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Der Wagen

Die Nachmittagssonne lag über Hecken und Bäumen. Aus einem offenen weißen Gartenzimmer war ein lachender plaudernder Schwarm junger, froher Menschen von dem behaglich gedeckten Tisch aufgeeilt, und alle standen ans Geländer des Gartens gedrängt, um ein buntes Schiff zu sehen, das mit Fahnen und rauschender Musik unten auf dem Fluß vorüberfuhr.

Nur zwei waren im Zimmer geblieben und standen jetzt allein einander gegenüber: ein Mann im Tennisanzug, nicht mehr ganz jung, aber straff und sehnig, braun, alle Zeichen eines leidenschaftlichen Gemüts im Antlitz, und ein junges Mädchen, blond, strahlend von Gesundheit und reif wie die Sommerähren auf den Hügeln.

Die Hände hinter sich auf den Fensterrahmen gestützt, blickte er ihr in die Augen; ihre Wangen wurden heiß und rot; die Hand vorschützend gegen seinen Blick, machte sie einen halben Schritt zur Seite, und ihre Lippen formten ein fast lautloses »Nein«. Er hatte ihre Hand erfaßt, sie zurückzuhalten, da warnte ihn ihr Blick, und er gab sie frei, den Ingrimm über ihren Widerstand und über die Störung kaum bergend. Plaudernd und lachend strömte die Schar an den eben verlassenen Tisch zurück, auf den die Tochter des Hauses eine Schüssel aus grünem Glas auf hohem gebauchten Stiel und voll goldgrüner Trauben niederstellte: die ersten, die aus heißeren Tälern gekommen waren. Rufe des Entzückens erschollen; ein kleiner weißgekleideter Knabe mit blondem Haar kniete bereits auf einem Stuhl und, mit halbem Körper über dem Tisch liegend, langte er nach den Früchten; eines der jungen Mädchen beugte sich über ihn und küßte ihn. Die Sonne war im Sinken über Fluß und Hügel, das warme rötliche Licht des Abends übergoldete Fenster und Gärten; heiße Fülle war in der Welt.

Der enttäuschte Mann sah sich noch immer mit scharfen, unruhigen Augen nach dem Mädchen um, während er scheinbar harmlos mit andern plauderte. Die Gruppen begannen sich zu zerstreuen; mit einem halben Lächeln der Befriedigung sah er, wie überall die Paare sich zusammenfanden. Er verließ den Garten und ging, in Gedanken versunken, zum Fluß hinab, wo die Badehütten standen. Entkleidet tauchte er in das kühle, strömende Wasser. Um ihn dunkelte es schon, vor ihm lag spiegelnd der Strom, während über den fernen Hügeln der Himmel noch in mattem Feuer glühte. Er stand im weiten seichten Wasser, und während die Tropfen in der lauen Luft von seiner weißen Haut niederrannen, stieß er ein paar wilde Rufe aus, wie ein starkes brünstiges Tier; dann, während er sich wieder in das leichte Gewand hüllte, begann er, die Wildheit seines Blutes rhythmisch dämpfend, mit schöner Männerstimme zu singen, und tief aus seiner Leidenschaft geboren, stieg der Gesang wie eine Stimme des Wassers und der Erde empor, daß oben alle schwiegen und lauschten.

Aber als er hinaufkam, fand er niemanden. Im Garten dunkelten die Laubgänge; die Blumen, die ihre Farben in der Dämmerung verloren, dufteten stark; zu Füßen der schattenden Bäume lagen die Wiesen in düsterem Grün; in Haus und Garten war eine sonderbare Stille. Die großen niederen Zimmer waren leer, und in ihren Spiegeln sah er seine eigene Gestalt durch die lautlose Dämmerung gleiten. Er stieg die Treppe empor zu den Fremdenzimmern. Aus einer offenen Tür kam ein Lichtschein. Es war eine weiße reinliche Kinderstube; auf dem hellen wachsglatten Boden saßen zwei kräftige Kinder essend an einem Tischchen. Seine Frau kniete vor ihnen auf dem Boden. »Da kommt Papa«, sagte sie. »Küsse, Papa, deine Kinder!«

Er küßte seine Kinder.

»Sieh, er muß neue Schuhe haben, so läuft er hier herum!«

Sie sah Verdruß in seinen Augen und kniete wieder hin; dann hob sie das eine Kind auf den Waschtisch und begann es auszukleiden. – Er war schweigend gegangen.

»Papa kommt wieder!« sagte das Kind hinter ihm.

»Ja, er kommt wieder!« sagte die Mutter.

Er stand auf dem Balkon und blickte über Büsche und Wege nach den Kommenden aus. Da fühlte er eine Berührung; seine Frau stand hinter ihm, eines der Kinder auf dem Arm: »Sie wollen Papa gute Nacht sagen!«

»Wie lange bleiben wir noch hier?« fragte sie und sah ihm forschend in die Augen.

»Ich weiß noch nicht«, antwortete er beinahe schroff. »Kleidest du dich zum Abendessen nicht um?«

»Ja, gewiß«, antwortete sie. »Was soll ich anziehen?«

Er zuckte die Achseln. Sie ging wieder, und er sah ihr einen Augenblick nach, wie ihre nicht kleine, ruhige Gestalt, mit dem schwarzen Haar im Nacken, durch die Balkontüre verschwand. Er atmete tief auf, da er nahe Stimmen aus der Allee vernahm.

Die sich gesucht und gemieden hatten, fanden sich am Abendtisch wieder, und sie fanden sich nachher beim Tanz in dem niederen Saal, aus dem fast alle Möbel ausgeräumt waren und in dem die Paare sich drehten.

Sie riß sich endlich los: sie hatte einen Frauenblick auf sich gerichtet gefühlt, der sie störte.

Auch er hatte den Blick bemerkt. Er ging auf seine Frau zu und forderte sie zum Tanze auf. Sie tanzte ruhig, gleichmäßig, unerregt, mit einer gewissen Schwere, die er fühlte.

Er tanzte nicht mehr; er stand am Fenster, wo die schwüle Nachtluft hereinzog und den altmodischen weißen Vorhang bewegte. Die Musik tönte fort, und die Paare tanzten vorüber, beinahe wie Schatten für sein abgewendetes Auge. Er wußte, daß sie kommen würde, und sie kam auch und blieb in der tiefen Fensternische ihm gegenüber stehen, so daß der andere Vorhang ihr Gesicht den Blicken im Saal verbarg.

»Haben Sie abends unten am Wasser gesungen?« fragte sie. Sie wußte es ja; er fühlte, daß sie ihm damit nur die Antwort gab auf das, was sein Singen ihr gesagt hatte. Von selbst in gleichzeitiger Regung beugten sie sich beide zum Fenster hinaus und vereinten im Dunkel draußen ihre Hände.

Als er in sein Schlafzimmer trat, sah er seine Frau vor dem Spiegel stehen; sie trug noch das weiße Kleid, das sie für den Abend angezogen hatte, und in dem sie sehr hübsch aussah. Sie sah sich nicht um, als sie ihn kommen hörte, und er folgte ihrem Blick nicht, aber er wußte, was sie im Spiegel verglich. Eines der Kinder rief im Nebenzimmer aus dem Schlaf; sie ging an ihm vorüber: da mußte er ihr Gesicht sehen.

Als sie zurückkam, saß er auf seinem Bett.

»Ich weiß nicht,« sagte sie, »ob ich ein ewiges Recht an dich habe, – aber du hast eine ewige Pflicht!« und sie wies auf die kleinen Betten in dem weißen Zimmer nebenan.

Er antwortete ungeduldig: »Du kannst mir das Beste verstören und unleidlich machen, indem du es zum Zwang machst!«

Darauf erwiderte sie nichts mehr.

So verging die schwüle, unbefreiende Nacht.

Am nächsten Morgen trafen sich die beiden in der Vormittagssonne auf dem Tennisplatz, aber sie fanden sich keinen Augenblick allein. Er saß in einiger Entfernung von ihr auf einer Bank und merkte, daß sie nach seinen schönen Händen sah. Drüben auf der Wiese ging seine Frau mit den Kindern. Da warf sie verächtlich die Lippen auf; er sah es wohl und fühlte die Ungerechtigkeit dieser Verachtung und liebte doch den Übermut, der verachtete. Sie richtete etwas an ihrem schweren blonden Haar; er trat hinter ihre Bank, und ihre Finger flüchtig berührend, fragte er leise: »Wollen Sie nachmittag mit mir nach Lühs gehen?« Es war ein heißer Ton in seiner Stimme, und die Frage fast wie ein Befehl. Sie hob den Kopf und senkte ihn wieder, ohne zu antworten.

Nachmittags, als alle andern schliefen, stand er im Garten hinter den Treibhäusern; und er sah sie kommen.

Sie gingen auf Treppenwegen, ganz von Büschen gedeckt, zwischen den Gärten und Häusern empor. Oben sahen sie durch die Bäume die hohe ferne Bläue leuchten.

Sie küßten einander im Gehen, und als sie das kleine Gehölz erreicht hatten, und sie sich atmend an einen der braunen Stämme lehnte, sah er entzückt ihr heißes Gesicht, den leicht gebräunten Nacken, den kräftigen Fuß im niederen Schuh, der auf dem mit Nadeln bedeckten Boden ruhte. Sie hatte für den Spaziergang ein ländliches Gewand angelegt, und im Ausschnitt ihres Brusttuchs hing ein kleines silbernes Kreuz an einem schwarzen Samtband. Es hatte sich beim Gehen verschoben, und sie brachte es jetzt an seine Stelle. Er beugte sich vor und küßte ihre Hände, und noch einmal ihre Lippen, ehe sie ins Freie traten. Aus der Ferne tönte das Dengeln einer Sense herüber.

In den Tälern rings um sie leuchtete die Flur. Sie gingen über den Hügelrücken zwischen Wiesen und Kornfeldern.

»Es geht so nicht weiter, ich kann nicht mehr!« sagte er plötzlich.

Sie hob das Gesicht unter dem braunen Strohhut, aber sie antwortete nicht.

»Anna!« sagte er heftig.

»Wohin gehen wir jetzt?« fragte sie. »Durch den Wald nach Lühs, oder nur in die Welt hinaus?«

»Wohin Sie wollen!«

»Und wann müssen wir zurück sein?«

»Ja, müssen wir zurück?« und er fügte hinzu: »Das hängt von deinem Mut ab!«

Sie blieb stehen. »Oder von deinem!« sagte sie.

»Glaubst du, mir fehlt es daran?«

»Vielleicht meinen wir anderes«, sagte sie langsam.

Er wußte genau, was sie meinte, so wie sie fühlte, was er begehrte. Mit seinem Stock schlug er die Mohnblumen am Rand des Weges nieder, bis sie seine Hand festhielt.

Unten arbeiteten die Schnitter rastlos und eilig auf den Feldern. Der Himmel war bleiern geworden. Steile weiße Wolken standen über dem Wald. Er nahm seinen Hut ab unter dem spärlichen Schatten eines Baumes und wies auf das Feld vor ihnen, in dem der Mohn im satten Gelb glühte. »Nur die Natur hat recht,« sagte er, »nur was blüht und fruchtbar ist!«

»Ja!« sagte sie.

»Die die Kraft zum Glück haben, haben auch ein Recht darauf!«

»Ja!«

»Und was nachher kommt, Anna, und wenn es der Tod wäre ...!!«

»Der Tod?« sagte sie unangenehm berührt, »László, wir wollen miteinander leben!«

Er sah sie an und dachte: »Wie eine rote Blume, die nur einen Augenblick blüht, und die man unwiderstehlich pflücken muß!« Er nahm ihr den Strohhut ab, bückte sich und befestigte die Mohnblumen, die er am Wegrand abriß, daran. Als er ihr den Hut wieder aufgesetzt, sah er ihr heiß in die Augen, ein leichter Schauer lief durch ihren Leib, aber diesmal schützte sie sich nicht vor seinen Blicken, sie reichte ihm ihre Hand und so gingen sie in starken gleichmäßigen Schritten weiter. Die Wolken standen jetzt wie eine graue Wand über den Hügeln; donnerlose Blitze zuckten tief drüben am Rand der Felder auf.

Die Straße führte in Schlangenlinien ins Tal hinab; auf der einen Seite die steile Böschung, auf der andern eine niedere Steinmauer. Ganz in sich selbst und ineinander versenkt, schritten sie weiter, und als der erste Donner aufgrollte, achteten sie es nicht; sie hörten nur das Brausen ihres Blutes.

Die Straße machte eine Biegung. Sie standen in tiefster Einsamkeit unter dem grauen Himmel. Er hatte den Arm um sie gelegt; zitternd und sehnsüchtig schmiegte sie sich an ihn; sein Mund sprach halblaute gestammelte heiße Worte zwischen langen gierigen Küssen ... Es rollte ganz nahe; ein leichtes Rasseln ließ sie aus ihrer Vergessenheit auffahren; ein Schatten war über ihnen: ein nicht gar großer Wagen, mit Heu beladen, war um die Biegung gekommen; unsicher und auseinanderstrebend zogen die Pferde an: der Bauer war übermüdet auf seinem Sitz eingeschlafen und lag im Heu. Die Straße war schmal und die Pferde kamen schief herüber fast bis an die Mauer, an der sie standen, und ihre Köpfe waren schon über ihnen. Mit dem einen Arm drückte er das Mädchen an die Mauer und reckte sich neben ihr; die Tiere trotteten stumpf an ihnen vorüber, die Räder streiften den flatternden Rock des Mädchens ... aber todbleich sahen beide, daß aus dem Heu am hintern Ende des Wagens gerade in der Höhe ihres Halses die graue Krümmung der Sense sah und die Schneide sich auf sie zubewegte ... Sekunden vergingen, in denen sich beide bis auf den Mauerrand und weit über den Abgrund hinaus nach rückwärts bogen ... haarscharf über ihren Gesichtern ging die Todessichel weg; eine von den Feuerblumen, die er an des Mädchens Strohhut gesteckt hatte, flog durchschnitten in die Tiefe ... Der Wagen, von den führerlosen Pferden gezogen, rasselte weiter.

Bleich erhoben sich die zwei; verstört und wortlos gingen sie ihre Straße. Unten sahen sie den fahlen Fluß und das Stationsgebäude; als sie es erreichten, brach der Sturm los und prasselnder Regen. Schauernd saßen sie in dem dunstigen menschengefüllten Wagen des Zuges; ihre Blicke mieden einander.

Im Hause angekommen, reichte sie ihm flüchtig die Hand. Jetzt erst machte er einen Schritt auf sie zu, aber sie wich zurück. »Ich hatte heute nacht um ein Zeichen gebetet,« sagte sie leise, als sie seinen bestürzten Ausdruck sah, und dann kühl: »Ich reise morgen. Adieu«, und sie ging nach ihrem Zimmer. Er machte keinen Versuch, sie zu halten.

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