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Das Diamantkreuz

Ein grauer frostiger Morgen in der Nähe des Meeres. Ferne Trompetensignale klangen aus dem Nebel. Aus dem dünnen Gehölz hinter der Wiese kamen zwischen den Baumreihen einzelne Reiter hervor, dann ihrer mehr und mehr in dichtem Zug.

Unter dem hohen Himmel lagen die weiten durchschnittenen Grasflächen Hollands. Grauweiß zog sich die Straße über den langen Damm; daneben ein kalter, dunkel gekräuselter Streif, das Wasser des Kanals. Auf dem fernen Querdamm, der den Horizont schloß, hob eine einsame Windmühle sich von den Wolken ab.

Die Reiter hielten; ein Schnauben und Stampfen, ein leises Rasseln der Kürasse, oder ein Klirren, wenn die Pferde auf die Stangen bissen. Unter breiten Federhüten finstere Augen, übernächtige Mienen.

Aus der Ferne kam ein dumpfer schwerer Ton herüber, kam wieder und wieder, die Erde begann leicht zu zittern.

An einem Weidenbaum hielten auf ihren schönen Rossen zwei junge Offiziere und blickten schweigend hinaus.

»Darville, mein Freund ...«, sagte plötzlich der eine.

»Ja, mein Freund?«

»Ich möchte dir etwas sagen.«

»Nun?« Der Ton war freundlich, aber die Augen sahen gespannt in die Ferne und die Gedanken flogen mit ihnen.

»Höre Darville!« Er legte die Hand auf des andern Arm und sah ihm nachdrücklich ins Angesicht. Dieser wurde sogleich aufmerksam. Der reden wollte, senkte das Haupt, sah an den in den Bügeln vorgestreckten Fußspitzen vorüber zur Erde und sagte zögernd: »Ich werde diesen Tag nicht überleben. Ich weiß, daß ich heute fallen muß.«

»La Peyroûle, mein Freund, was sprichst du da?«

»Erwidere nichts. Ich weiß es. Ich fühle es so bestimmt, wie ich alle Ereignisse in meinem Leben vorausfühlte. Wichtig war keines – ist auch dieses nicht. Aber ich möchte nicht im Schmutz für die Krähen liegen bleiben. Wenn es dir gelingt, meinen Leib zu finden, so laß ihn verscharren. Benachrichtige meinen Bruder, den Marquis: es wird ihm wenig Kummer machen, dennoch schickt es sich, daß er es erfahre. Grüße mir deine Frau, Anne de Clamecy, der ich in Ehren ergeben war, und lebe selbst tausendmal wohl!«

»La Peyroûle!«

»Dieses Kreuz, das ich immer trug und das geweiht ist, sollst du eurer kleinen Suzanne bringen, daß sie es zur Erinnerung an mich trage ...«

Er nestelte an seinem Halse und bemühte sich, das Kreuz unter Wams und Küraß hervorzuziehen, aber er mußte es lassen, und dem Freund, der ihm wehren wollte, wurde die Erwiderung abgeschnitten durch das Kommando zum Vorrücken.

Sie ritten zu Vieren über den Damm in kurzem Trab, während die Trompetensignale von allen Seiten zu tönen begannen und der Lärm der Geschütze näher kam.

Da, ein Fluchen von vorn. Der Damm ist am Ende abgebrochen, unten brausen die schwarzen Wasser im Morgenwind und darüber führt nicht Brücke noch Weg; hüben und drüben sind schroffe Wände. Ein rasselndes Halten, dann ein Stauen und Bäumen, ein Schnauben zurückgerissener Pferde – verflucht der Esel, der sie hierher geschickt!

Ein furchtbares Krachen dröhnt dicht vor ihnen; die Windmühle oben auf dem anderen Damm geht in Flammen auf; rot zuckt das Feuer in den grauen Himmel. Hinter der Mühle kommen kleine bewegte schwarze Gestalten hervor, eilen den Damm entlang; jetzt werden sie kleiner: sie knien. Aus den dichtgereihten Rohren blitzt es: und Pferde überschlagen sich und stürzen, Männer rasseln auf den Steindamm oder ins Wasser hinab. Der Pallasch ist nutzlos, und mit ihren Faustrohren können sie nichts ausrichten.

Den hintersten Reihen gelingt es, abzufallen. Kehrt! Schwer reiten sie zurück mit den unruhigen ausbrechenden Tieren, über die Leiber der Gefallenen. Der Damm ist mit gestürzten Rossen, blutenden Menschen und Waffen bedeckt, das dunkle Wasser von Blut gerötet.

Nun sind sie wieder am Gehölz. Aber die Wiesen wimmeln bereits von fremdem Fußvolk, überall blinken ihnen die blauen Stahlhauben entgegen. Irgend etwas ist mißglückt; sie wissen nicht eigentlich wo; sie ziehen sich am Gehölz zurück, Pallasch oder Terzerol in der Faust, aber von allen Seiten starren die Piken. Jetzt schiebt ein riesiger Pikenier mit bärtigem Antlitz den Spieß in grimmigen Fäusten gegen Darvilles Brust. Der drückt das Faustrohr auf das Gesicht ab und fehlt; zu spät greift er nach dem Pallasch; etwas schlägt an ihm vorüber, das bärtige Gesicht gleitet rechts an ihm vorbei und schwindet: sein Pferd hat ihn fortgerissen. Er weiß, La Peyroûle hat den Stoß aufgefangen, und während er sich mit Arm und Korb und Klinge deckt, blickt er zurück und sieht den Freund mit durchstoßener Brust auf der Erde liegen, den einen Arm noch sonderbar emporgestreckt, im weißen Gesicht ein verzerrtes Lächeln, das ihm zu gelten scheint. Dann ist er schon weit weg; stampfende, brüllende Massen vor ihm, neben ihm, hinter ihm; und er selbst auf dem ewig schaukelnden, stampfenden, rasenden Tier fortjagend, er weiß nicht wohin.

 

Am späten Nachmittag, nach langer vergeblicher Mühe, – denn ein Gehölz, ein Damm, ein Baum ist wie der andere, und zehnmal glaubten sie an der Stelle zu sein, und waren es nicht, – kommen die Suchenden an den gleichen Ort.

Darville springt vom Pferd und umarmt den steifen Körper, küßt das kalte, blasse Gesicht, auf das seine Tränen heiß niedertropfen. Weinend löst er das Band im Nacken und zieht das diamantene Kreuz unter dem durchbohrten, eingestoßenen Küraß, dem zerrissenen Kollet hervor. Es funkelt im trüben Licht, ein paar Steine sind beim Stoß der Eisenspitze abgesplittert, an dem seinen, glatten Holz und zwischen den Steinen klebt dunkles, geronnenes Blut.

Dann ordnet er, so gut es geht, die Gewande des Toten, zieht die mit Blut und Kot bespritzte, zerrissene weiße Schärpe zurecht, und sie vergraben ihn, so tief sie können, und stecken zwei Hölzer über dem Grab in die Erde. Sie sprechen ein kurzes Gebet und bekreuzen sich, dann sitzen sie auf und galoppieren davon.

 

Sechs Wochen später, als die Kanäle sich mit einer dünnen Eisrinde überzogen und die Wiesen und Bäume mit Reif und Schnee, da fluteten die weißen Fahnen und Schärpen auf französische Erde zurück.

In jedem Quartier ließ Darville für den Gefallenen eine Messe lesen; er schickte einen Boten zum Marquis von Dannefleur, der ihm den Tod seines jüngeren Bruders meldete; und als er selbst heim zu seinem Weibe kam und ihr vom Kriege erzählte, da brachte er ihr auch die Grüße des Freundes und berichtete ihr seinen Tod, und wie er für ihn gestorben war.

Sie wurde sehr blaß und weinte schmerzlich bei dieser Nachricht, und er umarmte sie und weinte mit ihr. Denn beide hatten in dem Toten ihren besten Freund gesehen. Dann zog er das Diamantkreuz hervor und reichte es ihr.

Sie sah den Schaden daran: »Das soll nie ersetzt werden«, sagte sie und küßte das Andenken. »Das hätte er selbst verdient, der für dich das Leben ließ.«

Sie hing das Kreuzlein dem Kinde um; da Suzanne aber noch sehr klein war, nahm sie es wieder an sich und hob es auf, damit das Kind es nicht verlieren oder verderben sollte.

Während des ganzen Winters sah Darville seine Frau nicht froh werden. Sie schmückte sich zu den Festtagen und tanzte, wenn er es begehrte, aber wenn auch das zarte Gesicht sich rötete, die Augen blickten schwermütig und die Hände sanken ihr bald müde zur Seite herab.

Davon aber ward auch ihm das Herz schwer und beklommen, denn er sah, daß sie seiner Liebe nicht mehr froh wurde, wie vorher.

Als die Luft wärmer wurde und der Schnee auf den Wiesen schmolz, begann Darville seine Kriegswaffen instand zu setzen. Da schlang Anne de Clamecy die Arme um ihren Gatten und sagte flehend: »Geh' nicht von mir! Diesmal ist kein La Peyroûle mit, dich zu schützen! – bleibe bei mir! Laß uns nicht ganz allein!«

Er küßte sie und sagte ihr viele Gründe, warum er ins Feld müßte; und als die Heere auszogen und der Befehl von seinem Obersten kam, ritt auch er dem Rheine zu.

Aber er kam unverletzt zurück, und sie hielt ihn lange umschlungen.

Am Abend hörte er sie leise singen; und als das Fest St. Martin im Winter kam, da legte sie ihr hellstes Seidenkleid an. Was an ihr auffiel, war, daß sie dunkle Augen und aschblondes Haar hatte. In dies Haar hatte sie Perlen und grüne Blätter getan.

Auch die kleine Suzanne war festlich gekleidet worden; als sie jedoch bei Tische ihre Mutter so geschmückt sah, da verlangte sie noch ihr Kreuz, »das Kreuz, das die Mutter immer küßt«, sagte sie.

»Eitles Kind ...« hatte diese eben begonnen; bei den Worten des Kindes verstummte sie. Einen Augenblick später stand sie auf, brachte das Kreuzlein und hing es der Kleinen um.

»Mein, mein Kreuz«, sagte diese und drückte inbrünstig das Mündchen darauf.

Auf all dies hatte Darville gar nicht geachtet; erst als er das Kind so tun sah, lief der Schall der Worte, die eben an sein Ohr geklungen, und die Bilder, die sie weckten, gleichsam nochmals in seinem Geiste ab, und ihm ward, als legte sich etwas auf seine Brust und drückte ihm das Herz entzwei. Er blinzelte mit den Augen ... seine Frau sah auf ihren Teller nieder, das Kind drückte noch immer das Diamantkreuz mit seinen ungeschickten Händchen an den Mund, während eine Ewigkeit vergangen schien. Da klangen ihm die Worte im Ohr, die sie vor Jahresfrist gesprochen hatte: »Das hat er verdient, der um dich gestorben ist!« und aus seiner Brust kam ein schwerer Seufzer. Sein Weib aber sah nicht auf; nur aus ihren Augen fielen die Tränen nieder. Keines sprach ein Wort, der Diener trug die nächste Schüssel auf, das Mahl ging zu Ende, und Henri von Darville stand auf und schritt schwer aus der Stube.

Die Knechte meldeten Hirsch- und Wolfsspuren, aber er ging nicht zur Jagd. Tagelang saß er und grübelte. Sie sah es wohl, aber sie sagte nichts – still, fast unhörbar ging sie dem Hauswesen nach.

Eines Abends stand er vor der Türe des Schlafgemachs und hörte sie laut und inbrünstig ihr Gebet verrichten. Er trat ein, sie betete weiter, ohne sich umzusehen. Schweigend wartete er, bis sie geendet hatte. Als sie sich von den Knien erhob, blickte sie nach ihm; die blonden Locken hingen wirr um seinen Scheitel, das kindlich weiß und rotwangige Antlitz war verändert, und er kaute an seinem Schnurrbart. Sie ging im Zimmer hin und her und machte sich an der Wäschetruhe zu schaffen.

»Anne,« sagte er plötzlich, »wann hast du zum letzten Male gebeichtet?«

Sie blieb regungslos stehen. »Mittwoch nach Allerseelen«, erwiderte sie.

»Ich darf dich nicht fragen, was du gebeichtet hast ...« begann er.

»Nein, das wäre Sünde.«

»Aber du darfst es mir freiwillig sagen ...«, sie machte eine abwehrende Bewegung. »Wenn dich eine Schuld drückt, Anne ...«

Fragend blickte sie in seine Augen.

»Anne de Clamecy, mein Weib, liebst du mich noch wie einst?«

»Ich liebe dich, Henri!«

»Ja! – und du hast immer nur mich geliebt?«

»Ich habe dich geliebt, seitdem ich dich kenne!«

Ein Schweigen. Dann sagte er mühsam: »La Peyroûle hat dich geliebt!«

Auch sie schwieg, ehe sie erwiderte: »Darum ist er für dich gestorben, Henri!«

»Ich weiß es. Aber ich kann nicht leben, wenn ich nicht weiß, was ich wissen muß. Kannst du mir schwören, Anne, daß du immer nur mich geliebt hast?«

»Wie kannst du fragen, wie zweifeln?«

»Wenn ich leben soll, Anne ...«

»Ich ... will ... dirs ... schwören!«

»Nicht so, Anne. Entweder du bist treu gewesen, und dann will ich mich vor dir auf der Erde wälzen und die Buße tun, die du begehrst ...«

»Ich begehre keine ...«

»Oder du bist nicht treu, dann kannst du auch meineidig sein.« Er zündete die Kerzen am Schrein an: »Schwöre es mir bei dem Kreuz, das du küssest, bei deinem Kinde schwöre ...«

Da zitterte die Frau und sie sprach: »Ich will dir's schwören ... wie du es verlangst. Aber erst höre mich an.« Sie wollte reden, aber sie vermochte es nicht. Endlich hob sie die Hand und einen Finger; ein wenig vorgebeugt stand sie und hielt den Finger starr in die Höhe; die Falten ihres seidenen Kleides schimmerten im Kerzenlicht, als sie sprach: »Du weißt, wie wir uns kannten und wie wir verlobt wurden; und du weißt, daß du niemanden so rühmtest und von niemandem soviel erzähltest, wie von deinem Freunde La Peyroûle.

»Und wie La Peyroûle kam und bei uns wohnte, still, wie einer, der viel sagen könnte, spöttisch und doch nachsichtig gegen uns, deiner und meiner spottete er nie, und immer war Freundschaft in seinen Augen. Oft saß er lange schweigend, und wenn wir ihn fragten, was er denke, dann lächelte er nur und sagte: ›Nichts.‹

»Und du weißt auch, wie er war, sanft und doch mit einem Willen begabt, dem man sich fügen mußte; du tatest stets, was er dir riet! So stark war sein Wille, daß er starb, als er sterben wollte. Nun höre: eines Tages sagte er mir, daß nicht nur du allein mich liebtest ... und ich verstand, daß er von sich sprach und war traurig um ihn. Damals sprach er ... noch viel zu mir ... und eines Tages riet er dir, in den Krieg zu ziehen, und ihr tatet es. Wer weiß, was er dachte? Damals glaubte ich beinahe, daß er Gott versuchen wollte ... erst, als du heimkamst, verstand ich, was er gewollt!

»Seither bin ich traurig um ihn und uns und weine; und ... manchmal ist mir als ... hätte ich ihn lieb gehabt ... verstehst du das?«

Sie war rot und blaß geworden; aber er schüttelte den Kopf und sagte: »Du hast mir das nie erzählt, Anne. Ich kann nicht wissen, was La Peyroûle gewollt hat. Aber ich muß wissen, ob mein Kind das meine ist!«

Sie stöhnte, sie schrie beinahe.

Darville hatte das Zimmer verlassen, und trug das schlafende Kind in seinen Armen herein und legte es in das Bett der Mutter. Dann nahm er das Kreuz, dessen Steine im Licht funkelten, hielt es vor sie und sagte: »Sprich nach: ich schwör bei diesem Kreuz, und bei dem Seelenheil des, dem es gehörte, daß ich dir treu war, und ich bete ..., daß dies Kind leben und glücklich sein möge, so wahr es das deine ist!«

Sie hob die Hand, totenbleich, und begann ihm nachzusprechen ... aber sie sah das Kind an, und sie ließ die Hand sinken, und schwur nicht.

Darville stieß einen Schrei aus und einen Fluch.

»Er ist für dich gestorben, Henri!« rief sie.

»Ja, nachdem er mir getan, was mich nicht leben läßt!«

»Du willst auch mich töten?«

Aber er sah sie nur starr an und sprach kein Wort.

Sie warf sich vor ihm zur Erde nieder und griff nach seinen Händen, die sie nicht von seinem Haupt zu entfernen vermochte.

»Aber das ist alles vorbei! ich liebe dich und ich bin dir treu! ich bin selig mit dir!«

Aber er sah sie nur starr und finster an und regte sich nicht und antwortete nicht. Da faßte die Frau ein Schrecken, und sie ergriff das Kind und lief aus dem Zimmer.

Ihr Mann kam erst am anderen Morgen heraus, bleich und müde. Im Schlosse fand er weder seine Frau noch die kleine Suzanne. Anne de Clamecy war bei Nacht mit ihrem Kinde entflohen.

Er war allein.

Auch Darville ist im Kriege gefallen.

*


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