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Heimroths Verlassenschaft

Wir sprachen vom Einfluß, den Menschen, oft ohne es zu wissen und zu wollen, auf das Schicksal anderer nehmen und Heil oder Unheil bringen.

»Sie haben sicherlich von Carl Heimroth gehört«, sagte der Justizrat.

»Dem Erfinder?« erwiderte ich, »ich erinnere mich eines wissenschaftlichen Skandals ...«

»Der ist es. Da war sein Ruf schon beschädigt. Ab«r ich kannte ihn noch auf der Höhe seines Lebens, als ich selbst noch sehr jung war. Einer der ungewöhnlichsten Menschen, denen ich begegnet bin. Schon seine Erscheinung war eine bedeutende: stattlich und sehr männlich; nicht eigentlich elegant, aber er sah immer gut aus: ein schöner Kopf mit aufstehendem graublondem Haar und leuchtenden Augen, und ein wahrhaft bezwingendes Organ. Man mußte ihn vortragen oder erzählen hören, ihn hören, wenn er in Männergesellschaft einen seinen oder üppigen Witz anbrachte und sein dröhnendes Lachen erscholl. Er war viel gereist, ein großer Jäger in allen Erdteilen; dann sah man ihn wieder in Wien, Paris, London bei den Rennen und im Foyer der Theater; die Nächte verbrachte er in Ballsälen, Gesellschaften oder an schlimmeren Orten. Von Zeit zu Zeit aber zog er sich zurück, und einige Monate später kam eine bedeutsame chemische Abhandlung, eine neue Entdeckung heraus; unter anderem hat er, glaube ich, ein Verfahren gefunden, auf dem die ganze heutige Seifenfabrikation beruht. Es waren immer wichtige, wenn auch für die Menge nicht augenfällige Entdeckungen, die ihm Summen einbrachten, die vielleicht überschätzt wurden, aber doch sicherlich recht hohe waren, und die immer wieder hinschmolzen, weil er sogleich müßig ging, die Hände öffnete, ausgab und genoß. Einmal hatte er eine ganze Flucht von Zimmern auf dem Boulevard des Capucines und ein riesiges Laboratorium, ein ganzes Haus, in Clichy, wo er Experimente machte, während er in der Pariser Wohnung Gelage gab, wie sie nur ein Mensch von kultiviertem Geist und halbwilden Sinnen feiern kann.

In solch einer Nacht hatte ich ihn kennengelernt, und vom Wein und von seiner Rede und Persönlichkeit begeistert, wagte ich ihm zu sagen: »Sie müssen doch ein sehr glücklicher Mensch sein!« Es war vier Uhr morgens und die meisten Gäste schon fort; zwei hübsche Frauenzimmer lagen schlafend auf den Sofas; wir saßen noch am Tisch; nach meinen Worten stand er auf: »Jedenfalls bringe ich kein Glück!« sagte er mit sonderbarem Lachen, riß die Vorhänge zu seinem Schlafzimmer auseinander und ging.

Er hatte eine wunderbare Frau geheiratet. Aber Carl Heimroth konnte auch mit dem Glück nicht haushalten; er betrog sie, obwohl er sie heftig liebte, vom Augenblick hingerissen, immer wieder. Und seine Lebensführung war so sehr die gleiche geblieben, daß in dem entzückenden Hause, das er ihr hier eingerichtet hatte, heute eine wundervolle Gastlichkeit geübt wurde, und drei Wochen später der Gerichtsvollzieher erschien und der erschrockenen Frau die Seidenkleider und das Silbergeschirr, die Teppiche und Möbel pfändete. Es kam soweit, daß, während Heimroth wieder einmal in Petersburg oder London Unterhandlungen wegen einer neuen Erfindung pflog und seit Wochen nichts hatte von sich hören lassen, seiner Gattin in der verödeten Wohnung nicht ein Pfennig blieb, so daß sie, zu stolz und zu verwundet, um irgend jemanden um Hilfe anzugehen, nachdem sie das letzte Mädchen entlassen und den ganzen Tag nicht geheizt und nicht gegessen hatte, zuletzt elend und verzweifelt an dem nebligen Winterabend am Kanal umherirrte; man weiß nicht, was sie tun wollte oder getan hätte, wenn sie nicht zufällig der Assistent und Mitarbeiter ihres Mannes, ein Doktor Neyen, dort getroffen hätte, der sie trotz dem Schleier erkannte und die fast Willenlose mit sich in seine Wohnung nahm, wo seine Gattin, eine seine und liebenswürdige Frau, sie zu Bett brachte und in den nächsten Tagen beherbergte. Neyen hatte noch in derselben Nacht an Heimroth telegraphiert, und dieser war mit dem ersten Zuge abgereist und zurückgekommen. Wie Frau Neyen erzählte, bat er seine Frau nicht um Verzeihung, sowie sie ihn ohne Vorwurf aufnahm, – sondern riß sie nur an sich, und sie feierten ein Liebesfest, neue Flitterwochen. Dann tat er etwas Vernünftiges; er hatte seine Erfindung glänzend verkauft und legte das Geld, das er dafür bekam, beiläufig ein« Viertelmillion, für seine Frau – und das Kind, das sie bald darauf trug – fest, derart, daß ihm jedes Verfügungsrecht über dieses Kapital und jeder Anspruch darauf für alle Zeit entzogen ward.

Das Fest war für die Frau nur ein kurzes; denn bald darauf begann seine lange und bekannte Verbindung mit Sophia Blanska. Es gibt Leute, wie die beiden Neyen, für die Heimroth immer ein Ideal blieb, und die sagen, daß dies nie ein Liebesverhältnis gewesen, und das die Blanska auch mit seiner Frau freundschaftlich verkehrt hätte. Jedenfalls sah er Frau Blanska täglich und seine Frau fast nie. Es war um diese Zeit, daß er auf die neuen und absonderlichen Wege geriet, auf denen sein Ruf und seine früheren Erfolge verloren gingen. Er freilich glaubte, an die Quellen alles wirklichen Wissens gelangt zu sein. Die Fachleute und die Gelehrten wollten von den »Logischen und experimentellen Beweisen für die Existenz unsichtbarer Wesen« und anderen ähnlichen Abhandlungen nichts wissen; und diese Schriften, die er mit großen Kosten drucken ließ, weil farbige Tafeln und für die unendlich feinen Reproduktionen besondere Maschinen notwendig waren, wurden nur verhöhnt. Er kämpfte löwenhaft für seine Gedanken; und da er seine Gegner, Geheimräte und Professoren, als kurzsichtige Idioten abtat, so weigerten sich die Zeitschriften bald, seine Erwiderungen aufzunehmen; und in ihm entstand eine tiefe Verbitterung und um ihn Öde. Ein einziger Mitarbeiter blieb ihm, Dr. Neyen. In begeisterten Abhandlungen trat er für Heimroths mystische Naturforschung ein. Und er mußte wissen, daß damit auch er in Verruf kam, und daß an eine Lehrstelle, die er für frühere Arbeiten erwarten durfte, nicht mehr zu denken war.

Bei seinen Versuchen entdeckte Heimroth ein neues photographisches Verfahren, das er wiederum verkaufte, und obwohl ihm gerade diese Leistung wenig galt, weil sie mit den geheimnisvollen Fragen, die ihn beschäftigten, nichts zu tun hatte, stellte er, vielleicht gereizt durch die Mißachtung von seiten wissenschaftlicher Gegner, die Bedingung, daß die Gesellschaft, die sie erwarb, seinen Namen führen müßte. Er war etwa fünfzig Jahre alt, als jene Wandlung in seinen Anschauungen und in seinem Werk eintrat, und niemand hätte ihm damals mehr als vierzig geglaubt. Als ich ihn bei den Verhandlungen zur Gründung der neuen Gesellschaft wiedersah, hatte er mit dem Mann, den ich in Paris gekannt, keine Ähnlichkeit mehr. Sein Schädel war in der Mitte völlig kahl; zu beiden Seiten stand je ein weißer Haarbusch in die Höhe; auch der Schnurrbart war weiß geworden; die Augen lagen tief und hatten durch das anstrengende Schauen in Licht und Farbe gelitten, der Blick war mißtrauisch geworden, aber sie konnten noch auffunkeln und er noch mit dem alten Feuer sprechen. Er trug ein langes Gewand in violetter Farbe, das mit seidenen Schnüren geschlossen war; er hatte solche in den verschiedensten Farben; wie er auch der Farbe der Wände für die Zimmer, in denen ein Mensch arbeitete, schlief oder wohnte, eine besondere Wichtigkeit beimaß. Rot zog die Dämonen an und durfte unter keinen Umständen verwendet werden. Dies sagte er mir sogleich in seiner gebieterischen Weise. Er hatte auch die Bedingungen für den Vertrag in einer merkwürdig befehlenden Art aufgesetzt und ein Verhandeln gab es eigentlich nicht. Man nahm ihn als wunderlich und fand sich damit ab.

An jenem Abend sah ich auch Frau Blanska, die während unseres Gesprächs unhörbar eintrat. Sie hatte ein blasses Gesicht von unbestimmtem Alter und müde Augen; ihr Haar konnte ich nicht sehen, da es ganz von einem weißseidenen Tuch verhüllt war. In dem verdunkelten Saal wohnte ich den letzten Vorgängen eines Experimentes bei, das sie seit langem beschäftigt hatte. Ein Apparat stand auf dem Tisch, an dem bald Neyen, bald Heimroth selbst arbeitete; ein violettes Licht entstand und an der Tafel sah ich kristallähnliche sich bewegende und wandelnde Gebilde, die ich nicht verstand. Ihnen aber mußten sie besonderes bedeuten, denn Heimroth ward dann überaus freudig gestimmt; er ließ vom Pförtner Champagner heraufbringen, den wir in einem anstoßenden viereckigen Raum mit geweißten Wänden und einem hochangebrachten Fenster tranken. Wir befanden uns im obersten Stockwerk, in einer Art Turm des sonst menschenleeren einsamen Gebäudes, das draußen unter Fabriken an verwahrlosten Straßen zwischen ummauerten Höfen lag; da standen diese weltentrückten Menschen, allein mit ihren Gedanken und völlig überzeugt, eine Tat in Zeit und Geschichte zu schleudern. Neyen erinnerte daran, wie die erste Begegnung und das erste Gespräch vor Jahren ihn für immer an den Mann und sein Werk gebunden hatte. »Ja, ja,« sagte Heimroth, »die Schicksalsströme kreisen um uns und können jeden von uns in jedem Augenblick ergreifen, wenn er sich dem aussetzt, wie ein Wasser- oder Feuerstrom den auf seinem Wege Befindlichen ergreift. Manchmal fühlt man es, ohne daß man es sich erklären könnte. Wer von uns weiß, was er selbst, was die anderen sind? oder was sie ihm sind, was er ihnen ist? Man schläft neben einer Frau, und sie ist unsere Mörderin; man bekämpft einen Gegner, und er ist unser Wohltäter. Einer reißt den anderen mit, trägt ihn in die Höhe oder richtet ihn zu Grunde, und keiner weiß es!«

Frau Blanska nickte. Hochaufgerichtet stand Heimroth da; seine Augen verschlangen den, der ihn ansah, ohne daß er ihn wirklich zu sehen schien, so erfüllte ihn, was er sprach. »Denken sie an diesen Abend!« sagte Frau Blanska zu mir. Ihre Stimme war angenehm, mit einem fremdartigen Klang. Neyen saß vorgebeugt und hingerissen; er war Brennholz, glücklich, sich in diesem Feuer verzehren zu dürfen. Der Pförtner trat jetzt ein, der die Gebläse besorgte und den Raum reinigte. Neyen sprang auf und sagte, er müsse gehen; als er Heimroth die Hand reichte, streichelte dieser sie mit seiner anderen Hand und sagte zu mir gewendet: »Wenn der nicht wäre, der Treueste der Treuen ...! Auch an dem Verfahren, das Sie mit sich forttragen, hat er ein Hauptverdienst.« Neyen verwahrte sich dagegen, aber er strahlte in bescheidener Freude.

Auf dem ganzen Wege, – ich war zugleich mit ihm aufgebrochen – redete Neyen mit glühender Bewunderung und Dankbarkeit von Heimroth. Mir fiel auf, daß er bei der heftigen Kälte nur einen leichten Überzieher und einen schlechten Shawl trug. Er aber ging noch eine ganze Strecke mit mir, bis er sich plötzlich besann und eilig verabschiedete, »seine Frau erwarte heute ein Kind.«

Vier oder fünf Jahre darauf starb Heimroth. Es ergab sich, daß er seiner Frau auch jene Gelder, die er mit so strengen Vorsichten für sie angelegt, dennoch wieder abgenommen hatte, um seine Forschungen bis zuletzt betreiben zu können; sie hatte es ihm nie verweigert und Anweisung auf Anweisung ausgestellt, bis nichts davon übrig geblieben war. Die kostspieligen Apparate, die unverkauften Bücher, und was sonst in dem Laboratorium war, wurde sogleich von Buchdruckern und chemischen Fabriken für ihre Forderungen in Beschlag genommen. Was seiner Frau als ganzes Erbe blieb, war ein ungewisser Anspruch an die Gesellschaft, die unter seinem Namen seine letzte Erfindung betrieb. Ungewiß, zumindesten dem Umfang nach, wenn an der Spitze des Unternehmens ein Mann stand, der aus Eigennnutz oder unbarmherzigem Geschäftssinn die zweifelhaften Bestimmungen des Vertrages einseitig auslegen wollte. Der Direktor war jedoch ein höchst menschlicher Mensch; zudem verwendeten sich Personen bei ihm, auf die zu hören ihm vorteilhaft scheinen mochte. So erhielt ich Vollmacht, nach meinem Wissen und Gewissen zu handeln.

Während ich noch überlegte, was ich zu gewähren, was zu weigern hätte, erhielt ich ein Schreiben der Frau Blanska: »Denken Sie an Neyen, er hat alles für Heimroth geopfert und besitzt gar nichts mehr. S. B.«

Ich überlas die merkwürdige, wie aus kleinen Kreisen geformte Handschrift der wenigen Zeilen und erwiderte der Dame, wie ich mußte, Neyen möchte sich mit seinen Ansprüchen an die Erben wenden.

Einige Tage darauf bekam ich einen sonderbaren Besuch: die ganze Familie Neyen erschien in meinem Büro: der lange Mensch mit seinem braunen Bart, dem schon ergrauenden Haar und der Brille, hinter der seine naiven Augen sich gleichsam verbargen, drehte sich in seltsamer Befangenheit auf seinem Stuhl, blieb stumm oder redete nur wenig und schwerfällig, wie betäubt von seinem Schicksal, während die aufgeregte Frau, durch unendliche Sorgen und Überanstrengung in den Nerven wie im Äußern verwahrlost, – obwohl ihr angenehmes Wesen noch immer durchleuchtete, – für ihn das Wort führte. Nur mühevoll verstand ich, daß Neyen seit Jähren auf jeden Gehalt verzichtet, daß er sein und seiner Frau Vermögen für Heimroth aufgebraucht und Schulden gemacht hatte. Hier brach sie in Tränen aus. Die zierlichen Kinder, die sich stumm an sie geschmiegt oder neugierig umgesehen hatten, begannen gleichfalls zu weinen, nur ihr Gatte sah wie versteint auf sie; es arbeitete um seinen Mund, aber er sprach nichts.

Ich sah die Verlorenheit einer Familie, die eben, weil es vier Mäuler sind, so rasch untergeht; ich sah die Gespenster, die sie in ihrer Wohnung, die sie auf der Straße bedrohten, und schien doch nichts für sie tun zu können. Ich nahm aus, was sie sagten, und versprach, die Erben darauf aufmerksam zu machen.

Ehe ich noch Zeit gehabt, mit dem Rechtsanwalt Schäler zu sprechen, der diese vertrat, kam Herr von Denneberg, Heimroths Schwiegersohn, selbst zu mir, um sich über den Stand der Sache zu unterrichten. Ein langer Herr im Pelz, der ein Monokel trug, mit blondem Schnurrbart und schütterem Haar, sehr preußisch, sehr korrekt. Beiläufig erwähnte er, daß ein gewisser Neyen völlig lächerliche Ansprüche an ihn gestellt hätte. »Man habe also nach unendlichem Verlust und Arger kaum eine ungewisse Erbschaft in Aussicht, so begännen schon zweifelhafte Leute ihre Spekulationen darauf ...«

Ich mußte Neyen verteidigen.

Herr von Denneberg klemmte das Monokel fester ins Auge und sah von den Papieren auf, die er vor sich hatte. »Verehrter Herr,« sagte er, »mein Schwiegervater hat nicht eines, sondern mehrere Vermögen durchgebracht. Er war eben ...« er wies auf seine Stirn. »Wenn also dieser Herr, wie sie sagen, der einzige war, der ihn in seinen Verrücktheiten bestärkt hat, so sind wir die letzten, die ihm dafür Dank wissen. Aber er wird schon seine Rechnung dabei gefunden haben; er hat doch von der Sache gelebt und auf der Bude meines Schwiegervaters gearbeitet. – Was bedeutet dies hier?« und er wies auf einen Posten in den Papieren.

Er war nur zu ganz kurzem Aufenthalt gekommen und fuhr noch am selben Abend auf sein Gut zurück; im übrigen verwies er mich an seinen Rechtsanwalt.

Ich hatte nichts mehr erwidert, aber ich bat Neyen, mich nochmals aufzusuchen. Ich wollte bestimmte Dinge genau wissen; in dem wundervollen Räderwerk der gesetzlichen Formen genügt oft ein unscheinbares Schlüsselchen, um das ganze Spiel anders aufzuziehen und laufen zu lassen. Zu meinem Staunen fand ich, daß Neyens ganzer Schmerz dem Tode Carl Heimroths und nicht seinem Elend galt; was er den Erben vorwarf, war, daß sie es ihm nicht möglich machten, jene wundervollen Arbeiten, jene großartigen Entdeckungen fortzuführen. Seine Frau und Kinder, – ja, das war sehr traurig, – aber was war dies gegen die Ideen, die da verhungerten und zugrunde gingen? Und er beschwor mich, zu Frau Blanska zu gehen, damit sie, die an Heimroths Arbeiten teilgenommen, ihm jene Hilfe gewähren möchte, obschon auch sie sich mit Heimroth entzweit und in Bitterkeit und Zorn von ihm getrennt hatte.

»Das müssen Sie selber tun«, sagte ich. Er schüttelte den Kopf, und ich zuckte die Achseln. Wie kam ich dazu, die Frau, die ich nur einmal gesehen, für ihn und für Ideen, die ich nicht begriff und die mir nichts bedeuteten, um Geld zu bitten?

Am Tage darauf schrieb er mir, daß seine Frau zusammengebrochen und eines der Kinder erkrankt sei, er selbst sich in völliger Verzweiflung befinde.

Obwohl ich die Trägheit des menschlichen Herzens nur zu gut kannte, suchte ich Frau Heimroth auf. Es war an einem regnerischen Wintertag. In dem Garten mit den laublosen Bäumen waren breite Wasserlachen im Sande, und um die kleine gelbe Villa mit dem flachen Vorbau, die sie seit langem bewohnte war es so still, daß das Zufallen der Gittertüre sonderbar durch das Schweigen klang. Und dann in den Zimmern die Möbel, die Bilder und Nippsachen standen gleichsam vergessen umher und schienen nur Erinnerungen eines Lebens; bis in den runden Salon, in dem ich wartete wie in dem Haus eines Verstorbenen – obwohl Heimroth Jahre nicht dort gewesen – die noch immer große, aber wie versteinerte alte Frau eintrat, die mich mit müder Stimme begrüßte und Platz nehmen hieß, und ich in ihr die Frau suchte, die einst so strahlend gewesen, die ihre Jugend durchjauchzt hatte, die in Flittern und farbiger Seidenpracht die Feste, die Heimroth gab, mehr als irgendeiner seiner Gäste genossen hatte. Was ich vorbrachte, erschreckte sie nur; sie sah mich verwirrt durch ihre Brillengläser an, und mit unsicheren Handbewegungen sagte sie, daß sie gar nichts tun könne. Ich sah, daß auch sie von ihrem Schicksal betäubt und gleichgültig geworden war, und ich bat sie um die Adresse ihrer Tochter, damit ich dieser davon schreiben könnte. Die alte Dame stand auf, ging bis an den Türvorhang des runden Zimmers und rief: »Irene!« Und nun trat, gleichfalls schwarz gekleidet, eine junge Frau ein, die trotz dem blassen Gesicht und den vergrämten Zügen, so sehr das Jugendbild der Mutter war, daß ich mein Staunen kaum verbergen konnte. Erst allmählich traten die nicht so klar ausgesprochenen Ähnlichkeiten mit dem Vater zu Tage. Sie sprach sehr entschieden; dankte mir für meine Bemühungen, bat mich aber, alle Vermögensangelegenheiten mit ihrem Gatten, Herrn von Denneberg, zu besprechen.

Beide Frauen schienen zu erwarten, daß ich gehen würde, und als ich dennoch blieb und ihnen die Lage der unglücklichen Menschen zu schildern suchte, als ich ihnen sagte, was Neyen für den Verstorbenen und sein Werk getan und geopfert, daß ich es aus Heimroths eigenem Munde wußte, ... da unterbrach die blasse, junge Frau mich und bat mich für einen Augenblick zu warten; dann führte sie ihr« Mutter, die am ganzen Leibe zitterte, zärtlich aus dem Salon. Als sie zurückkam, setzte sie sich nicht, so daß auch ich aufstehen mußte, und sagte: »Es ist gewiß traurig, aber ich kann ihnen nur nochmals sagen, daß wir gar nichts tun können. Wir haben keinen Einfluß. Herr von Denneberg hat die Mitgift, die ihm versprochen war, nie bekommen; denn das Vermögen meiner Mutter hat mein Vater ... verbraucht. Wir haben gar nichts; wir leben von der Gnade Herrn von Dennebergs, und ich werde glücklich sein, wenn ich ihm endlich etwas erstatten kann.«

Sie schien noch etwas sagen zu wollen, aber sie besann sich offenbar und sagte es nicht. Ich wußte, daß ihre Ehe keine glückliche war und daß sie nicht mit ihrem Manne lebte.

»Sie sagen, Herr Neyen sei der einzige, der meinen Vater nicht verlassen,« fuhr sie fort, »der sich für seine Arbeiten geopfert hat ... und wir sollen ihm das danken! Ich habe meinen Vater einmal grenzenlos geliebt und heute hasse ich ihn! Er hat meine Mutter zerbrochen, und mich, und wieviel andere! Ich wäre anders aufgewachsen, ich hätte diese Ehe nicht geschlossen, wenn er sich um mich gekümmert hätte.« Sie sprach mit flammenden Augen, genau wie ihr Vater. »Und wenn es große Ideen waren und nicht Wahnvorstellungen, hätte es ihnen geschadet, wenn er auch ein wenig an uns gedacht hätte?! Große Ideen sterben nicht, das sagte der Vater selbst, aber Menschen sterben; Ideen kommen wieder, ein Menschenschicksal wiederholt sich nicht!«

Es war erstaunlich, wie sie Carl Heimroth jetzt glich. Es war dunkel geworden, das Feuer flackerte im Kamin, ohne daß es im Zimmer warm gewesen wäre; der Lichtschein zeigte mir ihr aufgeregtes Gesicht. Einen Augenblick stand sie in Gedanken verloren, aber sie wendete sich mir sogleich wieder zu: »Es ist sehr traurig,« wiederholte sie, »aber Sie sehen, ich kann nichts tun. Sagen Sie Margarete Neyen, sie sei immer noch glücklicher als ich ... Und wenn sie dienen oder betteln gehen muß, sie ...«

Ich sah, daß sie die Tränen noch mühsam beherrschte und daß hier nichts zu tun war, und ging. Der verregnete Garten sah jetzt noch lichtloser und öder aus, und das Gitter schlug hinter mir zu. – – –

Und nun ging ich dennoch zu Frau Blanska. Ich besuchte sie im Hotel; in dem Zimmer, in dem ich wartete, war ein Mädchen vor halb gepackten Koffern beschäftigt. Dann wurde ich in ein zweites Zimmer geführt, in dem Frau Blanska auf dem Sofa lag. Sie schien gealtert; um den Kopf hatte sie wie damals ein Seidentuch gewunden. Ihre Stimme hatte noch den gleichen angenehmen und fremdartigen Klang, und ihre Bewegungen waren langsam, ein wenig geziert, wie einst. Sie hörte mich ruhig an, dann schüttelte sie den Kopf und sagte: »Ich kann nichts tun. Ich bin zu oft und zu tief enttäuscht worden, ich habe mir geschworen, nie wieder derartige Opfer für andere zu bringen. Ich kann es auch nicht. Dieser Mann war ein Dämon, ein Vampyr. Der arme Neyen!«

Die Charakterisierung Heimroths ließ mich seine Witwe und meinen Besuch bei ihr erwähnen. Ein Zug von Ablehnung und Verachtung trat in ihr blasses Gesicht. Sie griff nach einer Handtasche aus Silberstoff, die neben ihr auf dem Sofa lag: »Hier sind fünfzig Mark,« sagte sie, »aber mehr kann ich nicht tun. Ich reise morgen nach Warschau zu meinen Verwandten. – Nadia!« Sie klingelte und sprach auf polnisch mit dem eintretenden Mädchen. Ich war aufgestanden; sie nickte mir sehr liebenswürdig und entfernt zu, und ich verließ sie.

So oder so hatte ich die Sache in Ordnung zu bringen.

Durch das Bureau eines Anwalts gehen viel außerordentliche Dinge; papieren oder in menschlicher Gestalt treten sie ein; in dem Filter des Gesetzes fällt dann alles Menschliche zu Boden; nur das bleibt zurück, was sich in den Paragraphen auffangen läßt. Und in seiner Seele vollzieht sich meistens der gleiche Vorgang.

In den Räumen der Rechtsanwälte Schäler und Garris war ein kaltes trübes Licht. Schreiber und Damen arbeiteten eifrig; Maschinen klapperten, Klienten traten ein, warteten oder gingen. Als ich kam, wurde ein Klient, der bereits im Zimmer war, ersucht, sich so lange zu gedulden und nebenan zu warten, und ich sogleich hineingebeten.

Ich hatte damals noch nicht meine weißen Haare und mochte in einem Alter mit dem Kollegen Schaler sein, der groß war, mit glatt rasiertem rundem Gesicht, und mich lächelnd begrüßte. Er dankte mir für meinen Besuch, da es an ihm gewesen wäre, zu mir zu kommen, und er sagte, nachdem er sich die Akten hatte bringen lassen: »er vermute, daß ich die Ansprüche der Erben an die Heimrothgesellschaft anerkenne?«

Ich erwiderte, daß ich vorher noch über einige Punkte eine Aufklärung wünschte, und darum gekommen sei; unter anderem wäre es mir von Wichtigkeit zu wissen, wie sich die Erben zu den Ansprüchen des Dr. Neyen stellten.

Der Rechtsanwalt zog die Brauen hoch und meinte, er wisse wirklich nicht, was das mit der Frage nach dem Recht der Erben zu tun hätte.

»Doch,« sagte ich, »da ja Neyen seine Ansprüche bei der Gesellschaft geltend machen und ein Verbot erwirken könnte.«

»Das halte ich wohl für ausgeschlossen,« sagte Schäler. »Die Erben erkennen die Forderungen Neyens ganz und gar nicht an. Womit will er sie denn begründen, außer mit Gefühlen, auf die wir uns nicht einlassen können?«

Er lächelte, und hörte mir lächelnd zu, solange ich sprach.

»Daß Neyen sein Vermögen für Heimroth geopfert, kann ich nicht zugeben,« erwiderte er dann, »er hat mit seiner Familie von diesem Vermögen gelebt; was er sonst damit getan, geht uns nichts an; und daß er durch so viele Jahre auf sein Gehalt verzichtet hat, daraus folgt doch eben, daß er keinen Anspruch mehr hat, weil er ihn selbst aufgegeben. – Aber lassen Sie doch Herrn Neyen seine Ansprüche vertreten!«

»Er hat mich darum ersucht,« sagte ich nach kurzer Überlegung, »und solange ich keinen Konflikt zwischen seinen Interessen und denen meiner Mandantin sehe, kann ich es ja tun; und es gibt Fälle, in denen auch rein moralische Gründe sich nicht einfach abweisen lassen.«

»Herr Kollege,« sagte Schaler und mußte wirklich lachen, »Ihre Empfindungen machen Ihrem Herzen alle Ehre, aber juristisch ... ist nichts zu machen ...! Wir jedenfalls lehnen alle Ansprüche des Herrn Neyen ab; und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir jetzt Ihre Stellungnahme als Vertreter der Heimrothgesellschaft mitteilen würden.«

Ich schwieg eine Weile; dann sagte ich: »Die Gesellschaft erkennt die Ansprüche der Frau Heimroth und ihrer Tochter nicht an. Der Erfinder Carl Heimroth ist mit Aktien beteiligt worden, die er verkauft hat. Ein weiterer Anspruch des Erfinders oder seiner Erben erscheint nach den Bestimmungen des Vertrages so zweifelhaft, daß ich meiner Klientin nicht raten kann, ihn anzuerkennen.«

Schäler hatte noch nicht begriffen; denn er bemühte sich, mir die Gründe für eine andere Auslegung des Vertrages klarzumachen. Ich erwiderte: »Ich stelle Ihnen anheim, diese Gründe im Prozeßwege geltend zu machen.«

Er begann von der traurigen Lage der Frau und der Tochter des Toten zu sprechen, von den großen Gewinnen, die die Heimrothgesellschaft seiner genialen Erfindung dankt«.

»Herr von Denneberg hat einiges Vermögen,« sagte ich, »Übrigens kann ich mich auf Gefühle wirklich nicht einlassen ...« und ich sah ihn fest an.

»Hm, ja so,« sagte er mit einem verlegenen Lachen, und in seinem glatten Gesicht entstanden zwei peinliche Falten, »dann wird uns nichts übrig bleiben, als Prozeß zu führen.«

»Allerdings,« sagte ich, »und der Prozeß wird lang und kostspielig sein und sein Ausgang ungewiß.«

»Und die Heimrothgesellschaft wird von ihrer Haltung unter keinen Umständen abgehen?«

»Das weiß ich nicht. Vorläufig sehe ich keinen Grund dazu.«

»Ich werde Herrn von Denneberg berichten,« sagte er, und wir gingen auseinander.

Zwei Wochen später wurde in meiner Anwaltsstube ein Vergleich abgeschlossen. Wir erkannten die Ansprüche der Erben zu einem großen Teil an, und Hans Neyen erhielt den rückständigen Gehalt der letzten acht Jahre ausgezahlt. Es war nicht allzu viel; aber es bedeutete die Rettung.

Ich hatte dieses Spiel spielen können, weil der Direktor der Heimrothgesellschaft ein gütiger und wohlwollender Mensch war, weil ich aus bestimmten Gründen gerade damals viel wagen durfte, und weil in der ganzen Sache andere als rein juristische und kaufmännische Erwägungen und Einflüsse die Entscheidung hatten.

Neyen fand eine Stellung in einer chemischen Fabrik. Aber er war ein gebrochener Mann, dem sein Lebenswerk entrissen und die Erinnerung daran vergällt war.

»Erinnern Sie sich an jenen Abend im Laboratorium?« sagte er zu mir, als er mir zu danken kam, »Damals waren wir auf dem Wege zu den tiefsten Geheimnissen. Das ist Carl Heimroths Erbe; und ich könnte es vielleicht fortführen, – obgleich mir jener unvergleichliche Genius fehlt, – wenn ich die Mittel hätte. Aber die gibt mir Ihre Gesellschaft, die gibt mir die Familie nicht. Denn wem gilt der Geist und die Wahrheit etwas? Wer liebt denn in einem Menschen das, was er ist?«

Er versank wieder in Starrheit, drückte mir die Hand und ging.

So hat dieser eine Mensch so viele andere in sein Schicksal gerissen und aufgezehrt und gleichsam nur die leeren Hülsen übrig gelassen.

*


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