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Das Konzert

Es war vielleicht nur, weil sie gerade ihr langes braunes Haar offen trug, als er sie sah, und weil sie so schlank und so jung war. Sie hatte ihr Haar gewaschen und nicht gedacht, daß sie auf der gedeckten kleinen Terrasse, auf der sie in der frühen Vormittagssonne saß, gesehen werden könnte. Das kleine runde Fenster in der Galerie hatte sie vergessen. Dort war der Kapellmeister gestanden und hatte nach ihr gesehen, und jede Bewegung ihres langen biegsamen Leibes nahm seine Seele gefangen.

Auf dem Tennisplatz, wo er nur ein Zuschauer war, hatte er sich ihr vorstellen lassen und im ersten Gespräch entdeckt, daß sie ganz von Musik erfüllt war; und wenn er von da an zur Freude der Kurgesellschaft sich viel leichter zum Spielen bewegen ließ und immer herrlicher spielte, so erriet das zarte, scheue und doch selbstbewußte Kind, daß es ihr galt.

Im Winter nahm sie bei ihm Stunden. Sie wußte jetzt erst, was sie selbst vermochte. Ihre Schwester Georgine saß mit ihrem blassen Gesicht und langen Kinn am anderen Fenster, eine Arbeit oder ein Buch in den Händen. Sie hatte keinen Sinn für Musik. Ungeduldig, da ihr nichts lästiger war als dieser Duennadienst, kam sie oft spät, ging während der Stunden aus dem Zimmer, kam bisweilen nur auf Augenblicke herein.

Und so war der Tag gekommen, an dem der Graf den Musiklehrer seiner Tochter im schwarzen Rock mit rotbraunen Handschuhen über den langen Händen in sein Zimmer treten sah: wie immer, wenn er erregt war, beim Sprechen lachend, hielt er bei ihm um die Hand seiner Tochter Else an; und nachdem er es gesagt, strich er sich nervös über die Stirn und das lange blonde Haar, während er den Hut in der rotbraun behandschuhten Hand auf den Knien hin und her schob.

Graf Roswyl sagte später, daß er sich nie im Leben so beherrscht hätte. Der lange, hagere, weißbärtige Herr, dessen Reizbarkeit schon aus den harten blauen Augen, dem roten Gesicht, der tiefen rollenden Stimme zu erkennen war, hatte es vorgezogen, den Mann als Wahnsinnigen zu behandeln. Er hatte rasch von etwas anderem gesprochen und dann, immer ärgerlicher werdend, als der Kapellmeister von seinen Aussichten, von einer Oper zu reden begann, die in nächster Zeit aufgeführt werden sollte, wiederholt: »Ja, ja, denken Sie an Ihre Arbeit, junger Mann, Ihre Aufgabe, Ihre Pflicht! lassen Sie Gedanken, die ... die ... die unver ..., die lächerlich sind ...! lassen Sie sie!« Und als der Musiker, gleichfalls völlig aus der Fassung gebracht, meinte, daß er dann wohl besser täte zu gehen, stand der Graf auf und sagte: »Ja, ja, gehen Sie! Schade, schade, daß meine Tochter Ihre Stunden, die ja ganz zufriedenstellend sind, nun verlieren muß. Schade!« Damit hatte er die Türe geöffnet, und Wirth war gegangen.

Dann, als Elsie eintrat, hatte er sie gebeten, sich durch ein etwas zurückhaltenderes Betragen in Zukunft solchen Beleidigungen nicht mehr auszusetzen.

Sie aber wollte in Wirths Antrag keine Beleidigung sehen. Der Graf blieb einen Augenblick sprachlos. Soweit seine Haltung und der ewige Zwang seiner Lage, – denn er war pensioniert und für seinen Rang und Titel sehr arm, – ihm Gefühle überhaupt gelassen hatte, war sie sein Liebling gewesen. Mit ihr hatte er hie und da die stets gleichen zärtlichen Scherzworte gewechselt. Jetzt schrie er sie an und schalt, und sie ging nicht ohne Tränen aus dem Zimmer. Der Graf setzte sich erregt an seinen Schreibtisch, an dem er Zeitungen zu lesen und die Hof- und Personalnachrichten auszuschneiden pflegte.

Die Wohnung – sie hatte nur fünf Zimmer – war leer. Gina kam an diesem Tage spät nach Hause. Ihre Empörung, als sie von der Sache erfuhr, war noch viel heftiger als die des Vaters, und ebenso entrüstet war ihr Bräutigam, ein langer Kürassier, der jeden Sonntag zum Mittagessen kam. Dieser Mittagstisch war karg und trübe; denn um gut gekleidet zu gehen – vor allem der Papa sah immer tadellos aus, – um einen ganz jungen Diener und eine alte Köchin halten und erhalten zu können, mußte an allem andern gespart werden. Und obgleich der Junge und die Köchin oft monatelang auf ihren Lohn warten mußten, vergingen sie in Ehrerbietung, wenn sie die spärlichen Schüsseln auftrugen. Dann saß der Papa schweigsam und steif und ärgerlich bei Tische und Gina verstimmt und mißmutig von Sorgen und dem unendlichen Warten auf die Heirat; der Kürassier redete etwas mehr, aber seine Erzählungen interessierten höchstens den Grafen. Nur Elsie war fast immer vergnügt gewesen. Nun war auch sie traurig und bitter geworden und schwieg.

Schlimmer noch war es bei Nacht; denn die Schwestern hatten nur ein Schlafzimmer, und Gina fand Worte, bei denen die jüngere Schwester sich verworfen fühlte und heiße Tränen in die Kissen weinte. Aber eines Abends, als Gina, die vor dem Spiegel stand und ihre Locken eindrehte, wieder von dem »Plebejer« sprach, mit dem Elsie sich eingelassen, da sagte diese, die schon im Bette lag, heftig: »In vier Jahren bin ich großjährig, und dann heirate ich ihn doch. Dann könnt ihr mich nicht hindern!«

»Ich verstehe deine taktlose Anspielung recht gut«, rief die ältere Schwester.

Aber Elsie hatte sich im Bette zur Wand gekehrt; sie erwiderte nichts mehr und dachte nach. Sie war die Tochter der zweiten Gräfin Roswyl und hatte von ihrer Mutter ein kleines Vermögen geerbt; ohne die Zinsen, die es trug, konnte das Haus auch so wie bisher nicht geführt werden. Das machte sie traurig.

»Bis dahin wirst du wohl zur Vernunft kommen«, sagte Gina, die noch immer vor dem Spiegel stand, jetzt ruhiger.

Sie redeten lange nicht mehr von der Sache, die vergessen schien, bis Gina entdeckte, daß Elsie heimlich Briefe von ihrem Freund bekam und Gelegenheiten fand, ihn zu sehen; da wurde sie zu einer Verwandten auf ein Gut geschickt. Dort konnte sie nicht immer bleiben; sie hätten sie in eine Heilanstalt gesperrt, wenn das nicht so teuer gekommen wäre.

Inmitten dieser grausamen Quälereien und Verdrießlichkeiten, vor deren peinlichem Bekanntwerden die Familie sich sehr fürchtete, faßte das Kind seinen unklug klugen Plan, den es zuerst dem Bräutigam der Schwester mitzuteilen sich entschloß. Sie ließ ihn um eine Unterredung bitten und bot ihm an, wenn man sie in Frieden ihren Freund heiraten ließe, so wolle sie die Kaution für die Schwester erlegen; sie sei nun einmal ein schwarzes Schaf, das die andern verloren geben müßten; jenes Mannes Frau würde sie früher oder später in jedem Fall, aber gerne würde sie es in Frieden mit ihrer Familie werden und der Schwester und ihm dadurch ihr Glück bereiten.

Er wies den Handel rundweg von sich, und Gina, die er ins Zimmer rief, sagte: »Niemals!« Aber sie waren seit sechs Jahren verlobt, und sie konnten noch zehn Jahre des Wartens vor sich zählen. In wenigen Stunden änderte sich ihre Stimmung und Ansicht. Das verlockende Bild war einmal in ihren Seelen, und was zuerst schändlich erschienen, kam ihnen bald erträglich und vernünftig vor. Im letzten Augenblick hatte Otto, so hieß ihr künftiger Schwager, ritterliche Bedenken; aber Elsie beruhigte ihn: ihr Verlobter werde durch seine Oper ganz andere Reichtümer erwerben; auf diese wenigen tausend Mark könnten sie in Ruhe verzichten.

Das war auch Wirths Meinung.

Der Graf, der anfangs durchaus nichts von diesem Plan wissen wollte, ließ sich allmählich davon überzeugen, daß die unglaubliche Heirat der jüngeren Tochter nicht abzuwenden war und so immerhin eine vorteilhafte Folge haben würde. Sie stellten ihm auch vor, daß Elsie in ihrer Leidenschaft einen » Coup de téte« versuchen könnte. »Ja, auch ihre Mutter war unberechenbar«, sagte Graf Roswyl. Er sprach jetzt fast gar nicht mehr bei Tisch; nur seine Lippen bewegten sich manchmal zornig; die harten blauen Augen sahen gleichsam in sich hinein, und manchmal schüttelte er den schmalen weißbärtigen Kopf.

Eine ganz stille Hochzeit ohne Gäste und ohne Anzeigen bedangen der Graf und Gina sich aus, und damit waren Elsie und Wirth einverstanden. Dieser machte einen Besuch, bei dem er zwar viel lächelte und lachte, sich aber sonst sehr bescheiden und ruhig benahm; auf der Straße mußte er dann hell auflachen, als er dachte, wie er mit diesen merkwürdigen Puppenmenschen gesprochen hatte.

Er hatte in diesen Tagen einen großen Erfolg; alle Zeitungen schrieben über eine Symphonie, die der Tonkünstlerverein aufgeführt hatte. Der Graf zuckte nur die Achseln, während es Otto, der ein wenig mehr in der Zeit lebte, imponierte; aber darüber, daß sich Wirth auf ein Podium stellen und vorspielen mußte, spottete auch er. »Nachher tritt er vor und verbeugt sich!« sagte er, »aber absammeln geht er nicht!«

»Es hätte ja auch ein Leierkastenmann im Hof sein können. Wir können Gott danken«, sagte Graf Roswyl grimmig.

Elsie und Wirth wurden in einem kleinen, wenig besuchten Kirchlein getraut: ein Freund Wirths spielte auf der Orgel eine Kantate, die der Bräutigam zum Text des Hohen Liedes komponiert hatte. Außer ihm waren nur noch die zwei Zeugen, Freunde des Kapellmeisters, da. Aber die schlanke junge Braut ging unter dem Schleier sehr stolz durch den leeren, hallenden Raum. Ihr war, als stünde sie beklommen und mutig auf einem hohen, hohen Berg, jenseits der irdischen Welt; von der Orgel klangen die Töne, die der Mann, der sie liebte, für die Musik dieses Tages gefunden hatte.

Ginas Hochzeit folgte bald darauf, feierlich im Glanz der Uniformen, in blumengeschmückter Kirche, mit einem kleinen Festmahl mit Champagner und Tischreden. Der Ersparnis wegen zog der junge Reiteroffizier nach der Hochzeitsreise mit seiner Frau in die väterliche Wohnung, die Elsie verlassen hatte. Der Graf behielt seine Zimmer; das Ehepaar nahm das frühere Schlafgemach der Mädchen; Empfangs- und Speisezimmer blieben gemeinsam.

Jeden zweiten Sonntag kamen Elsie und ihr Mann um vier Uhr zum Speisen. Schon daß er den Frack dazu anlegen mußte, machte ihm den Gang unbehaglich, und er sah auch sonderbar darin aus. Nie kam er pünktlich, und jedesmal saß der Graf mit mühsam beherrschten Unwillen da, wenn die beiden beim zweiten oder dritten Gang eintraten; seine Lippen zuckten heftig; jedesmal sah Otto nach der Uhr, und jedesmal stammelte Wirth irgendeine Entschuldigung, auf die nichts erwidert wurde. Dann scherzte er wohl über sich selber, und auch zu Ottos Burschen, der in weißen Handschuhen bei Tisch servierte, redete er scherzhaft und führte Gespräche mit ihm, bis der Leutnant diesem ein für allemal das Antworten verbot, so daß Wirth den nächsten Sonntag erst ihn, dann alle anderen verblüfft ansah, während Gina dem Burschen mit einem Blick weiter zu servieren gebot. Den Wein, der Sonntags auf den Tisch kam, goß er in das unrichtige Glas; denn obwohl stets nur eine Flasche dastand, wurden doch jedesmal weiße und grüne Gläser auf den Tisch gestellt. In keinem Gespräch fand er den Weg zu den anderen, noch sie zu ihm, und wenn Elsie, die den sonntäglichen Zusammenhang nicht lösen wollte, ihn um Nachsicht bat, weil sie liebevoll für alle empfand, so sprang er das nächstemal, um sich liebenswürdig zu erweisen, auf, wenn irgend jemandem bei Tisch etwas fehlte ...

Wie befreite Vögel kamen sie nach Hause. Wenn er wieder am Flügel saß und spielte, oder wenn er sie übermütig aufs Sofa warf und küßte, war das Leben wiedergefunden.

»Es ist ganz sonderbar!« sagte sie, »du bist eigentlich schön; und wenn du spielst, am schönsten; aber wenn du bei uns zu Hause bei Tische sitzest ...«

»Da habe ich aber auch Ameisenlaufen im Gehirn«, sagte er, »und einen Krampf in den Gliedern.«

Als aber seine Oper immer wieder nicht aufgeführt ward, begann er empfindlicher zu werden.

Und dann hatte Elsie Taufe. Der Graf kam nicht; aber Gina und Otto kamen. Sie stiegen aus dem Wagen, sie traten in die Sakristei, wo die Familie wartete, besichtigten den Täufling, schritten durch die Kirche, als wären sie allein da. Wirths Bruder, der Kaufmann war, dienerte und grüßte, und wunderte sich, daß weder der Offizier, noch seine Frau dies je bemerkten.

Diesmal lachte Wirth nicht; aber Elsie warf ihm einen bittenden Blick zu, und er schwieg.

Er sprach auch nachher nicht darüber, da ihn andere Sorgen mehr quälten. Da sie seine Unruhe bemerkte, gestand er ihr: wenn das Tauffest bezahlt wäre, wüßte er nicht mehr, wie sie im nächsten Monat leben sollten. Es ging indessen, solange die Stunden reichten, bis der Sommer kam. Sie riet, er sollte nun ein Konzert geben; aber er wußte, in dieser Jahreszeit würden die Kosten höher sein als der Ertrag.

Im Nebenzimmer weinte das Kind; und da auch ihr die Tränen kamen, ging sie. – Er kam ihr nach und fragte zögernd:

»Ob deine Leute uns nicht helfen könnten? dir wenigstens?«

»Sie haben ja selbst nichts«, antwortete sie.

»Sie haben deine vierzigtausend Mark.«

»Auf die haben wir verzichtet.«

»Ja, verzichtet. Aber Noblesse oblige! Was würden wir tun, wenn Gina verzichtet hätte und in Not wäre?«

Sie ging am nächsten Tage selber hin. Ihre Familie war sehr erstaunt und im Grunde verletzt über ihr Ansuchen. Man sagte ihr, daß es ausgeschlossen wäre: Otto brauchte ein neues Pferd, Gina, die zur Erbprinzessin eingeladen war, eine neue Toilette; während der Papa in diesem Sommer nach Wiesbaden zur Kur sollte. Es war ausgeschlossen.

Sie wußte nicht, was sie sagen sollte; ihr war, als müßte sie sich entschuldigen.

»Bettelwirtschaft!« sagte der Graf durch die Zähne, als sie fortgegangen war. Er war so nervös und erbittert, daß er gleichfalls ausgehen mußte, um sich zu beruhigen. Auf Ginas Bitte ging auch Otto fort und kaufte dem Papa ein Kistchen teurer Zigarren, um ihn abends aufzuheitern.

Elsie kam sehr betreten nach Hause und sagte ihrem Manne, Hilfe von ihrem Hause sei ausgeschlossen.

»Gut, gut«, sagte er, sah sie einen Augenblick an und ging ins Nebenzimmer. Erst hörte sie seine Schritte, wie er auf und ab ging. Jetzt spielte er, erst jäh abreißende Motive, dann schwoll es kräftig an. Sie hörte ihn noch den Flügel schließen, das Zimmer und die Wohnung verlassen und fortgehen. Indessen warf sie sich aufs Bett und wunderte sich, daß sie nicht weinte.

Nach einer Stunde kam Wirth zurück. Sie sah ihn fragend an: er fuhr sich mit der Hand durch das blonde Haar, und über sein Gesicht, das männlicher geworden war, flog ein Lachen. »Wir werden doch ein Konzert geben,« sagte er, »und es wird ziehen. Wir spielen beide. Elsie Roswyl! da kommt alles! Lohr«, er nannte seinen Freund vom Konservatorium, »hat die Idee gehabt.«

»Aber so heiße ich ja nicht mehr ...«

»Das macht nichts; du trittst unter deinem Mädchennamen auf!«

»Zu Hause werden sie es nicht recht finden.«

»Ja, was noch alles! Sie wollen uns nicht helfen. Das können sie uns nicht verbieten!«

»Und ich kann ja nicht genug!«

»Du kannst besser spielen als ich!«

Sie wußte wohl, wie gut sie spielte. Sie lächelte.

An einem der nächsten Tage kam Otto sehr aufgeregt nach Hause; beim Ausreiten hatte er die Plakate gesehen; er nahm Gina beiseite: sie wollten dem Papa nichts sagen. Otto hatte Dienst, und es war ihm, als sähen seine Regimentskameraden ihn anders an, als hätte der Oberst ihm gegenüber eine sonderbare Miene aufgesetzt. Als er nach Hause kam, trat Gina ihm weinend entgegen. Der Papa war nichtsahnend ausgegangen, eine Nelke im Knopfloch, und hatte, von gespannten Spaziergängern umgeben, – denn man kannte den alten Herrn gut in der Stadt, – das Plakat gelesen und es vor allen Leuten mit seinem Stock zerstoßen und herabgerissen. Sie fürchtete einen Schlaganfall, so heftig war sein Zorn und seine Aufregung. Gina hatte bereits an Elsie geschrieben, sie möge sofort kommen, der Papa wolle sie sprechen. Aber Elsie antwortete, sie könnte jetzt nicht fort, weil sie zuviel zu tun hätte, und schickte eine Einladung zu ihrem Konzert.

Gina fragte ihren Mann, ob sie die Schwester aufsuchen sollte. »Nein,« sagte Otto, »das fällt uns nicht ein.« Es war ihm ein Gedanke gekommen. Er ließ sich beim Polizeipräsidenten melden und schilderte diesem den Zustand und die Gefahr seines Schwiegerpapas.

Wie erstaunte der Kapellmeister, als er am nächsten Tage seine Plakate überklebt fand und man ihm bei der Konzertagentur, zu der er sogleich eilte, sonderbare Schwierigkeiten machte und ihm riet, das Konzert abzusagen. Er kam in Wut und gebrauchte gegen den Agenten grobe Worte.

Zum Mittagessen kam er nicht nach Hause, sondern suchte seinen Freund Lohr auf, der ihn zu einem anderen Freunde, einem Journalisten, mitnahm. Dieser, ein blonder, wohlbeleibter, friedlich aussehender Mann mit einer Goldbrille vor den großen Augen, lächelte zu ihrer Erzählung.

Am nächsten Tag erfuhr er, daß die Polizei das Konzert untersagt hatte, weil die Sitzreihen in dem Saal, in dem es stattfinden sollte, nicht nach den Vorschriften der Sicherheitsbehörde angelegt waren und dem Podium zu nahe kamen; außerdem war in der Anmeldung ein Formfehler entdeckt worden. Wirth wurde sehr blaß.

Elsie saß inzwischen zu Hause und nährte ihr Kind oder übte. Sie war voller und schöner geworden. Wirth hatte bei einem Freunde einen Garten geplündert und ihr eine Menge Rosen und einen blühenden Fliederast, den er über die Schulter tragen mußte, mitgebracht, als er zu ihrer Angst so spät nach Hause gekommen war; er konnte ihr auch zehn Mark für den Haushalt auf den Tisch legen, die Lohr ihm geliehen hatte.

Am nächsten Tage ging er zu dem Agenten, um ihm zu sagen, daß er gegen das Verbot Berufung einlegen und von ihm Ersatz für den Schaden fordern werde. Aber der Agent war vollkommen verändert und machte ihm wichtige Vorschläge.

In der gelesensten Zeitung der Stadt war mit der Überschrift »Kunst und Polizei« ein Artikel erschienen, der den »Kampf gegen das Plakat« lächerlich machte. Telegramme über das verbotene Konzert gingen durch alle Blätter, und selbst in den Berliner Zeitungen standen heitere oder empörte Bemerkungen. »Eine bessere Propaganda hätten Sie sich gar nicht wünschen können, Herr Kapellmeister«, sagte der Agent. Der größte Saal, den die Stadt hatte, wurde gemietet und die Preise erhöht; dennoch waren in zwei Tagen alle Plätze vergriffen. Auf dem Plakat stand jetzt »Frau Else Wirth-Roswyl«.

Ihr Mann strahlte so, daß auch Elsie siegesgewiß ward; aber alle Nöte dieser Tage hatte er ihr nicht gesagt, nichts vom Verbot, noch seine Vermutungen. Im Gegenteil: »Nun werden unsere beiden Namen berühmt, und das muß sie doch freuen,« sagte er, »das ist doch der Sinn des Adels.« Das sah sie ein; denn die Meister der Musik waren ihr die höchsten Menschen der Erde.

Am Abend vor dem Konzert kam ihr plötzlich der Gedanke, nun doch noch hinzugehen und den Papa und die Geschwister selbst einzuladen, damit sie sicher kommen sollten. Sie ging in froher Aufregung; voll Erwartung stieg sie die schmale teppichbelegte Treppe hinauf, die sie so oft als Kind emporgelaufen, an den kleinen Blumenständern vorbei, bis zu der dunklen Wohnungstüre. Ottos Bursche öffnete. Sie hörte verschiedene Stimmen, öffnete die nächste Türe – ihr Vater stand vor ihr. Sie sah nur die zwei hellen blauen Augen, die sie lieb hatte, sie wollte sich herabbeugen, seine Hand zu küssen: da hob er die Hand und schlug sie rechts und links ins Gesicht.

Sie stieß einen Schrei aus und eilte aus dem Zimmer, aus der Wohnung, die Treppe hinab, zu einem Wagen, der sie nach Hause brachte. Vor dem Spiegel sah sie die roten Zeichen auf ihren Wangen, die ihr Mann viele Male küßte. Sie weinte die ganze Nacht, dann machte sie in ihrer entschlossenen kleinen Seele der Vergangenheit ein Ende.

Als sie zum Konzert fuhren, saß sie sehr blaß im Wagen in ihrem schwarzen Kleide, dem einzig guten, das sie besaß, außer ihrem Brautkleid; aber sie hatte schlank aussehen wollen. Im Gürtel hatte sie zwei rote Rosen. Sie sprach kein Wort. Wirth mußte den kleinen Vorhang des Wagenfensters auf ihrer Seite herablassen, weil sie in den noch sommerhellen Straßen nicht gesehen und erkannt werden wollte. In einem der hohen Spiegel des Vestibüls sah sie, daß sie schön war.

»Selbst Vertreter der Berliner und Münchener Blätter sind da«, sagte der Agent zu Wirth im Künstlerzimmer.

Zuerst spielte er allein. Der Beifall schien ihr selbstverständlich, er spielte ja so unerhört gut.

Als sie auftrat, empfing sie stürmisches Händeklatschen aus dem größten Teil des Saales. Von anderen Bänken antwortete Zischen. Sie wurde dunkelrot. Erneuter Beifall folgte und wieder Zischen. Da sah sie mit einem herausfordernden und fröhlichen Kinderlachen in den Saal. Als sie auf den Flügel zuging, war ihr, als säße sie auf einem großen braunen Irländer, den sie einst geritten, und müßte ein großes Hindernis sicher nehmen.

In einer Loge saß ein Prinz, der für die Kunst Sinn hatte und eigene Wege zu gehen liebte. Einst auf einem Ball war er Elsies Tänzer gewesen. Er gab das erste Zeichen zum Applaus, als sie geendet hatte.

Dann spielte sie mit ihrem Mann zusammen; da war sie ganz ruhig; sie fühlte sich in seinen Händen. Und als nachher die Saaldiener immer neue Blumen aufs Podium trugen, fand sie, daß er wie ein Sieger aussah.

Sie wußte auch, was dieser Sieg bedeutete.

Otto aber ließ sich in eine andere Garnison versetzen und Graf Roswyl zog mit ihm.

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