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Der Pfarrer von Sarvechs

Man hatte mich davor gewarnt, den Weg übers Röllgebirge zu nehmen; ich würde Kassalp nicht vor tiefer Nacht erreichen und im Dunkeln sei der Weg gefährlich; ich sollte dann lieber in Sarvechs bleiben, wo ich beim Pfarrer Unterkunft finden würde.

Als es sechs Uhr Abend wurde und ich noch nicht in Sarvechs war, sah ich, daß die Warner Recht behalten würden. Selten hatte ich eine so rauhe und öde Gegend gesehen. Die schmale gelbliche steinige Straße führte an einem Abgrund hin, und auf der andern Seite war nur hie und da mit Föhren bewachsener Abhang, sonst starre Felswand. Seit Stunden war ich keinem Menschen begegnet. Über mir zog schweres dunkles Gewölk herab, und jetzt machte der Weg eine Strecke vor mir eine Biegung, so daß ich nur Wolken und Nebel sah und die Welt zu Ende schien. Da hörte ich einen Ton und ein Rasseln; ein Ochsenwagen kam um die Ecke und mir entgegen; es schien, als konnte ich nur in den Abgrund oder in die Wand ausweichen. Ich eilte zurück und abwärts, bis der Fels eine Art Nische bot, in die ich mich pressen und das Gefährt vorbeilassen konnte. Es war ein gedeckter Leiterwagen, auf dem Möbel mit Stricken festgebunden waren. Der Kutscher kam hinter ihm her und sah mich erstaunt an; einige Schritte weiter kam eine Frau gegangen, hager, knochig, mit einem braunen Gesicht, das wie aus Holz geschnitzt schien und, obgleich es nicht jung war und nichts weiches hatte, dennoch nicht unschön war. Auch sie sah mich mit Erstaunen, aber sie erwiderte doch meinen Gruß, und als ich fragte, wie weit es noch bis Sarvechs sei, sagte sie, daß ich bei der nächsten Biegung die Kirche und die Häuser sehen würde. Ich fragte nun nach dem Pfarrer und ob ich bei ihm wohl Nachtquartier finden könnte?

»Der Pfarrer? Da fährt seine Einrichtung zu Tal!« antwortete sie, auf den Wagen weisend.

Mein Gesicht wurde wohl betroffen. »Aber geht nur immer zu ihm«, fuhr sie fort. »Er wird Euch schon beraten; er tut es; und Raum hat er mehr als je.«

Sie lachte; aber dieses Lachen hatte etwas Trauriges. Sie senkte den Kopf und sah vor sich hin; dann, indem sie mit einer eckigen, aber wieder nicht unschönen Handbewegung sich zurückwendend mir den Weg wies, eilte sie dem Wagen nach.

Ich stand am Abgrund allein, über mir das dunkle Gewölk und die starrende Felswand.

Aber als die Straße ihr« nächste Biegung machte, erweiterte sich das Tal; der Bergabhang wich in einer Art steiler Mulde zurück, und ich sah da und dort die kleinen Häuser an die dunkle Wand geklebt, und auf einem Vorsprung, gleichsam gefährlich über die Tiefe hinausragend, die weiße Kirche.

Steile schmale Wege und Treppen führten rechts und linke von der Straße zu den Häuschen aus weißem Kalk und dunklem Holz, die von armseligen Gärten umgeben waren. Aber kein Mensch war zu sehen, kein Kind; nur ein Huhn lief über einen der kleinen Wege und verschwand mit leisem Glucksen. Ich ging auf die Kirche zu, da ich damit auch in die Nähe des Pfarrhofs zu kommen dachte.

Zwei oder drei Stufen führten mich durch eine offenstehende hölzerne Gittertüre auf den kleinen Friedhof, in dem die Toten hoch über dem Talgrund lagen. Die Kirchentür war geschlossen. Da ich um die Kirche herumging, sah ich auf der andern Seite einen Mann stehen, der einen Spaten in der Hand hielt und Scholle um Scholle umdrehte. Jetzt hielt er in dieser Arbeit, die ohne Sinn schien, inne und sah in das ungeheure Nebelmeer über dem Tal hinaus. Als ich mich bewegte und er meine Schritte hörte, wendete er sich rasch um. Er war mittelgroß, sehr blaß, mit einem dünnen dunkelblonden Bart; er mochte an vierzig Jahre alt sein; stille blaue Augen sahen mich durch eine Brille an. Noch während ich die Frage nach dem Pfarrer aussprach, wußte ich, daß ich vor ihm stand.

»Ich bin der Pfarrer«, antwortet« er.

Ich sagte ihm, daß ich von Sinthalen heraufgekommen und Kassalp nicht mehr erreichen könnte, und fragte, ob ich, wenn es ihn nicht zu sehr belästigte, bei ihm übernachten könnte.

Er sah mich aufmerksam an und dachte einen Augenblick nach. »Mein Haus ist zwar teilweise ausgeräumt,« sagte er, »und nicht sehr in Ordnung, aber wenn Sie vorliebnehmen, werden Sie schon eine Schlafgelegenheit finden.«

Er stellte den Spaten beiseite, und wir gingen. Mit beinahe weltmännischer Höflichkeit trat er zurück, indem er mir den Vortritt durch die Friedhofstür auf die Straße ließ.

Wir gingen einen der schmalen Wege aufwärts. Jetzt sah ich Zeichen von Leben. Da und dort waren kleine Fenster erleuchtet; Hunde bellten; aus einem Stall meckerten Ziegen. Nach wenigen Schritten kamen wir zu einem einfachen nicht großen, aber freundlichen weißgetünchten Haus. Es lag im letzten Tageslicht.

Ich folgte meinem Wirt die Treppen hinauf. Durch halb offene Türen sah ich auf der einen Seite des Ganges in zwei fast leere Zimmer; an der einen Wand stand noch ein Sofa. »Hier werden wir Ihnen das Lager bereiten«, sagte er und trug einen schönen geschnitzten Stuhl herein. Ich war froh, den schweren Rucksack ablegen zu können, und half ihm dann, als er schweigend noch einen Tisch und sonst das Nötigste aus andern Räumen herüberschafft«. Jedes Stück war einfach, aber von auffallend guten Formen.

Es war indessen rasch dunkel geworden. Sowie ich allein war, trat ich auf den kleinen hölzernen Balkon, erfüllt von jenem freudigen Gefühl gesteigerten Lebens, das man in der reinen Luft der Höhen, wenn man des Abends angelangt ist, so stark empfindet.

An der riesigen Wand gegenüber funkelten einige ferne kleine Lichter auf. Hinter mir im Zimmer schollen Schritte, und ich trat durch die Türe. »Sie werden hungrig sein«, sagte der Pfarrer, »und wir müssen an Speise und Trank denken. Ich bin heute ... allein. Auch die Magd ist fort. Und der Knecht wird wohl erst morgen zurückkommen ...« Er schien sich entschuldigen zu wollen.

Ich holte Vorräte aus meinem Rucksack und folgte ihm in die sauber gehaltene Küche. Während wir Eier kochten und Brot schnitten, wurde an die Türe gepocht. Der Pfarrer sah nach, und ich hörte ihn mit einer Frau sprechen. Es klang nicht wie ein gewöhnliche gleichgültiges Gespräch; irgendwie fiel der Ton mir auf, obwohl ich die Worte nicht verstehen konnte. Die Stimmen wurden leiser; jemand ging; und der Pfarrer kam ernst zurück. Eine Weile später kam ein barfüßiges Mädchen und brachte einen irdenen Topf mit Milch, den sie auf den Küchentisch stellte. Was mir auffiel, war die Innigkeit der Bewegung und der angstvoll gespannte Ausdruck, mit dem sie auf den Pfarrer blickte, ehe sie wieder fortging.

In seinem Zimmer, in dem wir aßen, sah ich seine alte Schränke und schöne Bücher; dazwischen hingen vortreffliche große Radierungen in dunkeln Holzrahmen, Bilder aus einer belebten Stadt; in bunten Gefäßen standen Blumen; sauber und in zierlicher Ordnung lagen die kleinsten Dinge; in diesen Räumen war eine Frauenhand tätig gewesen. Unauffällig suchte und fand ich einen Trauring an des Pfarrers Hand.

Indessen füllte er mir das Glas und bot mir von den Speisen an, freundlich, aber mit einer gewissen Hast und einem Zwang in seinem Tun, die mir bereits aufgefallen waren. Und seine Gedanken wanderten im Gespräch, so daß er nicht immer gleich auf mich hörte, obwohl er sich sichtlich zu beherrschen suchte. Erst als es sich ergab, daß wir, wenn auch zu sehr verschiedener Zeit, an der gleichen Universität studiert hatten, erkundigte er sich mit etwas regerem Interesse nach Personen und Orten, die wir beide gekannt hatten.

Unten ging die Haustüre; schwere Schritte kamen die Treppe herauf; der Pfarrer erhob sich mit unruhigem, betroffenem Ausdruck. Ein langer Knecht mit einem ernsten männlichen Gesicht, blondem Schnurrbart und ruhigen blauen Augen trat guten Abend wünschend ein.

»Wie, du bist schon da, Josef?« fragte der Pfarrer.

»Ja, Herr Pfarrer. Die Frau Pfarrerin läßt auch noch vielmals grüßen und schickt das ...«; er legte ein kleines zierlich gebundenes Päckchen und ein paar Alpenblumen auf den Tisch. »Und die Perpetua kommt morgen zurück.«

Rot und blaß wurde das Gesicht meines Wirts, und so hilflos und betroffen sah er nach mir, daß ich, da ich nicht wußte, was ich sagen sollte, die Augen abwendete. Als ich eine Minute später aufsah, hatte er sich bereits gefaßt. »Es ist gut, Josef,« sagte er, »nimm dir unten zu essen.«

Der Knecht ging schweren Schritts, der Pfarrer seufzte und setzte sich wieder. Wir rauchten beide; er sprach jetzt kaum und ich noch weniger. Mir kamen mancherlei Gedanken; da ich vermutete, daß er lieber allein gewesen wäre, stand ich auf, um schlafen zu gehen. Trotz meiner Versicherung, daß ich keine Hilfe brauchte, leuchtete er mir und trug selbst noch ein Glas frischen Wassers in mein Zimmer und verließ mich, mir eine gute Ruhe wünschend.

Eine zitternde Stille lag in der kühlen weiten Luft vor den offenen Fenstern und der Balkontüre; in mir war das Gefühl der Weite und Tiefe des Tals, über dem ich mich befand.

Ich war nicht sehr müde, das eben Erlebte gab mir zu denken, und ich konnte lange nicht einschlafen. Um Mitternacht, die Glocke vom nahen Kirchturm läutete in mein Fenster, erwachte ich wieder. Als der letzte Schlag verhallt war, hörte ich Geräusch im Hause. Jemand ging hin und her, eine Türe wurde leise geöffnet und geschlossen. Dann sprach jemand, aber nicht in natürlichem Ton. Eine Unruhe ward in mir, ich erhob mich; leise öffnete ich meine Türe. Da begriff ich: der Pfarrer las laut oder betete; er las Bibelverse. Jetzt brach er ab, und ein andrer Ton drang herüber, der mich betroffen machte. Der Mann weinte.

Obgleich ich meine Türe sehr leise schloß, mußte er es gehört haben, denn es trat eine vollkommene Stille ein. Und nun hatte ich, von Gedanken hingenommen, das Unglück, im Dunkeln den Stuhl umzustoßen, wodurch auch eine Menge von Dingen, die ich darauf gelegt hatte, zur Erde fielen, und ich zunächst kein Licht machen konnte, weil Kerze und Streichhölzer irgendwo auf dem Boden lagen.

Es klopfte, und der Pfarrer fragte, was geschehen sei. Er brachte Licht und half mir. »Ich habe Sie wohl gestört,« sagte er, »verzeihen Sie mir ... Es ist eine schlimme Nacht für mich ...«

Bei dem geringen Licht der Kerze stand er vor mir, mit verstörtem und doch mildem Ausdruck, und das Gefühl der Einsamkeit, in der er hier oben lebte, ergriff mich. Mir war, als brauchte, als suchte er jemand. »Wollen wir nicht noch eins zusammen rauchen oder trinken?« fragte ich.

Er nickte nur. Ich folgte ihm in sein Zimmer, wir saßen eine Weile schweigend vor den schönen Schränken und Büchern; dann sagte er: »Sie haben mich an einem schweren, vielleicht dem schwersten Tage meines Lebens getroffen. Und ich möchte zu jemandem davon sprechen können. Vor Gott muß ich selber mich rechtfertigen; von Ihnen möchte ich hören, wie ein Mensch darüber denkt, der von der Welt weiß; denn die Guten hier um mich können es ja nicht erkennen ... Und Sie gehen vorüber und kommen nicht wieder ... und was Sie hören, hören Sie als ein Fremder, und doch, das fühle ich, nicht ohne Teilnahme.« Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort.

»Immer scheint es im Leben, als ob alles auch anders sein könnte, und muß doch unwiderruflich so sein, wie es ist. Als ich ein Kind war, schien alles wahrscheinlicher, als daß ich heute, ein einsamer Pfarrer im Gebirge, hier sitzen würde, mit meinem Schicksal hadernd, oder doch mich unter ihm krümmend.

Ich bin in einem stattlichen Hause aufgewachsen, das meinem Vater gehörte, in einer stillen Straße einer großen lauten Stadt. Meine Mutter ist früh gestorben und, ich glaube, mein Vater ... aber davon will ich nicht reden. Eine Tante, die mich verwöhnte und mir das Leben fernhielt, führte ihm das Haus. Ich erzähle Ihnen von all den kleinen und großen Ereignissen, die das Gespinst des Lebens ziehen, nur diejenigen, die zu dem hinführen, was heute über mich hereingebrochen ist. Es kam, daß ich dem Stande meines Vaters folgte, der Rechtsanwalt war und wohl der erste der Stadt, obschon ich keinen besonderen Beruf dazu fühlte. Ich ließ mich meinen Weg führen oder gleiten, wie die meisten Menschen.

Ich war unscheinbar neben meinem Vater, der eine glänzend« Persönlichkeit war, und ich glaube, daß ihn dies im Grunde verdroß; er hatte es anders gewünscht und gehofft. Die meisten meiner Altersgenossen übertrafen mich in mannigfachen Gaben und vor allem in der Gewandtheit des Umgangs. Ich zog mich nicht zurück; der Verkehr zwischen den guten Familien war ein streng geregelter, der sich gleichsam selbstverständlich abspielte; aber ich fühlte mich unter andern nicht wohl, und am wenigsten in der Gesellschaft junger Mädchen und Frauen, so sehr sie mich natürlicherweise anzogen. Je schöner sie waren, desto mehr schüchterten sie mich ein, und ich kam oft in großer Beschämung nach Hause, weil ich meine Empfindung und Haltung nicht meistern konnte.

 

In unserem Kreise war ein Mädchen, etwa acht Jahre jünger als ich, und als sie noch ein Kind gewesen, hatte ich mich oft freundlich mit ihr beschäftigt, da ich vor einem Kinde nicht schüchtern war. Sie war dann in einem Pensionat gewesen, und als ich sie wiedersah, war sie erwachsen und eine strahlende Schönheit geworden. Sie hatte die stolze, sichere Haltung, die schön gewählte Kleidung, die Anmut in Sprache und Bewegung, die mich einschüchterten. Ich sah wohl, daß es junge Männer gab, die ähnliche Eigenschaften in unserem Geschlecht widerspiegelten und ihr mit kühner Bewunderung entgegentraten; ich sah es, begriff es und wußte, daß solche Eigenschaften mir vollkommen fehlten, und ich, wie sehr ich es wünschen mochte, sie mir nie aneignen würde. So trat ich zurück, während sie auf allen Bällen glänzte, die Offiziere sie umschwärmten, berühmte Männer, die in die Stadt kamen, sich ihr vorstellen ließen. Sie aber war mir irgendwie gut geblieben oder hatte doch eine Erinnerung an unsre Kinderfreundschaft bewahrt; in irgendeiner flüchtigen Regung, wie es schien, kam sie bisweilen aus ihren Triumphen auf mich zu, fragte mich, ob ich nicht auch einmal mit ihr tanzen wollte, und sprach vertraulicher mit mir, wenn wir allein waren. Aber das geschah selten genug. Wenn ihre glänzenden Bewunderer um sie waren, verstummte ich oder hielt mich fern.

Diese jungen Leute, die ihre Kleider besser zu tragen und kühner und sicherer zu reden wußten als ich, hatten eine Freude daran, mich in Verlegenheit zu bringen. Da war besonders einer, schlank, mit einem Spitzbart und seinen klugen Zügen, den ich eigentlich bewunderte, der Mich eines Abends witzig verspottete, indem er auf meine einfachen Reden die ungereimtesten Antworten gab; es war Schaum und Spiel in Worten, die ich längst vergessen, während ich den hellen Saal, die Lichter und Vorhänge und die Gesichter noch vor mir sehe; die Ruhe, mit der er das tollste Zeug vorbrachte, wirkte so, daß, während ich immer verwirrter wurde, zuletzt alle, auch das schöne Mädchen, obgleich sie und einige der andern sich zu beherrschen versuchten, in helles Gelächter ausbrachen.

Eine Weile später saß ich allein in einem andern Raum mit nicht sehr frohen Gedanken, als sie zufällig vorüberkam, dann aber stehen blieb und auf mich zutrat, als ob sie mir etwas sagen wollte. Da ich aufstand, zögerte sie einen Augenblick und fragte dann unvermittelt: »Warum lassen Sie sich das gefallen?«

Ich antwortete, daß ich dem völlig Willkürlichen gegenüber nichts zu sagen wüßte, daß mir ein rasches Erwidern im Redespiel nicht gegeben sei, daß es mich aber im Innern ganz unbeirrt lasse.

»Ja«, sagte sie, und ihre Augen leuchteten.

Sie ließ mir zu einer weiteren Antwort nicht Zeit, es trat wohl auch im Augenblick jemand ein, und unser Gespräch war zu Ende. Aber an diesem Abend war ein sehr frohes Gefühl in mir.

Die Mutter meiner Freundin – habe ich Ihnen gesagt, daß sie Gabriele hieß? – besaß eine Villa unweit der Stadt. Im folgenden Sommer mietete mein Vater in dem gleichen Tal eine Sommerwohnung, so daß ich öfter mit ihr zusammentreffen mußte. Eines Sonnabends – an diesem Tage wurde unser Bureau um ein Uhr mittags geschlossen – kam ich allein aus der Stadt; mein Vater war aus irgend einem Grunde nicht mitgekommen. Es war gegen zwei Uhr und drückend heiß. Als ich an dem kleinen, auf einer Anhöhe gelegenen Bahnhof den Zug verließ, fiel mir eine Bewegung der Leute auf und zugleich sah ich bereits, wie über dem Bahnhof ungeheure Flammen aufschlugen. Da ich den Hügel hinablief, sah ich, daß ein Haus, das unten jenseits der Straße lag und das einem reichen Bauern gehörte, in Feuer stand. Eine große Zahl von Menschen hatte sich angesammelt, Sommergäste, Einheimische und Durchwandernde, die umherstanden und zusahen, aber kaum drei oder vier Leute beteiligten sich an den Löscharbeiten.

Ich warf die Jacke ab und half, Möbel und Habseligkeiten der Bewohner aus dem Hause schaffen; denn an ein Löschen des Feuers war mit unsern geringen Kräften um so weniger zu denken, als der Dachboden des Hauses bis zum Giebel mit Heu gefüllt war. Darum loderten die Flammen so ungeheuer auf, daß ich zuerst geglaubt hatte, der Bahnhof selbst brenne. Ein leichter Wind hatte sich erhoben, und die Gefahr war, daß Funken nach den anderen Häusern flogen; an den Dächern einiger kleinerer Sommerhäuschen in der Nähe begann es tatsächlich zu glimmen. Jammernde Leute, die darin wohnten, stürzten heraus, während wir Leitern ansetzten und die glühenden, da und dort anflackernden Schindeln herunterschlugen. Aber, so erstaunlich es war, niemand half, niemand griff zu, und die Feuerwehr aus dem nächsten Städtchen kam noch immer nicht. Da ich von dem niedern Dach, an dem ich arbeitete, nach Wasser rief, reichte mir jemand, der auf der Leiter hinter mir heraus gestiegen war, einen Eimer. Ich griff danach. »Schnell, noch einen!« rief ich, ohne hinzusehen. »Ja, gleich!« antwortete eine mir bekannte Stimme. Jetzt erst sah ich Gabriele, die in ihrem Sommerkleid, das sie ein wenig geschürzt hatte, rasch die Leiter hinabstieg. Eine Weile arbeiteten wir eifrig, einander anweisend, fort; aber das Schleppen der großen, wassergefüllten Eimer ward ihr schwer. »So helfen Sie mir doch!« rief sie einem Manne zu, der rauchend dastand und zuschaute. Und sogleich legte er die Zigarre weg und griff mit an, und noch einer und ein andrer, eine Kette wurde gebildet, und das Wasser kam schnell.

Viele nahmen jetzt teil; aber nun tönten die Glocken und das Rasseln der Wagen, die Spritzen kamen; unsere Tätigkeit, die immerhin das Umsichgreifen des Feuers verhütet hatte, nahm ein Ende. Wir sahen übel aus; Gabrielens Schuhe und Strümpfe waren völlig durchnäßt und ihr Helles Kleid hatte groß« häßliche Flecken. Ich fühlte jetzt erst, daß ich noch gar nicht zu Mittag gegessen und wilden Hunger hatte. Gabriele hatte schon vorher die Kinder aus dem großen Bauernhause, das völlig niederbrannte, in ihre Villa gebracht. Ich folgte ihr dahin, und während sie sich umkleidete, setzte ihre Mutter mir Speisen vor. Ich blieb bis zum späten Abend dort und war nie so froh gewesen. Wir waren in diesem Sommer noch oft freundschaftlich zusammen, bis der Herbst kam, und sie mit ihrer Mutter nach Italien reifte.

Kurz vor Weihnachten brachte jemand, der von der Riviera kam, die Nachricht, daß sie sich verlobt hatte, mit einem Manne, der einen glänzenden Namen trug. An dem Schmerz, der wie ein Stich mit einer glühenden Nadel mich durchdrang, erkannte ich, was ich bis dahin nicht gewußt oder mir nicht gestanden hatte.

Nie, nie hatte ich mir eingebildet, daß Gabriele mehr als eine flüchtige Freundschaft für mich empfinden könnte; dennoch fühlte ich, daß etwas aus meinem Leben für immer verloren ging. Das Weihnachtsfest war bitter und traurig für mich, um so mehr, als ich niemanden etwas merken lassen durfte, und die tiefe Qual, die mich völlig in mich selbst zurücksinken ließ, löste sich erst wieder, als eine andere wunderbare Veränderung eintrat, die die wichtigste in meinem Leben wurde.

Ich war ein frommes Kind gewesen; die ersten Kindergebete, erbauliche Bücher machten großen Eindruck, und unvergeßlich ist mir ein früher Kirchgang mit meiner Mutter, die gläubig war. Der hohe kahle düstere Raum mit einzelnen Lichtern, die Worte des Predigers, die ich nur halb begriff, das Singen der Gemeinde, der Orgelklang, alles bewegte mich unsagbar. Dann traten wir in die schneebedeckte Straße hinaus; vom grauen Winterhimmel hoben sich die dunkeln gotischen Pfeiler und Türme ab; – ich sehe alles noch wie heute, es war eine völlig veränderte, seltsame Feiertagswelt. Später wurde ich zweifelnd und zuletzt gleichgültig, wie es die Gebildeten heute zumeist sind.

In jener Zeit waren innere Kämpfe mancher Art in mir. Eines Abends war ich in einer großen Gesellschaft. Ich hatte allem im Bureau auf meinen Vater gewartet und sah ihn in sein Zimmer treten, das hell erleuchtet war, sah ihn Pelz und Stock ablegen und sah den damals schon weißhaarigen, aber immer noch schönen und glänzenden Mann, wie er mit verfallenem Gesicht in einen Stuhl sank; all seine Erfolge und seine Weltfreude fielen gleichsam von ihm ab, ich hörte ihn tief seufzen und er schob die Briefe und Akten, die für ihn bereit gelegt waren, mit einer Bewegung von sich, die einen unendlichen müden Ekel verriet. Im Augenblick, da ich eintrat, schien er ein anderer Mensch und hatte ein Scherzwort auf den Lippen. Er kleidete sich um, und wir fuhren zusammen nach dem Hause, in dem jene Gesellschaft gegeben wurde. Wir kamen in festliche Räume unter lächelnde Gesichter; mein Vater trat mit witzigen scherzenden Worten ein und wurde froh begrüßt. Ich aber wußte, wie wenig glücklich die Leute des Hauses waren, wie mühsam ihre Ehe zusammenhielt, von welchen bittern Streitigkeiten die Zimmer am Tage erfüllt waren – in wieviel geheimes Elend habe ich dadurch, daß ich im Bureau meines Vaters arbeitete, hineingesehen! Und die Lampen brannten, Blumen dufteten in seinen Glasgefäßen, Speisen wurden aufgetragen, die Diener mit weißen Handschuhen gingen auf leisen Teppichen ... ich sah eine Larve neben der andern fitzen; und, was das schlimmste war, ich hatte das geistreiche, lebensfrohe Gesicht meines Vaters als Larve erkannt. Und wie ich darüber nachdachte, wußte ich mit Schrecken, daß auch mein G«sicht eine Larve war.

Am nächsten Tage ging ich durch die grauen winterlichen Straßen und sah eine magere, ganz alte Frau mit wachsgelber durchsichtiger Haut in dem kleinen Gesicht, dünngekleidet, frierend Streichhölzer feilbieten ... auch ihr Gesicht, und ihre drei Worte beim Verkauf, immer noch eine Maske, hinter der sich Gott weiß welcher Jammer barg. Ich kam nach Hause und speiste mit meinem Vater; wir sprachen wenig, wir waren uns ja so unendlich fremde. Wir waren Masken für einander.

Ich ging in mein Zimmer, das nicht sehr groß war, mit einer alten, von meinen Großeltern geerbten Einrichtung; es hatte nur ein hohes Fenster, dessen dunkle Holzläden von innen zugeschlossen waren; nebenan war niemand. Ich saß völlig allein, wie in einer Zelle, und dachte. Ich sah alle Ziele und alles Treiben der Menschen wesenlos; ich sah die einen in Not, die andern in Reichtum, beide ein Scheinleben führend, weil sie sich losgelöst hatten von den hohen unirdischen Zielen, an die einst die Menschen geglaubt, und die ihrem Leben einen Sinn gegeben hatten, ob es elend oder glücklich war. Und ich dachte, wie arm die Menschheit dadurch geworden war, und daß es zuging, als ob Gott gestorben wäre.

Ich saß allein und sann; zuletzt nahm ich mein Tagebuch und begann die strömenden Gedanken hinzuschreiben. Stunde um Stunde verging, und es schienen wenige Minuten zu sein. Und es war, als ob ich nicht allein in meinem Zimmer gewesen wäre, und, der Pfarrer legte, sich ein wenig vorbeugend, die Hand auf meinen Arm » ich war auch nicht allein.« Eine unirdische Gegenwart war um mich. Blitzartig brausten alle Einwände des Zweifels und der Wissenschaft durch mein Hirn und lösten sich spielend in einer höheren Erkenntnis.

Ich weiß nicht, wie Sie denken. Ich will nicht disputieren und nichts begründen. Genug, daß ich jene Nacht erlebte, in der ich erkannte, daß es eine unirdische Gewißheit gibt. Ich nahm das Evangelium hervor, das ich so lange nicht gelesen hatte, und ich begriff seinen Sinn; ein Jubel ward in mir und fast weinend rief ich: »Jesus lebt und tröstet!«

Erst gegen Morgen ging ich zu Bett und schlief tief und lange und erwachte froh, gläubig und glücklich.

Wie es immer ist, fand ich Menschen, die meines Sinnes waren, entdeckte, wieviel Welten es nebeneinander gibt, die durch unsichtbare Wände getrennt, in dem selben Land, den selben Städten leben. Die Kirchen, die Schulen, die Menschen in den Straßen, alle Vorgänge unserer Zeit bekamen einen andern Sinn für mich. So kam es, daß ich meinen Beruf änderte. Der Verdruß meines Vaters, der Widerstand der Familie, das Staunen der Menschen ließen mich unbeirrt. Ich hatte zwei ältere Schwestern, die seit langem verheiratet waren; der Gatte der einen war Jurist; er trat an meiner Stelle in das Bureau meines Vaters ein und zog mit meiner Schwester zu ihm.

Als ich meine theologischen Studien beendet hatte, wurde ich Hilfspfarrer in einem kleinen Ort in unserm Lande; es war ein Fabriksort mit einer Arbeiterbevölkerung, es war nicht leicht dort und viel Widerstand, aber ich tat mein Möglichstes. Als meine Zeit um war, erfuhr ich von dem Kirchlein in Sarvechs im Gebirge, wo eine gläubige Gemeinde einfacher Menschen wohnte, denen ein guter alter Pfarrer gestorben war, und ich hörte, daß nicht gerne jemand in diese Einöde ging. Da war mein Beruf und meine Pflicht mir klar. Ich predigte hier, die Gemeinde wählte mich und das Konsistorium gab seine Zustimmung. Es waren, da ich außer Landes ging, mancherlei Förmlichkeiten zu erledigen; das dauerte ziemlich lange, und ich wohnte inzwischen wieder in unserm Hause.

Wir saßen eines Morgens am Frühstückstisch; mein Vater, der sehr alt geworden war, las die Zeitung, die er mit zitternden Händen hielt; ich plauderte mit meiner Schwester, die mir erzählte, daß am Tage vorher in einer Gesellschaft von mir die Rede gewesen und eine Dame mich sehr warm verteidigt und gelobt hätte. Auf meine Frage erfuhr ich, daß es Gabriele war, die gesagt hatte, sie begreife mich sehr gut, ich sei der einzige, der seinen eigenen Weg ginge und etwas Ungewöhnliches zu tun imstande wäre. Ich hörte noch, daß sie wieder in der Stadt lebte, dann unterbrach eine Frage meines Vaters das Gespräch und gab ihm eine andere Richtung. Ich hatte mich stets gehütet, von ihr zu sprechen, und mir jeden Gedanken an sie versagt, und fragte auch jetzt nicht weiter.

Wenige Tage später stand ich im Haus einer Familie, die mit der unsern weitläufig verwandt war, ihr gegenüber. Sie begrüßte mich mit großer Freude, zog mich in eine Ecke und wollte viel von mir wissen. Sie war jetzt dreiundzwanzig Jahre alt, voller und weiblicher und vielleicht ernster geworden. Sie trug ein dunkles Seidenkleid, die blonden Flechten ihres Haares hochgesteckt, so daß sie noch weit damenhafter erschien als einst. Zuletzt begann auch ich zu fragen. Da ich sie als Fräulein ansprechen gehört, wußte ich, daß sie nicht geheiratet hatte. »Ich habe auch manches erlebt« sagte sie.

»Sie waren verlobt?« entfuhr es mir fast unwillkürlich.

»Ja,« erwiderte sie, »aber das ist eine lange Geschichte.« Sie sah mich sehr aufmerksam an. »Wir müssen noch viel miteinander sprechen«, bemerkte sie, da andere hinzukamen und wir getrennt wurden.

Wir trafen uns sehr bald wieder, da sie es zu wollen schien. Wir sprachen von unserem Leben mit jenem Vertrauen, das die Worte merkwürdig bedeutungsschwer macht. Und es kam dahin, daß obwohl mir schwindelte, als ob ich auf unserem kleinen Friedhof hier mich über den Abgrund beugte und hinabstürzen müßte, ich die entscheidende Frage an sie stellte, und daß wir uns verlobten.

Ich bin nur ein Mensch. Ich suchte die trunkene Seligkeit in mir, daß ich wider alle Hoffnung solch einen Preis errungen hatte, zu bändigen. Sie hat mir später gesagt, sie sei mir immer gut gewesen, die scheue Sehnsucht, mit der ich nach ihr gesehen, – ich wußte das nicht – habe es wohl bewirkt; aber ich hätte mich stets zurückgezogen, und sie hätte sich doch nicht erklären können; auch sei es weniger eine Leidenschaft als eine stille stetige Zuneigung gewesen. Dann war jener so glänzende Mann in ihr Leben getreten und hatte sie heftig angezogen, bis sie erschreckende Mängel an ihm entdeckte und nach bitteren Kämpfen ein Ende machte.

Damals wurde mir bange. Ich fragte sie »Werde ich dir genügen?« Vielleicht ist es schon falsch, wenn der Mann zu seinem Weibe so spricht. Ich fragte: »Wirst du die Einsamkeit ertragen?« Aber sie lächelte nur; es war ein Rausch für sie, sich zu opfern.

Wir wurden in einer stillen Kirche meiner Vaterstadt getraut; nur unsere nächsten Verwandten nahmen an der Feier teil; und wir sind dann sehr freudenvoll und sehr glücklich in dieses Haus hier gezogen.«

Die Glocke vom Turm schlug eins. Der Klang dröhnte plötzlich um die dunkeln Scheiben der kleinen Fenster. Der Pfarrer schwieg eine Weile und sah vor sich hin. Dann fuhr er fort:

»Wir haben hier glückliche Jahre gelebt. Ich hoffe, ich habe mein Amt erfüllt, wie es mich erfüllte. Aber davon will ich ja nicht erzählen. Meine Frau begleitete mich auf meinen Wegen, wenn das Wetter es irgend zuließ; sie genoß die Herrlichkeit der Berge. Sie leitete den kleinen Haushalt, als hätte sie nie anderes getan, nie anderes gewünscht, und wie sie selbst strahlend schön war, verbreitete sie Schönheit um sich her. Sie war gut gegen die einfachen Menschen um uns und verstand sie. Gewiß sie war eine merkwürdige Pfarrerin hier. Zwar trug sie hier oben nur die einfachsten Kleider – wie hätte sie als Pfarrerin unter blutarmen Menschen ihren Reichtum an Schmuck und Seiden zeigen dürfen? – aber sie sah auch im einfachsten Kleid wie eine Dame aus. Die Leute hatten lange eine Scheu vor ihr und wagten nicht, von ihren Angelegenheiten mit ihr zu sprechen wie mit mir. Mein Amtsbruder im Tal warf sehr überraschte Blicke auf sie und mich, als wir ihm den ersten Besuch machten, und seine Frau machte ein seltsames Gesicht. Gabriele gewann trotzdem ihre Freundschaft; denn damals wollte sie es noch.

Der Winter war wohl hart, mit seinen düstern Schneemassen, seiner schweren Einsamkeit. Es kommen im Sommer nicht sehr viele Menschen hier vorbei und im Winter niemand. Selbst die Post bleibt oft aus, weil die Straße, über die Sie gekommen sind, ungangbar und gefährlich wird. Im Herbst war die Mutter meiner Frau einige Wochen bei uns gewesen; als die ersten Stürme kamen, war sie entsetzt abgereist; sie hatte drei Tage warten müssen, ehe es möglich war, ins Tal zu kommen. Nach der andern Seite ist die Straße besser. Sie werden es morgen sehen. In Bengen, etwa eine Stunde von hier, wohnt der Arzt; wir sahen ihn manchmal; er ist hier selbst zum Bauer geworden. Der Lehrer hier im Ort ist ein älterer Mann; er war jede Woche einmal bei uns zu Tische, aber ... Gewiß wir hatten unsre Bücher und hatten uns selber. Nie habe ich ein Weihnachtsfest erlebt, wie in diesem ersten Jahr im Gebirge. Wie sie den Baum schmückte und das Haus, daß überall festliche stille Freude war, und wie sie am Feiertag darauf die Dorfkinder einlud und beschenkte mit wonnigen Herrlichkeiten, und alles Freude und Lachen und Singen war. Niemand hier wird dieses Weihnachtsfest vergessen. Überhaupt nahm sie sich der Kinder viel an ... im ersten Jahr.

Im Sommer wurde es wieder schön; aber der Sommer ist kurz hier.

Als der Winter zum dritten Mal kam, begann Gabriele ihre Fröhlichkeit zu verlieren. Sie klagte nicht, aber ich fühlte, daß sie verändert war. Auch die Feste waren nicht, wie das erste gewesen war. Unter aller Liebe und Freude barg sich eine Traurigkeit, über die ich ihr nicht hinweghelfen konnte. Vielleicht stellte ich es ungeschickt an.

Eines Abends kam ich unerwartet früh nach Hause; ich hatte meine Pelzstiefel abgelegt und war leise in mein Zimmer getreten und hörte sie in dem ihren gehen und sich bewegen; Licht fiel durch die Türritzen; einmal sprach sie etwas vor sich hin; ich ahnte nicht, was sie tat. Als ich die Tür öffnete, sah ich sie in einem ihrer herrlichsten Kleider vor dem Spiegel stehen; sie trug ihre Perlen um den Hals und Diamanten im Haar. Sie sah wundervoll aus ... da sie mich erblickte, wurde sie blutrot, versuchte mir zuzulächeln, aber plötzlich traten Tränen in ihre Augen. Ich sagte kein Wort, und sie begann ihren Schmuck abzulegen. Ohne ein Wort ging sie hinaus, und als sie eine Weile später in ihrem Hauskleide hereinkam, sprachen wir nicht davon.

Ich aber war erschrocken über das, was ich gesehen hatte. Solange hatte sie es nicht vermißt; vielleicht war sie all des bunten Treibens satt gewesen. Aber irdische Empfindung ist vergänglich; aller Durst wird nach dem Trank geringer und das Urteil schärfer, und vom Glauben war sie nicht erfüllt wie ich. Sie sah alles im Geiste wieder, was sie einst gehabt: Glanz, Schönheit, Musik, Theater und Gesellschaft. Ich hatte es auch gesehen, unsichtbar im Spiegel hinter ihrem geschmückten Bild. Und draußen waren die Schneematten und hölzernen Bauernhäuser mit Ziegenställchen – und Sonntags speiste ein grämlicher alter Lehrer mit uns.

Es war wohl schlimm, daß wir kein Kind hatten.

Von da an war es nicht mehr das gleiche. Ich bot ihr an, für einige Zeit zu ihrer Mutter zu gehen, die alte Frau, die dieses Leben weiter führte, das ihr fehlte, zu besuchen. Erst wollte sie nicht und tat es dann. Sie kam nach zwei Monaten zurück und war voll Liebe. Aber ich wußte nun, daß sie sich zuviel zugemutet hatte. Das Glashaus meines Glücks hatte einen Sprung bekommen. Ich wußte, ein Teil ihrer Sehnsucht ging anderswohin.

Sie hatte ein Mädchen, eine Zofe, hierher mitgebracht, die ihr sehr anhing, und die nach dem ersten Winter weinend ihren Abschied verlangt hatte und gegangen war. Darauf nahmen wir eine Magd ins Haus; sie war nicht mehr jung, groß und mager, mit einem merkwürdigen braunen Gesicht, ähnlich einem der holzgeschnitzten Muttergottesbilder in den katholischen Kirchen. Sie hatte Unglück gehabt. Sie arbeitete viel und sprach wenig; aber sie konnte merkwürdige Dinge sagen.

Eines Vormittags im Frühling stand meine Frau in unserm Gärtchen traurig vor Blumen, die sie mit unendlicher Mühe gepflegt und die dennoch eingegangen waren.

»Blumen aus dem Tal wollen hier oben nicht blühen«, sagte Perpetua, über den Zaun herübersehend. Da ging ich schweigend ins Haus.

Am selben Abend saßen wir auf der hölzernen Bank vor dem Hause. Irgendwo spielte ein Bursch die Zither. Ich sah von meinem Buche auf und sah, wie Gabriele in die Ferne schaute. Und ich dachte: wenn sie hier wie die Perpetua würde, ein erstarrtes hölzernes Bild des Verzichts!

Sie weinte nicht, wenigstens sah ich sie nicht, hörte sie nie weinen, bis auf ein einziges Mal.

Durch zwei Sommer hatten wir viele Gäste. Ich bat sie herauf. Künstler kamen und andere Freunde aus der Stadt. Aber irgendwie paßten sie nicht mehr zu uns, vor allem nicht zu mir. In den Gesprächen war oft ein Stocken oder ein Mißton. Und die Leute meiner Gemeinde wurden auch gegen mich scheu, wenn ein fremdes Wesen von glänzenden Herren und Damen um ihres Pfarrers Haus war, so daß sie sich nicht hineinwagten. Denn das alles währte mehrere Jahre, weil immer wieder Wochen eines Scheinglücks dazwischen kamen, in denen wir uns selber täuschten, und weil sie tapfer sein wollte. Bis ich sie eines Tags, jenes einzige Mal des Nachts so bitter weinen hörte, und sie durchaus nicht sagen wollte, was sie weinen machte.

Da fragte ich mich, ob ich recht getan hatte, das Opfer anzunehmen und sie heraufzubringen. Zuletzt fragte ich sie selber. Sie sagte nichts; was immer in ihr vorging, sie vertraute sich mir nicht mehr an, wie einst; sie vermochte es wohl nicht. Und so kam in meine Seele die zweite bittere Frage, ob sie mich überhaupt wirklich geliebt, oder ob nur ein mädchenhafter Eifer sie getrieben hatte, mir Gehilfin zu sein, ein entsagender Wunsch nach Hingabe, nachdem sie die erste Enttäuschung erlitten. Was war unsere Ehe, wenn sie sie nicht entschädigen konnte für den Verlust der Flitter!

Sie werden sagen, es sind nicht Flitter: es sind die geistigen Güter, die Wärme und der Schmuck des Lebens, den die Menschen in Jahrhunderten geschaffen? Ja! ... aber die Liebe!? Damals ist all mein Erdenstolz zerbrochen. Es war die letzte Prüfung.

Ich habe lange gerungen; dann bot ich ihr die Freiheit. Wir standen dort auf dem kleinen Friedhof, wo Sie mich heute abend getroffen, ich wies ihr die Ferne. »Nein, nein!« rief sie; dann aber fragte sie: »Würdest du mit mir fortgehen?« Ich zitterte und schwieg. In jenen Tagen ging sie viel allein über die Matten, es war später Sommer; der furchtbare Winter steht ja wieder vor der Türe. Perpetua blickte oft nach ihr aus. »Das Glasli bricht«, sagte sie einmal, »der Mensch hält sein Glück nicht.« Sie hatte eine Art nach uns beiden zu sehen, die allzu wissend war.

»Willst du mit mir fortgehen?« hatte sie mich gefragt. Wie oft in Nächten der Verzweiflung stand diese süße Versuchung vor mir! Verstehen Sie, daß ich es nicht tun konnte? daß ich all meine Selbstachtung verloren hätte und die Gabrielens zuletzt auch? Ich brauchte nur die Gesichter der Männer, der alten Frauen und Kinder hier zu sehen, die mir vertraut hatten vom ersten Tage. Was wäre ich für ein Pfarrer unten in den Städten geworden, mit dem Gefühl der gebrochenen Pflicht in mir?

Heute, das ist gestern, ist sie fortgegangen. Schweigend wie das Schicksal half Perpetua ihre Sachen packen und folgte dem Ochsenkarren, der die Kisten ins Tal führte. Sie selbst war schon vorher hinabgestiegen, nur von Josef, dem Knecht, begleitet. Sie bat mich, ihr zu vergeben, und sie war voll Leides, aber ich weiß, daß sie befreit gegangen ist. Sie hatte in den Augen Tränen, als sie ging, aber sie schluchzte nicht. Gott gebe ihr das Glück, das sie hier nicht gefunden hat!«

Wir schwiegen beide eine Zeit, dann sagte ich: »Herr Pfarrer, ich kann nur das eine sagen, daß ich Sie sehr, daß ich Sie außerordentlich bewundere.«

»Oh, da ist nichts zu bewundern,« antwortete er, »da ist kein Verdienst. Ich kann nicht anders. Und Sie haben mir wohlgetan, da Sie mich anhörten. Alles andre steht bei Gott.«

Er schien jetzt sehr gefaßt und ruhig. Wir standen auf; und da bemerkte ich eine Photographie auf seinem Tisch, die eine schlanke schöne junge Frau mit hellem Haar darstellte, die, beide Hände auf dem Rücken, sehnsüchtig in die Ferne zu schauen schien.

Ich ging in mein Zimmer zurück und trat auf den Balkon. Der Mond war aufgegangen; das Gewölk war verschwunden. Ungeheuer lag der Himmel, wie eine harte dunkle glitzernde Kristallschale, groß und kalt über der Erde.

*


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