Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Verbannten

Es war an einem Sommerabend im Jahre 1808. Auf der Terrasse eines österreichischen Schlosses saßen Menschen, die, von den Stürmen jener Zeit entwurzelt und fortgerissen, durch manche Zufälle hier zusammengetroffen waren. Neben dem schlanken hochgewachsenen Hausherrn mit dem schmalen seinen Kopfe saß schwergebaut, mit breitem rotem Gesicht, ein deutscher Fürst, der seinen Thron verloren hatte. Zu seiner Rechten saß, noch dunkelhaarig, im langen weißen Kleide die Hausfrau, neben ihr auf der anderen Seite ein französischer Bischof, der mit Lächeln und mit geistlicher Zurückhaltung ihrer jugendlichen Tochter Liebenswürdigkeiten sagte. Etwas abseits am Steingeländer stand der Adjutant des Fürsten mit einem preußischen Offizier, der in die österreichische Armee überzutreten beabsichtigte, im Gespräch über die letzten Nachrichten aus Madrid. Der Generalvikar des Bischofs saß zurückgelehnt und nachdenklich in seinem Stuhl und hörte seinem Landsmann, dem Marquis von Faverolles, zu, der mit einiger Erregung davon sprach, wieviele ihresgleichen heute an den verschiedensten Stätten im Norden und Osten Europas geflüchtet säßen, und wie gemein das Schicksal gefallener Macht geworden, das einst unerhört erschienen wäre.

»Und ist doch auch vorgekommen,« sagte der Abbé, »und ich könnte Ihnen davon erzählen. Seltener und seltsamer noch war es freilich.«

»Sie sollten es erzählen«, erwiderte der Marquis aus Höflichkeit. Aber die Hausfrau, die herübergehört hatte, da der Fürst neben ihr sich in seiner trüben Stimmung mit dem Wein allein zu erheitern suchte, bat ihn ernstlich darum. Und da auch die andern, deren Gespräch sich eben nur hingeschleppt hatte, einstimmten, und der Bischof selbst ihm zunickte, begann er zu erzählen.

»Ich führe Sie«, sagte der Abbé Chazin, »in eine untergegangene Welt zurück. Und doch liegt sie kaum hinter uns, und wenn wir nicht solch eine Sündflut der Ereignisse erlebt hätten, wäre sie beinahe noch die unsere. Aber wo sind die Hügel und Wiesen unserer Kindertage? Damals schien eine andere wärmere Sonne, und ruhigere gelassenere Menschen wandelten unter ihr.

Ich verbrachte den Sommer bei meinem Oheim, dem Pfarrer von Saint-Eloi. Seine Güte und die Empfehlung des Herrn Marquis von Saint-Eloi hatten mir einen halben Freiplatz im Seminar von Sens verschafft; aber die Ferien auf dem Lande waren lang und angenehm. Ich erinnere mich, daß ich eines Abends vom Feld nach Hause kam, – die schrägen Sonnenstrahlen fielen auf den stillen Marktplatz, und nur der große gefleckte Hund des Wirts zur Glocke lag träge am Gartenzaun, als mit schwerem Rasseln ein Wagen, von der Landstraße einbiegend, über das schlechte Pflaster fuhr und vor dem Tore der Wirtschaft hielt. Es war ein großer brauner Reisewagen, von drei mageren Gäulen gezogen, auf knirschenden, wackeligen, schiefgefahrenen Rädern, um die brüchige rostige Eisenreifen gelegt waren. Lackierung und Farbe waren an vielen Stellen abgesprungen, so daß der Wagen krank und fleckig aussah, und abgebrochen waren die einst vergoldeten Knäufe an den Ecken des Daches. Neben dem barfüßigen Kutscher, der die Tiere zu einer letzten Anstrengung getrieben hatte, saß ein Diener in einer uralten, abgetragenen und verfärbten Livree, der jetzt mühsam herabkletterte und den verklemmten Schlag zu öffnen suchte. Gleichzeitig kam ein zweiter Wagen von der Landstraße, mit einem Pferd und einem Ochsen bespannt, auf dem unter einer vielfach geflickten grauen Leinwanddecke einige alte Truhen, Koffer und Bündel lagen. Der Hund hatte einmal kurz gebellt, der Wirt war, hemdärmelig, die kurze Schürze vorgebunden, auf die Türstufen getreten, und eine Anzahl barfüßiger und holzschuhtragender Jungen hatte sich angesammelt. Ich stand unter ihnen. Mein Onkel, der Abbé Chazin, war, vom plötzlichen Lärm gestört, einen Augenblick am Fenster des Pfarrhauses erschienen und sah herüber, aber ich glaube, er kehrte bald wieder zu seinen Büchern zurück. Nach mehrmaligem Zerren und mit Nachhilfe von innen hatte der Diener den Schlag, an dem noch die Reste eines Wappens sichtbar waren, aufbekommen, und ein Mann in einer schäbigen, fremdartig geschnittenen Soutane, unter dessen Hut glänzende weiße Haare auf tiefgefurchte, aber noch immer schöne Züge fielen, stieg aus dem Wagen, sah sich nach dem Wirt um, der mit verzogenem Munde steif und dick dastand und auch nicht die Kappe zum Gruße lüftete, wendete sich dann zum Wagen zurück und redete laut in fremder Sprache durch das Fenster. Erst kam keine Antwort, dann hörte man eine dünne Greisenstimme; der Geistliche kehrte sich wieder dem Wirt zu und sagte auf Französisch: ›Ihre Herrlichkeiten werden sofort aussteigen‹.

Ohne hierauf zu antworten oder eine Miene zu ändern, sah der Wirt zu, wie der Geistliche nach dem zweiten Wagen ging. Von einem aus Heu und alten Decken geschaffenen Sitz unter dem Leinwanddach erhob sich ein Frauenzimmer, stieg über das Brett, auf dem der Kutscher saß, und schwang sich herunter. Sie trug eine fremde schwarz und rote Tracht, das Haar hochfrisiert mit großen Nadeln darin, einen hochgesteckten dunklen Schleier und auffallend kleine Schuhe. Sie mochte etwa sechs- oder achtundzwanzig Jahre alt sein, ihr Haar war schwarz, das Gesicht olivenfarben, von einer finsteren Schönheit. Ein etwa sechzehnjähriger Junge, ebenso dunkel und ernst wie sie, folgte auf dem gleichen Wege; der Kutscher reichte ihnen einen großen Ballen herunter; die Diener rollten einen verblaßten und zerschlissenen Teppich auf und breiteten ihn vom Schlag des ersten Wagens über die Torstufen des Hauses; dann halfen alle einem gebrechlichen, in einen alten Pelz gehüllten Greis und einer schwer keuchenden, ebenso eingemummten, alten Dame mit aufgeschwemmten ausdruckslosen Zügen aus dem Wagen. Es brauchte Zeit und Mühe, bis die breiten Röcke der Dame durch die Wagentüre gefördert waren; indessen fragte der Geistliche den Wirt, wie weit es noch bis zum alten Park sei, und ob der Herr Marquis von Saint-Eloi nicht Weisung für Ihre Exzellenzen gegeben, die er als seine Gäste erwarte.

Jetzt erst zog der Wirt die Mütze und verbeugte sich, jetzt erinnerte er sich, daß das Haus im alten Park schon vor guter Zeit in Stand gesetzt worden; es war auch ganz nahe, aber die Schlüssel habe Monsieur Dubec, der über Land gefahren sei, und zögernd fragte er, ob die Herrschaften so lange bei ihm absteigen wollten.

Der Geistliche redete zu den alten Leuten, die schwerhörig schienen, laut in ihrer Sprache, der alte Herr nickte, und beide schritten, von der Dienerschaft unterstützt und gefolgt, über den Teppich ins Haus.

Die Kutscher aber fuhren mit den Wagen ohne weiteres in den Hof ein.

Der Wirt und sein Gesinde sahen einander an; sie wußten scheinbar nicht, ob sie lachen oder staunen sollten. Die Weiber in der Küche redeten laut und viel, aber einen Vers auf die Sache fand niemand. Ich ließ mir am andern Tag erzählen, wie die beiden Alten und der Geistliche sich an die Tafel gesetzt und der Geistliche ein Gebet gesprochen, während die Dienerschaft sich hinter die Stühle ihrer Herrschaft stellte und die Speisen für sie zerkleinerte; während des ganzen Mahles wurde kein Wort gesprochen. Als sie geendet hatten, leuchteten Diener und Kammerfrau ihnen in die Schlafzimmer, kamen dann zurück und aßen selbst und redeten nur selten und dann in schrillen kehlhaften Lauten. Nachher setzte die dunkelhaarige, dunkel gekleidete Kammerfrau sich an den Kamin und starrte in die Flammen. Nicolas, der Sohn des Wirts, der ein schmucker Bursch war, trat zu ihr und wollte ihr Schönheiten sagen und ein Gespräch anknüpfen, aber die Fremde warf ihm einen Blick solcher Verachtung zu, daß er betroffen weiterging. Bald darauf erhob sie sich und stieg, ohne sich nach jemandem umzusehen, gleichfalls die Treppe hinauf.

Am nächsten Morgen kam Monsieur Dubec und dienerte und bestellte und befahl; er beglich die Rechnung des Wirts, und die Wagen fuhren aus dem Hof des Gasthauses unter dem Gaffen der Leute nach dem alten Park und verschwanden darin.

Vom Gittertor ging eine dicht bewachsene Allee zum Hause; sonst war der Park von einer hohen Mauer umgeben. Nach den Anordnungen Herrn Dubecs wurde Fleisch und Brot, und was sonst nötig war, nach dem Pavillon geliefert und dem Pförtner am Parkeingang abgegeben. Die Fremden kamen nicht einmal zur Kirche, sie hielten ihren Gottesdienst in der Hauskapelle ab. Die Diener oder die Kammerfrau erschienen gelegentlich im Dorf, aber sie waren wortkarg und sprachen in mangelhaftem Französisch nur das nötigste. Herr Dubec sagte nichts und behauptete, nichts zu wissen, als daß der alte Mann ein großer Herr aus Spanien sei. Die Leute glaubten es halb, halb zweifelten sie; auf den spanischen Bettelstolz wurde mancher Witz gemacht.

Wenige Tage nach ihrer Ankunft brach eine Krankheit unter den Fremden aus. Der Wagen des Arztes aus Garcheville hielt mehrmals am Parktor, aber er trat ins Haus und fuhr wieder weg, ohne etwas zu erzählen. Die Diener erkrankten nach der Herrschaft und fast alle zugleich; in dieser Zeit wurde Baptiste, der Sohn des Sattlers, für die nötigste Arbeit aufgenommen, und der erzählte nachher einiges von dem Hauswesen der Fremden: der alte Herr sitze mit einem wachsgelben Gesicht den ganzen Tag in den Pelz gehüllt und nicke mit dem Kopfe, als wäre er eine Puppe, und murmle hie und da etwas; auch die alte Dame spreche mit sich selber, wenn sie sich allein glaube, und weine oft; die Kammerfrau lese abends bei einer Kerze aus den Karten und einmal habe sie dabei laut aufgejubelt; da Baptiste jedoch von dem, was die Fremden sprachen, kein Wort verstanden hatte, so bot, was er erzählte, keinen Schlüssel zu ihrem Geheimnis.

Der Geistliche war von allen am schwersten erkrankt, so daß Baptiste eines Abends eilig im Pfarrhof erschien, weil jener die Sterbesakramente verlangt hatte; aber mein Onkel, der Abbé Chazin, war über Land gefahren, und als er endlich kam und sich eilends hinbegab, war der Anfall vorüber, und der Kranke hatte nicht mehr den Wunsch zu beichten oder das Viaticum zu empfangen, und der Abbé kehrte kopfschüttelnd nach dem Pfarrhof zurück.

Vielleicht zehn Tage später war der Herr Marquis von Saint-Eloi aus Paris in seinem Schloß eingetroffen, das etwa eine halbe Stunde vom Flecken entfernt, weiß und feierlich auf einem Hügel lag, und am Tage darauf kam er, von einem Herrn mit einer Hakennase und tiefliegenden funkelnden Augen begleitet, in seiner sechsspännigen Karosse vorgefahren, und beide machten im Pavillon einen feierlichen Besuch. Mehrere Ortseinwohner, die am Parkeingang gewartet, bis sie wieder herauskamen, hatten deutlich gehört, wie der Herr Marquis den andern Herrn gefragt hatte: ›Nun, was sagen Sie, Chevalier?‹ – ›Es ist erstaunlich!‹ hatte dieser geantwortet, dann waren sie eingestiegen und nach dem Schlosse zurückgefahren.

Herr von Saint-Eloi hatte auch seinen Gästen eine Karosse und schöne Pferde zur Verfügung gestellt. Herr Dubec versorgte sie mit geeigneter Dienerschaft, die im Stall, in der Küche, im Vorzimmer verwendet wurden. Niemals kamen sie in die inneren Gemächer. Um die Person der Fremden waren nur ihre Landsleute beschäftigt. Der spanische Abbé kam bei uns vorgefahren und machte meinem Oheim einen Besuch; er war weit feiner und vornehmer gekleidet; irgend etwas besonderes wurde bei diesem Besuche nicht gesprochen.

Etwa drei Wochen später sah man wieder einen auffälligen Fremden auf dem gleichen Wege, wie damals die beiden Wagen, kommen. Es war ein kräftiger untersetzter Mann in mittleren Jahren mit einem breiten sonngebräunten Gesicht, großen scharfblickenden Augen, die unter dichten schwarzen Brauen lagen und einem breiten dicklippigen Mund. Er saß auf einem müden, staubbedeckten, aber wohlgebauten Pferde; zu beiden Seiten in den Satteltaschen hatte er große Reiterpistolen stecken. Auch er hielt vor der ›Alten Glocke‹; in schlechtem Französisch, aber in gebieterischem Ton rief er den Wirt heraus; obwohl er nur ein ledernes Wams, einen einfachen derben, breiten Filzhut und eine Reithose trug, die in schweren kotigen Stiefeln stak, trat er herrisch auf. Sein Pferd versorgte er selbst, seinen Mantelsack legte er neben seinen Stuhl, als er das Abendessen bestellte und verzehrte, und trug ihn dann nebst den Pistolen auf sein Zimmer. Erst am nächsten Morgen fragte er, ob Seine Herrlichkeit, der Herr Marques von Balmacer, weit vom Wirtshause wohne.

Nach dem alten Park gewiesen, ritt er, während die Neugierigen ihm von ferne folgten und sich mählig sammelten, mit all seinem Zeug dahin, beugte sich vom Pferd und zog an der alten rostigen Klingel. Der Pförtner kam, ein Diener aus dem Hause kam und starrte ihn an; sie redeten in ihrer fremden kehllautenden Sprache miteinander, und der Reiter reichte ein großes versiegeltes Schreiben durch das Gitter.

Dann saß er gleichmütig auf dem Gaul und wartete; schließlich stieg er ab und setzte sich auf einen runden Stein am Tor; die Zügel über den Arm geschlungen, nahm er eine braune kleine Zigarre aus seiner Rocktasche und rauchte, ohne den ausharrenden Kindern und erwachsenen Leuten einen Blick zu schenken. Einmal pfiff er ein Lied vor sich hin. Das Pferd scharrte gelegentlich mit gesenktem Kopf oder fraß die Gräser am Wegrand.

Es mochte fast eine Stunde gedauert haben, dann sah man den Geistlichen schleppenden, aber raschen Schritts durch die Allee kommen, den Diener mit ihm. Der Geistliche blieb in einiger Entfernung vom Tor stehen und sah zu, wie der Diener das Schreiben, das der Reiter gebracht hatte und das in der Mitte entzwei gerissen war, durch das Gitter hinauswarf. Gleichmütig hob der Mann es wieder auf, sah es sehr genau an und steckte es in seine Brusttasche. Dann richtete er gelassen das Riemenzeug seines Pferdes und stieg in den Sattel. In diesem Augenblick erschien seitwärts aus dem Gebüsch die schwarz und rot gekleidete Kammerfrau, bekreuzigte sich und rief ihm, das verstand jeder, furchtbare Flüche zu. Er sah nach ihr, lächelte, erwiderte ein einziges Wort, das sie noch wütender zu machen schien, bekreuzigte sich gleichfalls, dann wendete er sein Pferd und ritt in kurzem Trabe davon und zum Dorf hinaus.

 

Der Marquis von Saint-Eloi war längst wieder abgereist, aber im Spätsommer kam er mit Gästen zur Jagd und wieder machte er in der gleichen feierlichen Weise im Pavillon seinen Besuch.

Jedesmal, wenn der Marquis im Schloß weilte, wurde auch der Abbé Chazin, mein Onkel, das eine oder andere Mal zur Tafel gezogen. Nicht damals, aber später hat mein Onkel mir jede Einzelheit dieser Geschichte erzählt, die er auch niederschrieb, so wie ich das Schloß, das seither, wie so viele andere, zerstört und niedergebrannt ist, in all seinen Räumen kennen gelernt habe. Die meisten Jagdgäste waren damals schon abgereist, und nur jener Mann mit der Hakennase und den tiefliegenden Augen, der den Marquis bei seinem ersten Besuche begleitet hatte, war noch anwesend. Sie saßen in dem hohen Speisezimmer mit den weißgoldenen Türen beim Champagner, als der Marquis den Pfarrer nach seinen Eindrücken von den Fremden im alten Park fragte.

Nun konnte mein Onkel nicht viel sagen. Er hatte bis dahin geglaubt, die spanische Sprache zu verstehen, er hatte den Don Quixote in der Ursprache gelesen, aber er hatte merken müssen, daß er, wenn die Fremden redeten, nicht viel davon verstand; er hatte auch eigentlich nur mit dem Geistlichen gesprochen, und diesen im Fieber und sehr aufgeregt gefunden. Ihm schien, daß der Fremde ihm dann den Besuch gemacht, um den Eindruck jenes ersten Abends zu erforschen oder zu verwischen. Aufgefallen sei ihm, wie wenig Latein, kaum fürs Brevier reichend, der spanische Abbé wußte.

›Dafür weiß er manches andere‹, hatte der Marquis erwidert, ohne jedoch diese Worte näher zu erklären. Sie waren dann in das sogenannte spanische Zimmer, eine kleine Galerie, gegangen, um den Kaffee zu nehmen. Sie ließen sich in den geschwungenen Armstühlen, auf denen in matter Seide gestickte bunte Vögel und Blumen leuchteten, vor einem mit flimmerndem Perlmutter eingelegten schwarzen Lacktischchen nieder, während der Diener aus dem vergoldeten Porzellan das schwarze duftende Getränk in die kleinen Tassen goß.

›Das ist der Alcazar‹, sagte der Marquis, auf ein Bild an der Wand gegenüber weisend, auf dem ein weites Schloß unter dem dunklen Abendhimmel abgebildet war, während vor dem Portal ein Zug von Reitern mit Fackeln sprengten. Auf der anderen Seite hing, dunkelgrau auf seiner Steinfläche, kalt und riesig der Escurial; daneben von Lichtstrahlen der tausend Kerzen durchflutet, weihrauchdurchzogen, Chor und Hochaltar unserer Frau von Atoche. Dazwischen hingen Porträts von Herren und Damen in älterer spanischer und in neuer französischer Tracht.

›Wie oft bin ich dort bei dem Abendgottesdienst gewesen, als ich noch Gesandter in Madrid war‹, sagte der Marquis, seinen Gästen die Bilder erklärend. ›Wissen Sie, wer das ist?‹ fragte er plötzlich und wies mit einer lässigen Handbewegung auf das Porträt neben dem Gemälde, das die Kathedrale darstellte. Es war das Bild eines reich gekleideten Mannes, der die eine Hand, den Handschuh zwischen den Fingern, auf einen Tisch gestützt, aus kleinen Augen im gelblichen Gesicht, wie mit gewollter Strenge ins Weite blickte; um seinen Hals hing das goldene Vließ. ›Sie wissen es nicht? Das ist Don José de Lemos, Herzog von Tornas, Grande von Spanien und erster Minister Seiner Katholischen Majestät. Und dies ...‹ er wies auf eine wunderschöne junge Frau, mit Perlen und Spitzen geschmückt, im schweren Brokatkleid, ›die Herzogin, seine Gattin, Camarera mayor Ihrer Majestät der Königin. Aber Sie kennen sie. Denn heute wohnen sie nur wenige Schritte von uns entfernt und nennen sich der Marques und die Marquesa von Balmacer.‹

›Ists möglich?‹ rief der Abbé nach einer Weile des Erstaunens.

›Das dritte Porträt besitze ich leider nicht, obwohl er oft gemalt worden ist, einmal sogar als Adonis neben einer ... älteren Venus. Er war der schönste junge Mann des Hofes.‹

›Doch nicht, Gnädiger Herr ...?‹

›Der Abbé von Azafas. Er hoffte damals, Erzbischof von Toledo zu werden.‹

Alle drei sahen einander an. ›Wenn Sie denken, daß alles Gold von Indien und Amerika durch die Hand dieser Leute gegangen ist!‹ sagte der Marquis.

›Ist die Geschichte von der Schokolade wahr?‹ fragte der Chevalier.

›Die schwere Schokolade für die Herzogin? Als die eine Kiste auf dem Rücken der Träger brach, und die fingerdicke Schokolade absprang und die Goldbarren darunter entdeckt wurden? Das war nach meiner Zeit. Es könnte wahr sein.‹

›Wo mögen diese Barren jetzt sein?‹ fragte der Chevalier.

›Wo all ihre Macht hin ist.‹

›Ich entsinne mich jetzt‹, sagte der Abbé. ›Man hat so etwas gehört. Wie kam es nur?‹

›Sehen Sie, bitte, das kleinere Porträt dort in der Ecke an.‹ Es zeigte einen Mann mit länglichem, fahlem Gesicht und kaltem verbissenem Ausdruck. Auch er trug Band und Stern und um den Hals das goldene Vließ. ›Das ist der zweite Herzog von Torrias, Don Alonzo de Lemos, der nach seinem Vater erster Minister in Spanien war. Heute ist auch er es nicht mehr. Stellen Sie sich vor, wie er seinen Eltern vor nächtlich versammelten Granden und Bischöfen ihre Schandtaten vorhält, ihnen ihre Ketten und Orden abnehmen läßt und sie in die Verbannung schickt! Viele ihrer Anhänger sitzen noch in den Gefängnissen an der afrikanischen Küste. Einer aber sollte hingerichtet werden als der Schuldigste von allen, weil die andern nur nach seinem Rat gehandelt: Don Pasqual Correo Azafas. Er entkam in einer Truhe, heißt es.‹

›Und waren sie schuldig?‹ Der Marquis zuckte die Achseln. ›Sie hatten die Macht. Es ist viele Jahre her. – Sie, mein lieber Abbé,‹ fuhr Herr von Saint-Eloi fort, ›haben sich aus der guten Gesellschaft zurückgezogen und sind freiwillig in diese Öde gegangen ... Manchmal glaube ich Sie zu verstehen, manchmal nicht ...‹

›Jedenfalls bin ich sehr gerne hier.‹

›Ich glaube nicht, daß diese gerne hier sind. Sie sind an vielen Orten gewesen, ehe sie zu mir kamen. Aber das merkwürdigste ist, daß man jetzt eben so heiß ihre Rückkehr wünscht, wie einst ihr Fortgehen.‹

›Und warum das, gnädiger Herr?‹

›Ich weiß es nicht. Vielleicht fürchtet man sie, vielleicht um sich ihrer zu versichern, vielleicht um eines Scheines willen, oder sie sind im Besitz eines Geheimnisses ...‹

›Vielleicht wissen sie, wo die Goldbarren sind‹, sagte der Chevalier mit seiner dunkel tönenden Stimme.

›Darum also ist jener Reiter gekommen?‹

›Ich weiß. Dubec hat es mir berichtet. Lieber Abbé, ich habe Ihnen all das nicht nur erzählt, um Ihnen als meinem Gast und als einem Manne von Geist eine Nachmittagsunterhaltung zu bieten, die Sie interessieren könnte. Ich kann nicht oft und nicht lange hier sein, und ich habe manchen Grund zu wünschen, daß jemand hier über diese Personen Bescheid wisse. Und da kommt nur ein Mensch in Frage: Sie. Viele Fäden laufen zwischen den Kabinetten von Madrid und Versailles, und einer jetzt vielleicht über Saint-Eloi. Es könnten sich Dinge hier ereignen, die mir nicht erwünscht wären.‹

›Und was sollte ich tun, gnädiger Herr?‹

Der Marquis machte eine Bewegung mit beiden Armen, wie einer, der sagen will, er wisse es nicht. ›Ich wollte nur, daß Sie Bescheid wissen, lieber Freund.‹

Damit erhob er sich und die beiden anderen gleichfalls, und alle drei sahen durch das Fenster über die Ebene hinaus, wo das weite Grün des alten Parks zwischen den Dächern und Gärten von Saint-Eloi sichtbar war.

Als mein Onkel am späten Abend nach dem Pfarrhof zurückging, der Marquis hatte ihm seinen Wagen angeboten, aber er hatte ihn abgelehnt, – schritt er nachdenklicher als je den gewundenen Hügelweg hinab. Es war völlig Nacht, als er am Tor des alten Parks vorüberkam; im tiefen Schatten der Obstbäume, die über eine Gartenmauer auf der anderen Seite der Straße ragten, blieb er einen Augenblick stehen und sah hinüber. Er wollte weitergehen, als ein Geräusch ihn innehalten ließ. Irgend etwas bewegte sich im Park. Das Gittertor wurde leise geöffnet; irgend jemand kam heraus und entfernte sich in der Richtung, aus der er selbst gekommen war; das Tor wurde wieder geschlossen. Dem Abbé war, als müßte er ein schlechtes Gewissen haben, weil er unabsichtlich wie ein Lauscher und Spion gehandelt hatte. Und er dachte ohne Ergebnis nach; was er belauscht hatte, ließ zu viele Deutungen zu.

Als der Herbst vorschritt und die Bäume und Büsche kahl wurden, konnte man durch das Gittertor in den Park hinein und den Pavillon zwischen fahlen entfärbten Wiesen und später grau im weißen Schnee liegen sehen. Bisweilen fuhren die alten Leute in der Karosse über die nassen blätterbestreuten oder beschneiten Wege. Nur zu Weihnachten zur Christmesse fuhren sie aus dem Park heraus nach der Kirche. Ein roter Teppich wurde über den Schnee gelegt, seidene Kissen nach den Betstühlen des Herrn von Saint-Eloi bei der Sakristei getragen; reich und prächtig gekleidet, aber verfallen in Zügen und Haltung stiegen die Fremden aus, und alle Leute gaben ihnen ehrfürchtig und in atemloser Neugier Raum. Sie saßen in unserer kleinen Kirche dem Altar ganz nahe, und da ich meinem Onkel beim Hochamt als Ministrant behilflich war, konnte ich das Husten des Greises und manchmal das schwere Atmen der alten Dame hören; aber sonst sahen sie starr und unbeweglich auf ihre Gebetbücher nieder, nur der Abbé Azafas wendete hie und da sein schönes durchfurchtes Gesicht langsam, langsam nach dem Pfarrer oder nach der Gemeinde.

Der Winter war in diesem Jahr lang und rauh mit Schneestürmen oder endlosem kalten Regen; Saint-Eloi lag ungeschützt auf einer weiten Hochebene; die hohen Räume im Pavillon waren, obwohl das Brennholz reichlich war, schwer zu heizen; immer öfter fuhr der Wagen des Doktors von Garcheville auf den gefrorenen oder aufgeweichten Straßen herüber und hielt vor dem Hause. Eines Tages kam der Doktor auch nach dem Pfarrhof gefahren und bat meinen Onkel, die alten Leute bisweilen zu besuchen, sie selbst hätten es verlangt. All dies erfuhr ich viel später, da ich nur zu Weihnachten dagewesen und schon lange wieder in Sens war. So kam er bald ziemlich regelmäßig in den Pavillon. In den Zimmern, die die Gastlichkeit des Marquis reich ausgestattet hatte, saß am Kaminfeuer, häufig hustend, sehr stolz und sehr gebrechlich der alte Mann, und, wenn sie außerhalb des Bettes war, schwer atmend, Heiligenbilder betrachtend oder die Hände auf den Stuhllehnen, mit den großen trüben Augen ins Leere schauend die alte Dame. Hie und da spielten sie Karten. Den Geistlichen traf der Abbé zumeist schreibend oder lesend, über Papieren und Akten. ›Er schreibe an seinen Memoiren‹, sagte er einmal. Darauf machte der alte Mann am Feuer eine Bemerkung, die mein Onkel nicht verstand, und auf die seine Frau mit ungewöhnlichem Feuer erwiderte. Ein beinahe jugendliches Lächeln war auf ihren welken, schlecht geschminkten Lippen, und die ein wenig fette, aber hübsche Hand bewegte sich auf der Stuhllehne. Sie sprach lange, und immer feierlicher wurde ihr Ton. Der Abbé verstand einzelne Worte, die immer wiederkehrten, wie ›mio hijo‹ ›mein Sohn‹ und ›el rey‹ ›der König‹, und er glaubte zu erkennen, daß sie von ihrer Rückkehr redete; dann aber schien sie wieder von lang vergangenen schweren Ereignissen zu sprechen und zuletzt zu drohen und zu prophezeien. Solange sie sprach, sah der Abbé Azafas sie gespannt, wie lauernd an. ›Y qué culpa tengo yo?‹ fragte er, als sie geendet hatte, worauf der alte Marquis im Lehnstuhl, ohne sich umzuwenden, vor sich hin die Worte ›Linda burla!‹ sprach. Die alte Dame und der Geistliche warfen einander einen raschen Blick zu. Sowohl die Frage des Geistlichen, die ›Und welche Schuld habe ich?‹ bedeutete, wie die Worte des Greises ›Guter Spaß!‹ hatte der Pfarrer wohl verstanden. Die anderen aber schienen sich jetzt plötzlich wieder seiner Anwesenheit zu erinnern und wendeten sich an ihn mit irgendeiner höflichen Frage nach den Verhältnissen eines Klosters oder einer Kirche der Nachbarschaft.

Aber allmählich durch den Verkehr lernte der Abbé Chazin ihr Spanisch besser verstehen.

An einem der nächsten Tage trat der Wirt zur alten Glocke ihn an, da er vorüberging, und bat ihn, er möge seinem Sohn ins Gewissen reden, der in das fremde Weibsbild vernarrt sei und keine andere zur Frau nehmen wolle. Er erfuhr, wovon er bis dahin nichts gewußt hatte, daß einige Wochen vorher an einem Tage, der offenbar ein spanischer Festtag war, die Dienerschaft aus dem alten Park im Wirtshaus erschienen war und sich ganz verändert gezeigt hatte; insbesondere hatte die Kammerfrau mit den hochgesteckten schwarzen Schleiern und den kleinen Schuhen in einer Weise getanzt, die alle hingerissen hatte; damit hatte die Sache angefangen. Mein Onkel, der dies zu bedenken und mit dem jungen Mann zu reden versprach, war indessen nicht wenig überrascht, als einige Tage später der alte Choquart, der reichste Mann des Ortes, ihm mit der gleichen Klage kam: auch sein langer Sohn lief der Fremden nach. Als er Nicolas, den Wirtssohn, traf und zur Rede stellte, meinte der, es sei doch eine Christin, und es sei doch auch möglich, daß sie etwas Geld hätte, jedenfalls habe er noch kein Weib getroffen, das so den Teufel im Leibe hätte beim Tanzen.

›Jawohl, den Teufel!‹ sagte der Pfarrer, und Nicolas grinste. Auf die Frage, ob denn die Spanierin ihn wolle, lächelte er nur. Dagegen wurde sein Gesicht finster, als der Pfarrer fragte, ob der lange Simon Choquart nicht ebenso denken könne, und mein Onkel erfuhr, daß auch ein Wachtmeister der Maréchaussee in Garcheville, der bei jenem Tanz gewesen, sich seither immer wieder im Ort zu tun mache und um den alten Park herumspüre. Er begann zu vermuten, daß die Spanierin im stillen nicht ganz so stolz und abweisend sein mochte, wie sie sich öffentlich zeigte.

Er fand bald eine Gelegenheit, sie zu sprechen. ›Meine Tochter‹, sagte er, und sie beugte sich demütig. ›Ich habe mit dir zu reden; ich möchte dich warnen ...‹, da warf sie lauschend, wie fragend den Kopf zur Seite, ›man spricht allerlei von dir in Saint-Eloi ...‹

›Ich höre nicht darauf‹, sagte sie schnell, ›wer auf die anderen hört, hört nichts Gutes.‹

›Ja, es ist Ärgernis entstanden.‹ Sie schwieg mit einem Gesicht, als verstünde sie nicht. ›Kennst du einen der jungen Männer im Ort?‹

›Son brutos – es sind Dummköpfe‹, erwiderte sie kurz.

›Wer? Wen meinst du?‹

Todos. Alle.‹

›Hast du keinen Anlaß gegeben?‹ ›Wozu?‹

Der Pfarrer wußte nicht, was er erwidern sollte. ›Gewiß, es kann auch ohne dein Zutun entstanden sein. Aber ...‹

›Was die Narren glauben, die Träumer sehen, die Schwätzer sagen, das kümmert mich nicht.‹

›Mit diesen Sprüchen kommen wir nicht weiter, mein Kind‹, sagte der Abbé Chazin ärgerlich. ›Sage mir offen: gefällt dir einer der jungen Leute hier?‹

›Ich frage nach keinem.‹

›Aber sie fragen nach dir!‹

Sie lächelte finster. ›Son brutos‹ wiederholte sie. In diesem Augenblick trat der Abbé Azafas ein, um den Pfarrer in den Salon zu führen, und er folgte ihm. Als er des Abends nach Hause ging, mußte er über das Gespräch lachen und ärgerte sich auch wieder. Er ließ sich nicht gerne hinters Licht führen. Dennoch wußte er nicht, was er tun sollte. Er sah die Lichter aus den Fenstern der Häuser und Hütten schimmern, über die der Schneewind ging; in allen wußte er Schicksale, die ihm am Herzen lagen. Aber seitdem die Fremden da waren, seitdem er die Erzählung des Marquis gehört, war eine Unruhe gekommen, und auch ihn beschäftigte ihre Anwesenheit und störte ihn in seinem Frieden und in seinen gelehrten Arbeiten. Sie verfolgte ihn bis in seine Träume. Er sah unendliche Wagen mit fremd gekleideten Menschen auf allen Straßen heranrollen und den Ort erfüllen; ein Gewühl von Menschen war um den alten Park, und die Wagen, die mit schweren Ketten behangen waren, rasselten so, daß er aus dem Schlaf auffuhr. Und das Wagenrollen und Rasseln hörte darum nicht auf, es toste in sein Zimmer, daß die Scheiben klirrten, und als er aufstand, seine Soutane umwarf und ans Fenster eilte, um zu sehen, was der Spuk bedeute, sah er tatsächlich einen sechsspännigen, von Reitern, die Fackeln trugen, umgebenen Wagen über den schlecht gepflasterten Platz jagen und in einer Seitengasse verschwinden.

Am nächsten Morgen wußte er nicht, ob auch das nur ein Teil des Traumes gewesen. Er kam eben von einer ewigen Messe zurück, die er an diesem Morgen zu lesen hatte, und stand vor seinem einfachen Bücherschrank, als jemand an seine Türe klopfte und auf seinen Ruf der Abbé Azafas eintrat. Er entschuldigte sich, daß er unangemeldet komme, aber er habe das Haus offen gefunden und niemanden getroffen ...

Der Pfarrer lächelte: ›sein Haus sei nicht verschlossen‹, sagte er, und die Magd wohl einkaufen gegangen, und er fragte, womit er dem Herrn Confrater dienen könne.

Dieser zog ein versiegeltes Wachstuchpaket aus den tiefen Taschen seines geistlichen Rocks; es enthalte den fertigen Teil seiner Memoiren, sagte er, die er ihm, dem Pfarrer, zur Aufbewahrung übergeben wolle, um sie in Sicherheit zu wissen.

Sehr erstaunt fragte mein Oheim, ob sie denn bei ihm im Park nicht weit sicherer seien, als in seinem ungeschützten kleinen Hause?

›Niemand von uns ist sicher,‹ sagte Don Pasqual Azafas, ›nicht Ihre Exzellenzen, nicht ich, noch meine Papiere. Wenn etwas geschehen sollte, bei Ihnen wird man nicht suchen.‹ Und da der Abbé Chazin ihm nochmals sein Erstaunen aussprach, fügte er hinzu: ›Ja, es ist bitter und erstaunlich, wenn Menschen, die nur das Gute gewollt und getan, ihr Leben lang verfolgt werden.‹

›Um irdischen Lohn tun wir es nicht‹, sagte der Pfarrer.

›Sie sind ein Weiser‹, erwiderte Don Pasqual, und der Abbé Chazin wußte nicht, ob er es spöttisch oder anerkennend meinte.

Der spanische Geistliche saß noch bei ihm und setzte ihm auseinander, was, wenn er nicht selbst vorher anders verfügte, mit dem Paket geschehen sollte, als er das gleiche Rasseln wie in der vergangenen Nacht hörte, und, unwillkürlich durchs Fenster schauend, den gleichen Wagen, oder der doch der gleiche schien, nur diesmal mit vier Pferden bespannt und ohne die Reiter, über den Platz kommen sah. Der Wagen hielt vor seinem Hause: deutlich hörte er das Kreischen der Bremsen, das Stampfen und Treten der Pferde, hörte Rufe, hörte den Schlag öffnen und zuwerfen, und einige Augenblicke später meldete ihm die Magd, daß zwei Herren ihn zu sprechen wünschten. Sie folgten ihr bereits; der eine war der Chevalier du Prat, der Freund des Marquis, der andere, den der Chevalier als Don Jaime de Leyva aus Valladolid vorstellte, ein wohlgekleideter junger Mann mit einem hübschen rosigen Gesicht, der sich mit strahlendem Lächeln vor ihm verbeugte und sagte, daß er es als hohes Glück empfinde, den Herrn Abbé kennen zu lernen. Der Pfarrer, der den Eintretenden entgegen gegangen war, erinnerte sich seines Besuches, er wendete sich mit einer Handbewegung zurück, um ihn seinerseits vorzustellen, da sah er in dem lächelnden Gesicht, das ihn soeben mit bezaubernder Liebenswürdigkeit angesehen, eine Veränderung, die so schnell wieder verschwand, daß er nicht wußte, ob er wirklich eine maskenartige böse Starrheit darin gesehen oder sich getäuscht hatte. Der Abbé Azafas war aufgestanden und hatte den Chevalier und den Fremden begrüßt, die seinen Gruß verbindlich erwiderten. Lächelnd sprachen sie einander ihre Überraschung aus, sich hier zu treffen, und erkundigten sich mit großer Höflichkeit einer nach des andern Befinden.

›Auch Ihre Herrlichkeiten, denen ich diene, werden sehr erstaunt sein, von Ihrer Anwesenheit zu hören‹, sagte Don Pasqual, worauf der andere nach der Gesundheit des Herrn Marques und der Frau Marquesa fragte. Mit Trauer erwiderte Don Pasqual, daß Gott sie mit vielen Leiden heimsuche, und Don Jaime hörte es mit Bedauern. Nun aber wolle er nicht weiter stören, sagte Don Pasqual, und er ging nach wiederholten tiefen Verbeugungen vor dem Chevalier und de Leyva, die ihm beide nachsahen, während in das eben noch lächelnde, rosige Gesicht des Spaniers der gleiche finstere Ausdruck trat, den der Abbé schon vorher bemerkt hatte.

›Daß uns dieser Teufel auch hier sogleich über den Weg laufen mußte!‹ sagte er zu seinem Begleiter. Die unerwarteten Besuche und dieser letzte Ausspruch gaben meinem Onkel so viel zu denken, daß er von den Worten, die darauf folgten, nur den Klang vernahm. › ... Die Empfehlung, ja der Befehl des Herrn Ministers genügt,‹ hörte er, sich besinnend, den Chevalier sagen, ›Herr von Saint-Eloi war selbst verhindert und hat mich gebeten, Herrn de Leyva hierher zu geleiten, und er bittet Sie, eine Unterredung zwischen ihm und dem Herrn Marquis von Balmacer zu vermitteln.‹

›Nun wird der Mann, der eben ging, freilich seine Gegenminen legen,‹ sagte Don Jaime, ›aber wer hätte denken können, daß wir ihm in diesem Hause begegnen würden? – Es hat nämlich nie einen gefährlicheren Dämon gegeben‹, erklärte er mit verbindlichem Lächeln, zu meinem Onkel gewendet.

›Ist's möglich?‹ rief dieser aus.

›In dieser besten aller Welten ist alles möglich‹, sagte der Chevalier und er zog seine Dose hervor und schnupfte.

›Sie wissen von jenen verruchten gefallenen Priestern, die über den nackten verderbten Leib das geistliche Gewand tragen, bereit, es bei der schwarzen Messe abzuwerfen?‹

Der Abbé Chazin bekreuzigte sich; er war starr vor Entsetzen.

›So ähnlich ist auch dieser. Sie kennen zweifellos seine Anfänge, wie er als bescheidener Sekretär des Bischofs von Segovia an den Hof kam, sich dort, ein geistlicher Ganymed, durch schändliche Dienste unentbehrlich machte, die er dem unglücklichen Oropesa erwies?‹

›Ich weiß von nichts!‹

›Sie kennen auch die Vorgänge im Kloster von Fuentes nicht?‹

›Nein! Nein!‹

›Ein Nonnenkloster?‹ fragte der Chevalier mit Lachen.

De Leyva machte eine Bewegung, die alles bestätigen konnte. ›Ich weiß nicht, warum die heilige Inquisition ihn damals geschont hat. Irgend jemand beschützte ihn.‹

›Damen! Damen!‹ wieherte der Chevalier.

›Er wurde der Sekretär des ersten Ministers ... er sah sich bereits in Purpur ... Da ... genug, er fiel. Aber er ist noch gefährlich. Er streut Gift in Schriften, er schadet an den europäischen Höfen, er schadet in Rom. Mein gnädiger Herr, der Herzog von Torrias, wird durch ihn sehr behindert; denn das Volk, das immer im Glauben lebt, früher wäre alles besser gewesen, weil es die früheren Leiden vergessen hat und die gegenwärtigen fühlt, – und einen glückseligen Zustand, das wissen Sie wohl, mein Herr Abbé, gibt es nicht, – das Volk glaubt, ein Fluch laste auf meinem gnädigen Herrn, weil er seine Eltern ins Elend getrieben, was er nie getan noch gewünscht hat. Der Beweis ist meine Sendung, ihnen die Rückkehr in allen Glanz anzubieten. Aber ich müßte Ihre Exzellenzen sprechen ohne ihn, sonst erreiche ich nichts. Sie sind Wachs in seiner Hand ...‹

›Es wird nicht leicht sein‹, sagte der Abbé Chazin.

›Aber auch nicht unmöglich‹, sagte der Chevalier aufstehend. ›Denken Sie darüber nach, Herr Abbé. Man wünscht es am Hofe von Madrid, und man wünscht es an unserem Hof. Und ... man möchte andere Mittel, die man anwenden könnte, vermeiden.‹

Sie sahen, wie die Hände des Pfarrers zitterten. Alle drei schwiegen.

›Eltern und Kinder zu versöhnen, kann kein böses Tun sein‹, sprach der Abbé gleichsam zu sich selbst.

Wieder verging eine Zeit, bis der Chevalier rauh ›Nein, gewiß nicht‹, sagte.

›Und Sie ahnen nicht, wie Sie uns verpflichten‹, fügte de Leyva mit seiner sanften schmeichlerischen Stimme und seinem bezaubernden Lächeln hinzu; er hatte den Kopf vorgeneigt und die glänzenden Augen auf die des Pfarrers gerichtet, und mit der Hand streichelte er den Ärmel seiner Soutane.

Wieder entstand ein Schweigen. De Leyva wendete sich zum Büchergestell des Pfarrers: ›Ich sehe, Sie haben unsere Autoren. Wie schön!‹ sagte er freundlich. ›Die Traumgesichte des Quevedo y Villegas,‹ sagte er, ›seltsame Träume! aber die Wirklichkeit ist noch seltsamer!‹ Er nahm das Exemplar heraus und besah die Kupfer darin.

Als die beiden Männer ihn verlassen hatten, blieb der Pfarrer in großer Unruhe zurück. Plötzlich erinnerte er sich der Memoiren, die der Abbé Azafas ihm übergeben hatte: das Paket in schwarzem versiegelten Wachstuch war nirgends zu sehen. Ein heftiger Schreck durchfuhr ihn, aber er beruhigte sich in der Überlegung, daß jener sie zweifellos selbst wieder mitgenommen hatte.

Da es Abend wurde, ging er nach dem alten Park. Als er das Gittertor von ferne sah, wurde es eben geschlossen; jemand ritt in entgegengesetzter Richtung davon. Als er selbst vor dem Tor stand, war niemand mehr da. Der Diener, der ihm öffnete, führte ihn in einen kleinen Vorraum, dessen Türen zu dem runden Mittelsalon offen standen, der unendlich hoch bis zur gewölbten Decke in dämmernder Trübe vor ihm lag; zwischen den von steiler Höhe hängenden Wandteppichen, die seit über hundert Jahren darin hingen, standen hohe, zum Teil erblindete Pfeilerspiegel. Vor einem dieser Spiegel stand Ines, die Kammerfrau; und steckte ihre schwarzen Schleier im Haar zurecht, dann trat sie mit kleinen abgemessenen Schritten zurück und betrachtete sich erst von vorne, dann, den Kopf über die Schulter gewendet, von rückwärts; ihre Bewegung hatte eine stolze Anmut, und in ihren schönen düstern Zügen war ein Lächeln.

Jetzt wendete sie sich völlig um und sah den Pfarrer. Demütig grüßend sagte sie ihm, Seine Exzellenz der Herr Marques sei krank, ein Diener sei eben nach Garcheville um den Doktor geritten, aber die Frau Marquesa werde ihn sicherlich sprechen wollen.

Die alte Dame stand bereits in dem trüben Salon, und der Abbé trat grüßend näher, während Ines verschwand. Auch heute schien es ihm, als wäre eine ungewohnte Lebhaftigkeit in ihr, und bei dem Aufleuchten ihrer Augen waren die Spuren vergangener Schönheit in ihrem Gesichte deutlicher. Mit volltönender, nur wenig zitternder Stimme wiederholte sie ihm, daß ihr Mann krank sei. Der Abbé Azafas leiste ihm Gesellschaft. Der Pfarrer fragte, ob die Krankheit bedenklich, ob sie von Dauer sein könnte.

›Wer kann es sagen?‹ erwiderte die Marquesa mit eigentümlichem Ausdruck. ›Der Doktor ist noch nicht da.‹

Mein Onkel schwieg. Er machte eine Bewegung mit den Händen, die ihm von der Kanzel eigen war, wenn er nach Worten suchte. Die Marquesa sah ihn an. Beide schwiegen nun. Endlich stand der Pfarrer auf. ›Sie wollen mir etwas sagen, Herr Abbé?‹ fragte sie plötzlich.

›Ja, Gnädige Frau ...‹ In der Dämmerung glaubte er in ihrem Gesicht einen spöttischen Ausdruck zu sehen. In diesem Augenblick traten Ines und der junge Diener, der jetzt Seidenstrümpfe und eine schwarze Schärpe um den Leib trug, mit brennenden Kerzen in hohen Leuchtern ein, die sie auf einen Seitentisch stellten, und die sofort vielfach aus allen den hohen Spiegeln in den hohen dunkeln Raum ihren schwachen Lichtschein warfen. Beide entfernten sich sogleich wieder.

Der Pfarrer war in seiner Erregung durch das ganze Zimmer geschritten und, sich umwendend, sah er die Marquesa breit und verfallen auf dem niederen Sofa neben dem Tisch mit den Lichtern sitzen. Ihr Gesicht in dem schwarzen Spitzentuch, unter dem die silberweißen Haare hervorsahen, war auf die Brust gesunken. Es war völlig ausdruckslos. Auf einmal, während er betroffen nach ihr sah, hob sie, wie aus einem Schlaf erwachend, den Kopf, sah ihn an und schien sich zu erinnern.

›Wir wissen, was Sie herführt, Herr Abbé,‹ sagte sie unvermittelt, ›wir wissen, was jener Mann will, der heute bei Ihnen war. Bemühen Sie sich nicht für ihn. Sagen Sie ihm, es sei umsonst; er möge zurückkehren, wie alle, die vor ihm kamen: wir werden ihn nicht empfangen.‹

›Ist es unmöglich, Gnädige Frau? Könnte er nicht etwas Nützliches, etwas Angenehmes vorzubringen haben?‹

›Nein. Wir kennen diese schönen Netze.‹

›Gnädige Frau,‹ sagte der Pfarrer, ›ich maße mir nicht an, auf Ihre Entschlüsse Einfluß zu nehmen. Aber da Herr von Saint-Eloi zu wünschen scheint, daß Sie jenen Mann empfangen, könnten Sie es nicht seinem Wunsch zuliebe tun?‹

›Unser guter Freund, der Herr Marquis von Saint-Eloi, kennt unsere Gründe nicht. Auch ist mein Mann krank und schon deshalb außerstande, ihn zu sehen. Aber er kann mit Don Pasqual sprechen, der sein Sekretär ist, wie Sie wissen, und all seine Geschäfte besorgt.‹

›Gerade das, glaube ich, würde diesen Herrn nicht befriedigen.‹

›Das glaube ich auch.‹

›Vergeben Sie mir nochmals, Gnädige Frau. Wie ich die Sache sehe, dürfte es gerade im Interesse vieler Menschen und in einem Sinn auch in dem des Herrn Abbé Azafas gelegen sein, daß Sie und Ihr Herr Gemahl diesen Herrn empfangen.‹

Die alte Dame sah ihn an, als ob sie ihn nicht begriffe. Ihr Ausdruck wurde der eines Kindes, das weinen will.

›Ich weiß‹ rief sie, ›es geht doch alles nur darum, jenen Engel zu verderben, den einzigen, der uns treu geblieben ist, als alle andern uns verließen, der nie an sich denkt, nur an uns und an sein Land und an unsere heilige Kirche, der darum nie einen Lohn gehabt hat, als Haß und Elend, das er mit uns teilt, und den wir nun preisgeben und verraten sollen. Aber weder ich noch der Herr Marques werden je darein willigen. Nicht jetzt und niemals!‹

Sie wollte aufstehen, aber sie vermochte es nicht und sank schwer auf den Sitz zurück. Dicke Tränen liefen unter ihren schweren Lidern hervor über die faltigen Wangen, die schlaff geworden waren. ›Ines!‹ rief sie in lang gezogenem, klagendem Ton, ›Ines!‹

Die Kammerfrau stürzte herein. Die alte Frau keuchte und atmete schwer. Der Pfarrer stand hilflos. Die Kammerfrau, die wieder hinausgeeilt war, ein starkes Riechmittel zu holen, warf einen finsteren Blick auf ihn. In seiner Bestürzung begann er ein Gebet, und die Kammerfrau neigte die Stirn, während sie das Mittel ihrer Herrin zum Riechen gab, und die Marquesa schien ruhiger zu werden.

Sehr unzufrieden kehrte der Abbé Chazin nach seiner Wohnung zurück. Er hatte nichts erreicht und er wußte nicht, ob er nicht zu viel gesagt hatte. Er begriff und war ärgerlich darüber, daß Herr von Saint-Eloi sich aus dem Spiele zog und ihn vorschickte, und es war ihm nicht klar, um was es ging.

Am andern Tage kam Don Jaime de Leyva. Er trug ein graues Reitkleid mit erdbeerfarbener goldgestickter Weste und ritt auf einem weißen arabischen Pferd mit langer seidiger Mähne und Schweif. Ein Mohr in kurzer gelber Seidenjacke, aus der weiße Linnenärmel sich bauschten, folgte ihm. Starr staunend hielten die Leute in ihrer Arbeit inne, wo er vorüberkam. Bewundernd sahen die Weiber den schönen Herrn und erschrocken und seltsam angezogen zugleich und sich bekreuzigend, den nie gesehenen, mit den wulstigen Lippen, den weißen Augen und Zähnen einem Ungetüm gleichenden, schwarzen Diener. Auf dem Marktplatz stieg de Leyva ab und ging in den Pfarrhof. Um den Schwarzen, der die edelgebauten, geäderten Pferde hielt, sammelte sich das Volk. Eine Weile später kam auch der Chevalier, von einem Reitknecht aus dem Schlosse gefolgt, und ging gleichfalls ins Haus.

Der Abbé Chazin berichtete seinen Mißerfolg. ›Ja, natürlich,‹ sagte de Leyva mit seiner sanften einschmeichelnden Stimme, ›nun wird der Marques so lange krank sein, als ich hier bin. Was tun wir?‹

Der Pfarrer sagte noch, daß jede Andeutung gegen den Abbé Azafas die Marquesa aufs heftigste zu erregen schien.

›Selbstverständlich. Sie zittert um ihren Geliebten. Wußten Sie das nicht? Durch sie beherrschte er ihren Mann, durch ihren Mann Spanien.‹

Mein Onkel mußte sich an den Tisch setzen und stützte das Haupt in die Hände. Mit diesem Sodom wollte er nichts mehr zu tun haben.

›Der Herr Abbé Chazin hat Paris schon völlig vergessen‹, sagte der Chevalier.

›Ja, und ich danke Gott dafür‹, erwiderte mein Onkel.

Der Chevalier zuckte die Achseln. Die beiden Männer gingen wieder fort, da sie offenbar allein beraten wollten. Verstört begleitete der Pfarrer sie an die Haustüre und sah den Mohren unter dem gaffenden Volk stehen. In seiner Aufregung hatte er den Stimmenlärm vor seinen Fenstern nicht gehört. Ärgerlich über das Gedränge und das Aufsehen ritt der Chevalier, sowie er im Sattel saß, rücksichtslos an. Weiber und Kinder fuhren schreiend auseinander; Männer murrten und redeten, aber erst als die Herren außer Hörweite waren. Dann bewegte sich der Schwarm vom Pfarrhof weg über den Platz der alten Glocke zu. Der Abbé Chazin war ins Haus zurückgekehrt.

Nach dem langen Winter war eine frühe und ungewöhnliche Wärme geworden; gelbe und violette Blumen standen an den Wegrändern, und die Bäume trugen hellgrüne Knospen an den braunen Zweigen. Von dem warmen Wetter gelockt, hatte eine wandernde Seiltänzertruppe ihre Karren auf der Wiese halten lassen, die jenseits der Landstraße an den Marktplatz grenzte, und während sie ihre Stangen und Seile aufstellten, lud ein trommelschlagender bunter Polichinell die Leute zu den Vorführungen ein. Vor dem Wirtshaus zur Glocke standen die Pferde der Maréchaussée; der Brigadier aus Garcheville war mit einigen Reitern eingekehrt. In der Gaststube mit den großen, viereckig gegitterten Scheibenfenstern saßen die Leute an den Holztischen und tranken. Der Wirt hielt seinen Sohn, dem er böse war und kein freundliches Wort gab, an dem riesigen Kaminherde, in dem ein rauchendes Feuer brannte, und an dem Holzschrank mit den vielen Krügen fest. Ich sah das alles; denn ich kam, da Ostern nahe war, an diesem Tage aus Sens, und mußte an der Türe halten und viele Bekannte begrüßen und Hände schütteln. Gerade in diesem Augenblick kam die Spanierin aus dem alten Park mit ihren hochgesteckten Schleiern und sehr weißen Strümpfen in den kleinen Schuhen, von dem ernsten jungen Diener mit der schwarzen Schärpe begleitet. Unter den Gästen entstand eine gewisse Erregung; an den vordersten Tischen wurde es stille; der lange Simon Choquart erhob sich; aber der Brigadier in seinem blauen Tressenrock und sporenklirrenden Stulpstiefeln kam ihm zuvor und trat, den Dreispitz schwingend, auf die Fremde zu. Mehr sah ich nicht; denn ich mußte weiter gehen.

Ich fand meinen Onkel, obwohl er sich meiner Ankunft wie sonst liebevoll freute, nachdenklich und trübe gestimmt. Wir speisten miteinander, und er fragte nach meinen Studien und ließ sich allerlei aus dem Seminar und vom Kapitel in Sens erzählen, aber ich merkte, daß seine Gedanken oft abwichen und er in Schweigen versank. Die alte Françoise, unsere Magd, sagte mir, daß Türken und Heiden im Ort wären, so daß ein christlicher Geistlicher wohl in Sorgen sein könne. Am dämmernden Nachmittag half ich dem Onkel seine Bücher und Papiere ordnen, und ich rief eben Françoise, sie möchte die Lampe bringen, als ein ungeheurer Lärm aus dem Gasthof herüber scholl, auf den eine plötzliche Stille eintrat. Dann neuer Lärm und wieder Stille und dann Rufe und eiliges Laufen auf dem Platz. Wir fühlten, daß etwas geschehen sein mußte. Mein Onkel eilte aus dem Haus, und ich folgte ihm. Als wir hinüberkamen, führten die Reiter der Maréchaussée eben den Sohn des Wirtes, der totenbleich war und sich nicht wehrte, aus dem Gasthof. Ebenso bleich und regungslos, die Lippen verbissen, stand sein Vater in der Türe. Die Weiber drängten nach, weinend und heftig redend. In der Gaststube lag Simon Choquart, Kopf und Gesicht blutüberströmt, auf der Erde. Einer der Reiter und eine Frau knieten neben ihm und suchten mit Tüchern das Blut zu stillen. Eben drängte sich der bunte Polichinell durch die Leute und rief: ›Lassen Sie mich, meine Herren; ich weiß mit Wunden Bescheid!‹

Den verworrenen Erzählungen der Leute entnahmen wir, daß Nicolas, vom Vater am Schanktisch festgehalten, mit wütender Eifersucht beobachtet hatte, wie die Spanierin mit dem Wachtmeister und dem langen Choquart schäkerte, bis er in einem Augenblick, in dem der Wirt nach der Küche gerufen worden, plötzlich an ihrem Tisch erschienen war. Was er ihr gesagt oder vorgeworfen, was sie erwidert, wußte niemand; er hatte sie an der Hand gefaßt, die sie ihm zu entziehen suchte, und ihr ins Gesicht gesehen; da hatte Simon sich dreingemischt, und ehe der Brigadier, der gleichfalls aufgesprungen war, dazwischentreten konnte, hatte Nicolas dem andern den schweren Krug über den Kopf geschlagen.

Bleich und mit finsterem Gesicht stand die Spanierin da; sie hatte keine Hand gerührt, dem am Boden liegenden, blutenden Mann zu helfen; drohend, als würden sie im nächsten Augenblick auf sie losfahren, und doch halb zurückweichend, standen die Frauen des Orts um sie. Da trat mit schweren Schritten der Wirt auf sie zu und sagte mit einer Handbewegung: ›Hinaus!‹ – Hochmütig, ohne ihn anzusehen, hob sie den Kopf und winkte dem Diener; der Brigadier bot ihr galant den Arm, aber sie dankte und schritt, von dem schweigenden Jungen gefolgt, ohne sich umzusehen, langsam aus dem Saal.

Lange schrien und erzählten die Leute noch durcheinander; die ganze Nacht währte der Lärm. Und auch an den nächsten Tagen ward keine Ruhe in Saint-Eloi.

Der Wirt war, seitdem er seinen Sohn im Gefängnis zu Sens wußte, ein veränderter Mann; er sprach fast nichts, und wenn seine Frau weinend an ihn trat, schob er sie nur schweigend weg. Den alten Choquart sah man jammernd und fluchend durchs Haus irren, während sein Sohn mit gebrochenem Schädel im Fieber lag.

In allen Leuten aber war ein heftiger Haß gegen die Fremden losgebrochen. Sie rotteten sich vor dem alten Park zusammen und drohten und schrien, sie kamen zum Pfarrer und zu Herrn Dubec und verlangten, daß jene aus dem Ort entfernt würden, die Diener durften sich kaum auf der Straße zeigen.

Wir wußten, wie gefährlich die Leute unserer Gegend werden konnten; sie haben es zwanzig Jahre später schrecklich bewiesen. Mein Onkel suchte sie zu beruhigen; gleichzeitig aber schrieb er an den Herrn Marquis von Saint-Eloi, um ihm die Gefahr vorzustellen. Dagegen ließen der Chevalier du Prat und de Leyva vom Schloß aus die Stimmung der Leute, die ihnen genehm war, schüren, – obwohl wir dies erst später begriffen.

In der zweiten Nacht nach dem Vorfall löste sich die unzeitige Wärme in einem frühen Gewitter mit furchtbaren Blitzen und Donnerschlägen und heftigem Regenguß, der die Wiesen überschwemmte und auch dann die Tage und Nächte weiter niederging, als das Gewitter vorüber war.

Durch den Regen fuhr ein Wagen ins Dorf, der von Paris kam, und in dem ein schwarz gekleideter Mann mit weißer Perücke saß, ein ebenso schwarz gekleideter Schreiber neben ihm. Ich weiß nicht, was die Leute sich dabei dachten und versprachen, aber es ging sogleich ein großes Gerede und eine Erwartung durch den Ort. Der Wirt und andere behaupteten, daß er einen Befehl der Regierung überbrachte, die Fremden auszuweisen.

Zwei Tage später am frühen Morgen, als es noch dunkel war, schlug jemand an unsere Türe; die alte Françoise oben in ihrer Kammer hörte nicht; aber der Oheim hatte einen leisen Schlaf; er weckte mich; ich nahm ein Licht und öffnete. Draußen im Regen stand ein Diener aus dem alten Park und bat den Pfarrer zu kommen, da es sich um das Viaticum handle. Mit dem Diener, der eine Laterne trug, gingen wir zur Kirche hinüber, die nur wenige Schritte entfernt auf einer kleinen Anhöhe hinter dem Pfarrhause lag. Mein Onkel öffnete die kleine Seitentüre, die durch die Sakristei in die Kirche führte; er warf das Chorhemd und die Stola über und nahm den Kelch und den Leib des Herrn aus dem Tabernakel am Altar, in dem sie verwahrt wurden; dann verlöschte er das ewige Licht und schritt aus der Kirche, die er wieder zuschloß. Die alte Françoise hatte inzwischen einen Wein geglüht, und er trank, so schnell es ging, um sich ein wenig zu wärmen; er hatte sich in den letzten Tagen nicht wohl gefühlt, und er nahm mich, da er ja doch einen Ministranten brauchte, auf meine Bitten mit.

Es war indessen heller geworden, und der Regen hatte aufgehört. In der Ferne zwischen den Wiesen brach ein trüber Tag an. Der Wind blies durch die Stoppeln, wir gingen frierend durch den kalten Morgen; der Onkel, in seinem alten Pelzmantel, schritt mit den großen Schnallenschuhen durch die Regenlachen; sein Gesicht war sehr nachdenklich. Noch war kein Mensch in den Straßen, und meines Glöckleins bedurfte es nicht. Der Diener mit seiner fahl brennenden Laterne ging voran.

Zum erstenmal sahen wir das Gittertor des alten Parks offen. Als wir die Allee durchschritten hatten, sahen wir mit Staunen den uralten braunen Reisewagen vor dem Hause stehen, in dem die Fremden vor einem Jahre nach Saint-Eloi gekommen waren. Es waren keine Pferde davor gespannt, die Stangen lagen zur Erde gesenkt, und er sah noch jammervoller, abgebrochener und fleckiger aus.

Wir gingen um den Wagen herum ins Haus. Überall standen die Türen offen, die Vorzimmer waren leer. Wir wurden nach dem Schlafzimmer des Marques geführt. Er lag, wachsweiß im Gesicht, unter einer gelben Seidendecke; an der Wand über dem Bette hing ein großes Heiligenbild, auf dem Nachttisch stand ein silbernes Kruzifix, eine Sanduhr und viele Medizinflaschen. So oft der Sand im Glase ablief, flößte der alte Diener dem Sterbenden einen Löffel mit irgendeinem Stärkungsmittel ein. An einem Betstuhl, der im Zimmer stand, vor einem riesigen bemalten Holz-Kruzifix kniete der Abbé Azafas und las murmelnd aus dem aufgeschlagenen Brevier. Die Türen zum nächsten Zimmer standen weit offen; dort saß in einem schwarzen Seidenkleide, im dunklen Spitzenschleier die Marquesa; unter den schweren Lidern hervor liefen große Tränen über ihre schlaffen Wangen, und ihre Mundwinkel zuckten von Zeit zu Zeit. In den offenen Türen weiter rückwärts knieten Ines und Juan und ein Teil der anderen Dienerschaft. Als der Pfarrer im weißen Chorhemd hindurchschritt, begann erst einer, dann andere laut zu schluchzen. Sogleich aber entstand eine tiefe feierliche Stille, da er sich über den Sterbenden beugte, um die Beichte zu hören; ich, der gleichfalls im weißen Überwurf etwas ferner stand, weiß nicht, ob der Marques noch Worte mit Bewußtsein sprach. Mein Onkel erteilte ihm das Sakrament und die letzte Ölung, dann kniete er hin und betete. Ich sah, wie seine Hände dabei zitterten.

Die Marquesa wollte gleichfalls niederknien, aber ihren schweren Gliedern gelang es nicht; Ines eilte hinzu, aber sie riß die sie stützende mit sich nieder und beide fielen hin, nur auf den Teppich und in die Kissen, und die alte Dame wurde sogleich aufgerichtet; mit den Ellbogen auf eine Bank gestützt, die man ihr hinschob, betete sie; aber ich sah wohl, daß die französischen Diener ihr Grinsen durch tieferes Senken der Köpfe zu verbergen suchten und ein Lachen nur mühsam unterdrückten.

Von dieser sonderbaren Störung wurden wir durch das Eintreten des Arztes abgelenkt, der eben aus Garcheville gekommen war. Er beschäftigte sich mit dem sterbenden Manne und traf leise und wichtig verschiedene Anordnungen.

Alles schien zu warten. Der Abbé Azafas trat auf meinen Oheim zu und bat ihn sehr, nicht fortzugehen und die Marquesa nicht zu verlassen. Ich sah, wie sein Ausdruck sich veränderte und abweisend wurde, als der spanische Geistliche ihn anredete, und dieser merkte es auch. Er nickte nur, zum Zeichen, daß er bleibe, aber er sah so bleich und erschöpft aus, daß Don Pasqual ihm Wein bringen ließ.

Der Marques begann zu röcheln; nach einer Zeit hörte das wieder auf; aber er lebte noch.

Eine endlose Zeit verging, in der gebetet oder doch so getan wurde. Merkwürdig, wie in das sonst so verschlossene Haus heute die Leute kamen. Ich glaubte Herrn Dubec zu sehen, sowie Diener aus dem Schloß des Marquis, die irgend etwas brachten.

Plötzlich ging eine neue auffällige Bewegung durch alle Anwesenden. In dem hohen Mittelsalon mit den Pfeilerspiegeln und Wandteppichen standen, durch die Türen sichtbar, der Chevalier du Prat, groß, mit dem mächtigen Kinn, der Hakennase, der hämisch vorgeschobenen Unterlippe, neben ihm, prächtig gekleidet, mit kostbarsten Spitzen, den Hut unterm Arm, Don Jaime de Leyva, und hinter beiden der schwarz gekleidete Herr mit der weißen Perücke, der aus Paris gekommen war.

Alles sah sich nach ihnen um; ich sah, wie Don Azafas die Lippen zusammenbiß, die Marquesa schaute wie mit leeren Blicken, sie war in sich versunken und schien noch nicht zu verstehen.

Wer eine Anordnung getroffen, weiß ich nicht. Aber plötzlich wurden die Flügeltüren geschlossen, und im nächsten Augenblick war das Sterbezimmer fast leer. Auch ich fand mich draußen unter den andern. Ob sie absichtlich oder ahnungslos durch die offenen Türen eingetreten, ob es eine bewußte oder unbewußte Brutalität war, der Chevalier und Don Jaime bewahrten eine sichere Miene, und gingen, wenn auch mit leisen Schritten und Worten, in den Vorräumen, als die im Hause zu gebieten hatten. Und sie sahen mit einer gewissen Erwartung auf den kleinen Herrn aus Paris, der eine seidene Aktentasche unterm Arm hielt, ihr ein Schriftstück entnahm und, auf seine Uhr sehend, zu einem der Diener sagte, indem er zugleich mit dem Zeigefinger auf die eben geschlossenen Türen wies: ›Mein Freund, sagen Sie dem Herrn Abbé von Azafas, ich bedauerte unendlich, aber die Zeit sei um.‹ Der Diener, ein breiter großer Mensch, zuckte nur die Achseln; der Mann mit der Aktentasche sah fragend nach dem Chevalier, dann trat er ans Fenster. Da meine Blicke ihm folgten, sah ich den Brigadier und vier Reiter der Maréchaussée aus Garcheville in ihren blauen Uniformen in der Allee halten. In diesem Augenblick öffnete sich die Türe, und der Abbe Azafas trat heraus. Da der Beamte auf ihn zueilte und die Uhr herauszog, sagte er nur: ›Ich weiß. Aber Seine Exzellenz, der ich seit dreißig Jahren diene, liegt im Sterben. Können Sie mir nicht noch eine kurze Zeit geben, bis es vorüber ist?‹

Mit beiden Händen machte der kleine Mann eine beteuernde Bewegung: ›Der Befehl der Regierung, mein Herr Abbé, in vierundzwanzig Stunden! Unmöglich! ganz unmöglich! Ich bedaure unendlich, in dieser Stunde stören zu müssen, aber es ist unmöglich.‹

Der Abbé richtete sich auf. Der Blick des Mannes mit der Perücke fiel auf ein kleines Köfferchen, das ein Bedienter eben aus dem Hause tragen wollte. ›Sie können keine Schriften mitnehmen, Herr Abbé‹, sagte er.

›Öffnen Sie!‹ erwiderte Don Pasqual mit einer Handbewegung. Nie hatte er schöner und vornehmer ausgesehen als heute. ›Sie haben Ihre Zeit nicht gut gewählt,‹ sagte er zu dem Chevalier und de Leyva gewendet, die schweigend zusahen, ›aber ich vergebe Ihnen. Ich empfehle mich Ihnen und werde für Sie beten.‹ Sie erwiderten nichts. Aus dem Innern des Hauses scholl ein Weinen wie das eines kleinen Kindes. Dann hörte man schwere schleppende Schritte; die Flügeltüren gingen auf; allein, nicht gestützt, von Ines nur gefolgt, kam die Marquesa heraus, und sich mit der einen Hand in dem Türrahmen haltend, das zerstörte, tränenvolle Gesicht hebend, rief sie in erschütterndem Ton, in dem alle Sorge und Liebe einer Frau lag: ›Don Pasqual!‹

Er wendete sich um: ›Frau Marquesa?‹ fragte er ehrerbietig.

›Ich gehe mit Ihnen‹, sagte sie.

Abwehrend hob der Abbé die Hand. Düster sah Don Jaime, der sich bei ihrem Eintreten tief verbeugt hatte, auf die alte Dame und den Geistlichen. Niemand sprach ein Wort. Da wendete sich die alte Frau schwer innerhalb der Türe um und schrie ins Zimmer zurück: – auf spanisch, wie alles, was sie gesprochen: ›Señor, Señor Marques! Don José! er geht! – wir auch! Stehen Sie auf, Señor! Sie müssen stark sein!‹

Ines bemühte sich um sie, mein Onkel war auf sie zugetreten, um sie zu beruhigen, – da geschah, was ich nie vergessen werde.

Im Zimmer hinter ihr, nur drei Schritte entfernt, stand in seinem weißen Spitzenhemd, die dünnen fleischlosen, fast violetten Beine nackt, der Marques, den man einen Augenblick unbeachtet gelassen hatte.

›Wir gehen nicht, nicht,‹ sprach er, laut genug in der lautlosen Stille, die entstand, ›wir gehen nicht ... nach Spanien ... zurück ... Nie meinen Fuß ... ich setze meinen Fuß ... ‹ Der Arzt war auf ihn zugestürzt, und wollte ihn stützen, ihn am Arm fassen; aber mit unerhörter Hoheit, die grotesk war bei dem Aufzug, in dem er dastand, sagte er: ›Geben Sie acht, daß Sie nicht, ohne daß ich es erlaube, mich berühren! ... Nie zurück!‹ wiederholte er, – da fiel sein Blick auf de Leyva, der unwillkürlich vorgetreten war, um zu sehen, ›Nie zurück nach Spanien, du ... du Hund!‹ sagte er, ihn mit unsäglicher Verachtung anblickend. Seine Augen sahen starr. Er öffnete noch ein- oder zweimal den Mund, ohne zu sprechen, dann wankte er und schlug hin, mit dem Kopf an den Fuß einer Truhe, und lag in peinlicher Entblößung, und war tot.

Man hob ihn auf und legte ihn auf das Bett, man deckte ihn mit der gelbseidenen Decke zu bis an den Hals und legte ein kleines silbernes Kruzifix auf die Brust. Der Abbé Chazin schloß ihm die Augen, dann kniete er wieder am Lager hin und betete. Kerzen wurden angezündet, und die Türen wurden wieder geschlossen.

Draußen standen noch alle in wirrem Schreck. Die Marquesa, die beständig leise schrie, war in ihr Zimmer gebracht worden. Kalt entfernte sich der Chevalier. ›Sie können dem Herrn Abbé Zeit geben!‹ sagte er zu dem Perückenmann.

De Leyva war schon vorher hinausgeschritten.

Drei Tage später traf der Marquis von Saint-Eloi aus Paris ein. Es war ein Begräbnis, wie der Ort es nie gesehen hatte. Es kamen Herren von der spanischen Gesandtschaft, Herren vom Hofe und von den Ministerien, und die Edelleute und Geistlichen der Umgebung. Wagen auf Wagen rollte in den stillen Ort und über den schlecht gepflasterten Platz, rasselnd, tosend, wie der Abbé Chazin es geträumt hatte.

Man hatte den Toten einbalsamiert; unzählige Kerzen brannten um den Sarg, Teppiche lagen vom Sterbezimmer bis in die Allee hinaus; vier Herren trugen den Sarg, hinter ihm schritt Juan, in schwarzseidener Tracht, der auf einem violetten Kissen eine Fürstenkrone mit der Kette und dem Orden des goldenen Vließes trug, Wagen auf Wagen folgte, und in dem ersten saß in langen Witwenschleiern, unkennbar, die Marquesa mit dem Abbé Azafas.

Der Coadjutor von Sens war herübergekommen, und in großem Ornat celebrierte er die Totenmesse. Das De Profundis ertönte, und auf unserem kleinen Friedhof wurde der erste Herzog von Torias vorläufig beigesetzt. Unzähliges Volk aus Saint-Eloi und aus der Umgebung stand schweigend um die Kirche und vor dem Friedhofstor angesammelt.

Zwei Tage nach dem Leichenbegängnis, – die Trauergäste hatten Saint-Eloi verlassen und der Ort war wieder leer, – kam noch ein sechsspänniger Wagen von der Landstraße über den Platz und nach dem Schlosse gefahren, in dem ein hagerer, schwarzgekleideter Mann mit fahlem, verbissenem Gesichte saß. Auch er trug einen Stern, und der Marquis von Saint-Eloi kam ihm bis ans Tor entgegen, als er mit einem andern schweigenden Herrn aus dem Wagen stieg. Seine Augen sahen kalt auf den Marquis, während er sich mit gemessener Höflichkeit nach den Vorfällen im alten Park erkundigte und nach Herrn de Leyva fragte, der gerade einige Stunden vorher mit dem Chevalier abgereist war. Dann fuhr der Marquis selbst mit ihm nach dem alten Park; aber als sie dort ankamen, wurden sie zwischen den Gartenmauern durch eine Menge Volks aufgehalten, das in lebhafter Erregung schien. Ein Reisewagen fuhr aus dem Tor; es war nicht jener alte zerbrochene, aber doch ein einfacher dunkler Reisewagen, in dem die Marquesa und der Abbé Azafas weiter ins Exil fuhren. Neben dem Kutscher saß Juan, und in einem zweiten Wagen folgte Ines und der alte Diener mit Koffern und Truhen. Gegen sie drohte und schrie das Volk. Aber sie saß mit ihrem olivfarbenen finstern Gesicht so unbewegt, wie sie gekommen war. Der Wagen, der vom Schlosse kam, hatte halten müssen, schon um die andern aus dem Tor zu lassen; dabei hatten die Insassen des einen die des andern erblickt; der hagere Mann mit dem blassen Gesicht und den kalten Augen wurde noch blasser; stumm wies er mit dem Finger auf den Schlag, den einer seiner Begleiter rasch öffnete; er stieg aus, der Marquis folgte ihm; die Leute gaben Raum, er trat an den Schlag des andern Wagens, öffnete ihn, sich tief verneigend, und wollte der alten Dame die Hand küssen. Sie sah ihn starr an, zuckte zusammen: ›Weiterfahren!‹ rief sie dem Kutscher zu und wendete sich ab, während der Abbé Azafas schweigend und gleichsam bedauernd grüßte. Aber in seinem Gesicht lag ein unverkennbarer Hohn, während der vornehme Fremde, dessen Züge noch finsterer wurden, ohne sich um den Marquis oder sonst jemanden zu kümmern, nach seinem Wagen zurückschritt und einstieg.

Dies wurde uns nachher vom Herrn Marquis von Saint-Eloi erzählt, als mein Onkel und ich ihn auf seinen Wunsch im Schlosse besuchten. Der Marquis ließ sich seinerseits von meinem Onkel alles genau berichten, was in seiner Abwesenheit geschehen war; er schien verstimmt und, ich würde sagen, verlegen, wenn man dieses Wort auf einen so großen Herrn, und der sich so sehr in der Gewalt hatte, anwenden könnte. Er fühlte, daß mein sonst so gütiger Oheim ihm die Rolle nicht vergab, die er ihn hatte spielen lassen. Wir saßen im selben spanischen Zimmer, in dem der Marquis ihm einst die Geschichte seiner Gäste erzählt hatte, und von ihren Bildern sahen sie seltsam genug in Jugendglanz auf uns herüber, die wir nur die traurigen Schatten gekannt hatten, die unter uns gewohnt. Es war kein froher Besuch.

Mein Oheim schrieb später alles auf, was er erlebt und über die Sache in Erfahrung gebracht, aber er sprach nicht gerne davon. Er alterte schnell, und ich bin einige Jahre später sein unwürdiger Nachfolger geworden in Saint-Eloi, bis die Gönnerschaft meines gnädigen Herrn, – der Erzähler verneigte sich vor dem Bischof, – mich nach Auxerre berief, und der gleiche Sturm uns beide aus Frankreich jagte. Das ahnte ich damals nicht, als ich dem Reisewagen mit den beiden alten Leuten nachblickte, wie er zwischen den nassen Feldern entschwand, daß ich einst auf gleichen Wegen würde gehen müssen. Nur daß wir unschuldiger in dieses gastliche Schloß gekommen sind.« Der Erzähler schloß und verbeugte sich vor der Dame des Hauses, die Tränen in den Augen hatte. Sie und der Hausherr und die Tochter dankten lebhaft.

»Wir sind unschuldiger dazu gekommen«, wiederholte der Marquis von Faverolles seufzend. Der weißhaarige Bischof lächelte. Der Fürst, der, ohne den Wein zu vernachlässigen, zugehört hatte, sagte: »Man hatte damals noch mehr Respekt« und hustete kurz, daß es wie ein ärgerliches Knurren klang. Sein Adjutant und der preußische Offizier, die erst während der Erzählung an den Tisch getreten waren, kamen sogleich wieder auf die Nachrichten aus Madrid und Bayonne zu sprechen: »Auch dort war ein de Leyva beteiligt,« sagte der Adjutant, »und wieder beim Exil und Sturz eines Mächtigen, nur daß diesmal die königliche Familie mitstürzte. Der Napoleon macht die Sachen ganz.«

»Ja, man hatte damals noch mehr Respekt«, sagte der Fürst nochmals, das Gesicht verziehend, und stand auf.

»Es wird derselbe de Leyva sein,« meinte der Abbé Chazin, »der Mann mußte Karriere machen.«

»Aber was ist aus den Memoiren des Abbé Azafas geworden?« fragte der Hausherr, der ein Büchersammler war.

»Wer weiß es? Vielleicht hat er sie noch vor seiner Abreise vernichtet, vielleicht aber sind sie erhalten und kommen noch einmal zum Vorschein und werfen ein neues Licht auf jene alten Geschichten und die Vorgänge im Hause Lemos.«

*


 << zurück weiter >>