gleiche helle Lachen wie vorher erscholl, und nun hüpfte ein schlanker, blonder Knabe auf den Platz, den Charlestone für einen Seiltänzer zu halten neigte; denn er trug ein scharlachrotes Leibchen und an den Beinen Leinwandhosen, gelbe Strümpfe und Sandalen. Unbekümmert um das Getobe faßte er den Hund am Halse, zwang ihn, das Maul zu öffnen, befreite den scheltenden Mann, und er wie das Mädchen zogen sich, von vielen entrüsteten Schmähreden verfolgt, mit dem von seiner Leistung sichtlich erfreuten Hunde zurück.

Lange noch standen die erregten Gruppen auf dem Platze vor der Kirche, während Dämmerung sie allmählich umfing und es im Schatten der Bäume düster wurde. Endlich hörte Charlestone seinen Wirt ins Haus treten, den er über all das Gesehene befragen wollte; aber er gab seine Absicht auf, da er zum voraus wußte, daß er den Dialekt der Gegend doch nicht verstehen konnte.

Der folgende Tag war ein Sonntag, und beim Pastor mußte die Lösung des Rätsels zu finden sein. Ihm stellte er sich, nachdem er dem ländlichen Gottesdienst beigewohnt, als fremder Amtsbruder vor und wurde zum sonntäglichen Mittagstisch im Pfarrhause gebeten. Der Pastor war Witwer; nur die Haushälterin, die Charlestone am Tage vorher unter den handelnden Personen gesehen, deckte in einem verschlissenen schwarzen Kleide, mit fromm verärgertem Gesicht, einen reichlichen Tisch. Dies war auch schuld daran, daß Charlestone die erste Auskunft, die sein Wirt ihm gab, mißverstand, weil sie mit zu vollem Munde gegeben wurde.

»Die Salvation Army?« fragte er.

Der Pastor schlug die Hände zusammen, dann beugte er das schmalzulaufende sommersprossige Gesicht zu seinem Gast hinüber, so daß die kurzen, borstigen, weißglänzenden Haare den anderen beinahe berührten, und sagte stark: »Was Sie für die Heilsarmee hielten, war der Antichrist!«

»Der Antichrist?«

»Jawohl! So muß ich's nennen!« Und mit steigender Erregung erzählte er, daß ein Mann, der bedauerlicherweise den besseren Ständen angehörte und ein großes Gut im Sprengel besäße, aus der Landeskirche ausgetreten sei, was schon deshalb sehr peinlich gewesen, weil er weit und breit die größte Kirchensteuer bezahlt hätte; und er sei ausgetreten, weil er den entsetzlichen Gedanken gefaßt hätte, das Heidentum wieder einzuführen ...«

»Das Heidentum?« fragte Charlestone interessiert.

»Das Heidentum! Zu diesem Zweck sei er herumgereist und habe Vorträge gehalten, und sein Wandel sei immer christenfeindlicher geworden. Seinen Kindern und seinem Gesinde habe er verboten, je wieder eine Kirche zu betreten, und habe jeden aus dem Hause gewiesen, der es dennoch getan; seine Söhne und seine Tochter hätten nackend auf der Wiese gespielt; das habe er, der Pastor, und einer der Herren Kirchenältesten und ein Offizier, der noch dazu ein Vetter des Unseligen, selber gesehen, obwohl sie zu diesem Zweck mittels einer Leiter auf einen hohen Baum hatten steigen müssen! Auf einem Hügel habe der alte Mann einen Altar errichtet und dort mit seinen Kindern Sonnentänze und in hellen Nächten Mondreigen getanzt, mit Blumen im Haar und wüstem Schnickschnack und Scheußlichkeiten aller Art.«

»Er, der Pastor, hätte nichts dagegen tun können?«

»Er habe wiederholt versucht, warnend einzuschreiten, aber der schreckliche Alte habe sich seine Besuche verbeten und dressiere seine Hunde auf die Geistlichkeit!«

» O yes, ich habe Sie gestern in Schwierigkeiten gesehen.«

»Fürchterlich!« sagte der Pastor. Die Haushälterin begann zu weinen.

»Der neue Tuchrock«, klagte sie, »und die Schandperson!«

»Über das Vieh dürfe niemand sich wundern«, sagte der Pastor wieder. »Für fünf Pfennige habe der Hirtenjunge ihm verraten, daß sie dort oben an den Opfersteinen Zicklein geschlachtet und verbrannt hätten! Solange sie ihren Frevel auf eigenem Grunde getrieben, sei nichts dagegen zu tun gewesen, aber nun komme jener in die Gemeinde herab und suche die Jugend zu verführen.

Und wenn man schon über ihn lache, so lache man doch auch über den Pastor und die Kirche, besonders die Schuljungen ...«

»Oh!« sagte Charlestone bedauernd.

»Der Spott aber sei das verwerflichste aller Mittel der Hölle! Und da müsse die vorgesetzte Behörde, an die er die Anzeige schon erstattet, einschreiten!«

Noch manches erzählte ihm der arme Pastor, den er zuletzt mit den tröstlichen Worten verließ, daß es in England ähnliche Narren gebe. Aber seine Neugier war nicht befriedigt, vielmehr aufs höchste gespannt.

Er war ein Frühaufsteher, und am nächsten Morgen machte er sich auf die Wanderschaft nach den Sonnenhügeln. Die Vögel sangen, in den stahlfarbenen Gräsern leuchtete der Tau, ein stiller Glanz lag auf der Erde. Bald schritt er, von Morgenlüften umweht, über die heidebewachsenen steinigen Hügel hin. Auf einmal brannte ihm ein stechender Glanz, ein Leuchten und Strahlen in den Augen; irgend etwas flammte in unnatürlichem Licht auf den Anhöhen. Wunderlich erregt schritt er weiter, bis er erkannte, daß, was er gesehen, die Strahlen der Morgensonne waren, aus seltsamen Metallgeräten, Weihrauchfässern und Schildern zurückgespiegelt, die auf einem mächtigen Holzstoß gehäuft waren und aus deren Mitte eine eherne Stange zum Himmel ragte. Rings herum standen zwölf dunkle behauene Steine, an denen er Spuren von Feuer, und, wie ihm schien, auch von Blut entdeckte. Er umschritt den Holzstoß von allen Seiten, und oben erklang dumpf das Metall, als er mit dem Fuße unten an die Scheiter stieß. Plötzlich stand er lauschend still: ihm war, als hätte er einen Seufzer vernommen. Weit und breit war niemand zu sehen, nur morgenstille Täler und einsame Hügel. Doch! Etwas regte sich oben auf dem Scheiterhaufen. Er rief. Keine Antwort.

Er begriff die Täuschung und setzte sich; da ging ein Knistern vernehmlich durch das Holz, und er hörte ein Schluchzen.

Das Jünglingsgesicht, um das die Haare an den Schläfen schon ergrauten, flammte auf; mit raschen Griffen sportgewohnter Arme hatte er den Holzstoß erklettert, – da färbte eine noch viel dunklere Röte seine Wangen, als sich ihm der befremdendste Anblick bot: neben den Opfergeräten lag ein nacktes Weib.

Das Gesicht von ihm abgekehrt und von den dunkeln Haaren halb bedeckt, lag der große, schlanke, junge Körper da; er sah, daß sie gefesselt war. Bestürzt fragte er, ob er sie befreien solle. Eine erstickte Stimme bat ihn darum. Vorsichtig löste er ihre Bande und half ihr vom Holzstoß herab: das ging nicht anders, als daß er sie, unten stehend, in seinen Arm auffing und zur Erde gleiten ließ. Dann stellte er sich in aller Form vor. Dankbar und tief verwirrt sah sie ihn an und mußte zuletzt lächeln.

» Take it easy. please!« stammelte er. Da wurde sie feuerrot und barg das Gesicht in den Händen. Doch sie besann sich sogleich wieder. »Kommen Sie schnell!« rief sie. »Sie werden gleich wieder da sein!«

»Wer?« rief er.

»Mein Vater, mein Bruder! Kommen Sie!«

So geschah es, daß der Reverend Neville Charlestone mit der nackten Schönen über die einsamen Wiesen schritt. Ihr Zustand schien sie nicht mehr zu verwirren; er aber hatte das Mädchen erkannt, das er am Abend vorher aus dem Platze gesehen, und fuhr fort, zu erstaunen.

Felsen umgaben sie; die Sonne schien warm; sie schöpfte ein wenig Atem, und ernst, mit wohlklingender Stimme und schönen Gebärden erzählte sie ihm die sonderbare Geschichte, die er, von der anderen Seite gesehen, bereits kannte. Sie schloß: »Seine Gedanken sind schön, das müssen Sie glauben. Der Vater ist ganz rein, aber ich fürchte, er ist krank und meine Brüder auch. Ich habe ihm viel zuliebe getan, habe alles aufgegeben ihm zuliebe; aber zuletzt verlangte er unmögliche Dinge: wir sollten alle nackt mit ihm durch das Dorf ziehen! Ich habe mich geweigert. In der Nacht kam er und sagte, es sei ihm offenbart worden, daß er mich der Sonne opfern müsse ...«

»Religiöser Wahnsinn!« sagte Charlestone.

Das schöne Mädchen nickte. »Dann haben sie mich hierher gebracht, mußten aber wieder zurück, um Messer oder Feuer zu holen. Das Haus ist weit.«

Das seltsame Paar schritt weiter durch die morgendliche Heide, ungesehen. Sie hatten bereits einen Plan entworfen. »Auch mein kleiner Bruder muß gerettet werden«, sagte sie. Und jetzt wies sie freudig auf ein Haus im Tal. »Dort nimmt man mich auf!«

Sie hatten es indessen noch nicht erreicht, als sie von oben her drei lange Gestalten niedereilen sahen.

» Dont be afraid!« sagte er, faßte ihre Hand, lief mit ihr bis zu dem kleinen Hause und blieb vor der Türe stehen, durch die sie verschwand.

Da stand der alte Mann schon vor ihm, heftete die glühenden Augen in die seinen, und legte ihm die Hand auf die Schulter: »Wo ist meine Tochter?« brüllte er.

»Sie werden da nicht hineinkommen!« Charlestone streckte die eine Faust ein wenig vor, während er die andere senkte, in Kämpferstellung.

Der seltsame Greis prüfte Charlestones gewaltige Armmuskeln durch den rauhen Stoff der Reisejacke und nickte befriedigt. Zu seinen Begleitern sagte er etwas, was der Engländer nicht verstand. Dann verlangte er seine Tochter wieder, und der lange Jüngling, dessen Augen in ebenso wirrem Feuer funkelten, faßte Charlestones Arm. Der aber schob ihn mit einer Bewegung sanft und weit weg.

Der alte Mann lachte dröhnend. »Bravo« schrie er, und der alte, ebenso närrische Diener, der als Dritter mitgekommen war, wiederholte mit Grabesstimme: »Bravo!« »Aber die Tochter müsse er haben,« fuhr jener fort, »sie sei zu Höherem bestimmt; und Liebeleien dulde er nicht, und daß dies eine Liebelei sei, das habe er schon seit Wochen beobachtet!«

Charlestone begann sich zu ärgern; da trat eine kräftige Bäuerin aus der Tür, nicht schweigend! Was sie sagte, verstand Charlestone nicht, aber daß es tüchtige Reden sein mußten und die Frau eine Bundesgenossin, auf die man zählen konnte, das erkannte er an der empörten mütterlichen Stimme, an ihrer entschlossenen Haltung. Der Alte aber hatte indessen das Mädchen erblickt, das ländlich gekleidet hinter der Frau aus dem Hause gekommen war. »Hierher!« rief er. »Gehorsam und achtungsvolles Benehmen!«

»Ich gehe nicht mit dir zurück, Vater!« antwortete sie.

»Ich werde für die junge Dame sorgen,« rief Charlestone, »ich bin ein englischer Geistlicher, Neville Charlestone, Vicar of ...«

»Ein Geistlicher!« unterbrach der alte Mann ihn mit solcher Donnerstimme, daß selbst Charlestone betroffen zurückwich, »pfui! meine Tochter und ein Geistlicher! Tochter!« rief er, »willst du einen Geistlichen zum Mann nehmen?«

Da ward das Mädchen purpurrot und vermochte nicht zu antworten. Aber Charlestone hatte jetzt verstanden. »What nonsense!« sagte er. »Zum Mann nehmen! Ich bin sehr glücklich verheiratet und Vater von zwei Kinder ... Genug! ... Stand off, old fool! ...«

Und nun wäre es zwischen den Klugen und den Toren zum Kampf gekommen, wenn nicht andere Personen auf dem Schauplatz erschienen wären: der Pastor, der Bürgermeister, zwei Gendarmen und zwei fremde Herren, der eine davon in Uniform.

Da erhoben die Narren ein wüstes Geschrei und riefen Wodan und Thor an, während die andern mit strengen, kalten Formen vorgingen; denn es war eine behördliche Kommission, die zu dem Alten geschickt worden war, der aller Vorladungen nicht geachtet hatte. Der Arzt nickte prüfend und befriedigt während der Szene, und der Herr in Uniform nahm Rücksprache mit ihm. Es war nicht hübsch zu sehen, wie der alte Mann mit den flatternden weißen Haaren von den Gendarmen gefesselt wurde; aber über dem Streit der Tollen mit den Hütern der Ordnung ward das Mädchen vergessen.

Am andern Tage fuhr ein verschlossener Wagen aus dem Dorf, in so dämmernder Frühe, daß nur wenige, die zur Arbeit gingen, ihn wahrnahmen: der wilde Sonnenanbeter und sein Sohn saßen darin und fuhren nach einem ebenso verschlossenen Haus. So behielt der gute Pastor recht.

Es drängte Charlestone einen Augenblick, nochmals hinaufzugehen und das schöne Opfer, das nun oben die Herrin ward, wiederzusehen. Aber er bedachte sich und tat es nicht.

*


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