Paul Ernst
Die Taufe
Paul Ernst

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Der Straßenraub

Ein junger Engländer aus gutem Hause wurde wie viele seinesgleichen gegen Mitte des achtzehnten Jahrhunderts von seinem Vater nach Oxford geschickt, um Theologie zu studieren. Er war sehr fleißig in seinen Arbeiten, gehorchte seinen Vorgesetzten pünktlich; und als ein sehr jugendlich aussehender Jüngling mit großen blauen Augen und Wangen, die fast noch den kindlichen pfirsichartigen Hauch auf der Haut zu haben schienen, wurde er von seinen Genossen in mannigfaltiger Weise gehänselt, was er denn immer ernst und besonnen über sich ergehen ließ.

An einem Nachmittag, als eine größere Gesellschaft mit ihm zusammen in einem Zimmer war, machte einer der älteren Studenten den Vorschlag, sie wollten ein Glücksspiel unternehmen. Unser Jüngling – wir wollen ihn Harry nennen – erklärte errötend und stotternd, sein Vater habe ihn gewarnt, sich in solche Spiele einzulassen; einige von den anderen Studenten lachten; der, welcher den Vorschlag gemacht hatte, sagte ernst, er müsse endlich einmal ein selbständiger Mann werden; man wolle ihn natürlich nicht zwingen; aber er sehe doch wohl, wie auffällig er sich von seinen Genossen unterscheide; Harry wurde noch verlegener und erwiderte schüchtern, so wolle er sich denn beteiligen.

Alle setzten sich um den runden Tisch; der Führer nahm eine Roulette aus der Tasche, stellte sie vor sich; jeder zog seine Börse und schichtete ein Häufchen Geld vor seinem Platze auf; dann rief jeder einzelne und setzte seine Münze; das Rädchen schnurrte; der Bankhalter nannte das Gewinnende; die einen schoben ihre Einsätze ihm zu, andere erhielten den Gewinn von ihm.

Harry hatte seinen Nachbarn beobachtet und sich nach ihm gerichtet. Er hatte eine halbe Krone gesetzt und erhielt nun ein Fünfschillingstück. Der Nachbar setzte das Fünfschillingstück und rief; Harry schloß sich ihm wieder an und gewann einen halben Sovereign. Der Nachbar war in die Leidenschaft des Spiels geraten und machte eine mißliebige Bemerkung über den Nachahmer; Harry errötete; und als er sah, wie beim dritten Gang der Nachbar nur wieder seine halbe Krone setzte, warf er seinen halben Sovereign hin. Dieses Mal verlor er, und so fand er sich denn jetzt so reich, wie am Anfang des Spieles.

Nun aber begann er sich zu ärgern, daß das hübsche kleine Goldstück ihm so schnell wieder abhanden gekommen war; er nahm von seinem Geldhaufen einige Münzen und brachte so wieder zehn Schillinge zusammen, die er von neuem einsetzte; auch diese Summe wurde von dem Bankhalter gleichgültig eingestrichen. Harry bekam keine großen Geldsendungen von seinem Vater; der alte Herr hatte sich alles genau ausgerechnet, was sein Sohn verständigerweise gebrauchen konnte, und gab ihm diesen Betrag, aber nicht mehr. So waren denn die zehn Schilling, die er eben verloren, eigentlich bestimmt gewesen für ein Paar neue Schuhe, deren Harry bedürftig war. Er wurde verdrießlich, daß er die Ausgabe nun nicht machen konnte; daß er nur borgen durfte, fiel ihm nicht bei; er malte sich die nassen Füße, den Schnupfen, die Unbequemlichkeiten aus, die er zu erdulden hatte, bis er wieder neues Geld vom Vater bekam; und mit unmutigem Gesichtausdruck wollte er eben vom Stuhl aufstehen. Da traf ihn ein spöttischer Blick des Nachbarn; er biß sich auf die Lippe, blieb sitzen, und setzte wieder zehn Schilling.

Wir wollen nicht das ganze Spiel beschreiben. Es wird genügen, daß Harry immer weiter in eine blinde Wut geriet, seine Einsätze steigerte, sich gegen Ermahnungen verschloß, einmal von einem ungeheuerlichen Einsatz durch die Weigerung des Bankhalters zurückgehalten werden mußte; und am Schluß, nach etwa zwei Stunden, fünfzig Pfund verspielt hatte.

Die übrigen waren ja nicht bösartig und habgierig. Schon bald hatten sie einander zugenickt, daß das Spiel nicht mehr ernsthaft sein solle, daß der Bankhalter zwei oder drei Pfund von ihm nehmen dürfe, wie sonst wohl der größte Verlust eines Spielers war, und daß man ihm sagen müsse, man habe ihm nur eine Lehre gegeben, künftighin vorsichtig beim Spiel zu sein; wie ja denn junge Leute gern in ihrer Weise väterlich gesinnt sind gegen andere, die eine Kleinigkeit jünger sein mögen wie sie. Aber als nun das Spiel aufgehoben war und abgerechnet wurde – denn er hatte natürlich längst kein Geld mehr gesetzt, sondern Gutscheine geschrieben – da benahm er sich wider aller Erwarten so gefaßt und ruhig, daß wohl nicht die Absicht der Spieler sich änderte, aber doch ihre Stimmung eine andere wurde; man war nicht mehr bloß mitfühlend mit der Unerfahrenheit, sondern seine gefaßte Stimmung erzeugte eine widerwillige Achtung; und so wurde stillschweigend der Beschluß gefaßt, ihn noch eine Weile zu ängstigen. Der Bankhalter erklärte trocken, Spielschulden seien zwar Ehrenschulden, die am nächsten Morgen spätestens bezahlt werden müßten; da aber Harry in dieser kurzen Zeit kein Geld werde beschaffen können, so gebe er ihm acht Tage Zeit. Er erwartete, daß Harry zu ihm kommen und ihn anflehen werde, und dann wollte er ihm lachend mitteilen, wie eigentlich alles gemeint war.

Harry verabschiedete sich steif und trocken von den anderen, ging auf sein Zimmer und setzte einen Brief an seinen Vater auf. Er schilderte treu, wie alles gekommen war, verhehlte seine Schuld in nichts, bat den Vater, ihm die verspielte Summe zu schicken, da seine Ehre verpfändet sei, und versprach mit Worten, denen man wohl anmerken konnte, daß er sie halten werde, daß er nie wieder einer solchen Versuchung nachgeben wolle. Den Brief gab er gleich auf; er rechnete aus, daß er spätestens am fünften Tage Nachricht und Geld haben konnte; und wenn er auch betrübt war, daß er seinem Vater den Kummer machte, so erwartete er doch zuversichtlich, daß der ihm helfen werde, wie ihm auch ganz gewiß war, daß er das Gelöbnis späterer Vorsicht als ernst aufnehmen werde. So mischte er sich denn ruhig und mit fast heiterem Gesicht wieder unter die anderen, einen gewissen Ärger bei ihnen erweckend, weil er gar nicht, wie sie erwartet hatten, verzweifelt schien und sie so um ein, wenn auch nicht bösartiges, so doch boshaftes Vergnügen brachte.

Der Vater las den Brief in der Gesinnung, welche Harry erwartet hatte. Er bedachte, daß ein junger Mensch nicht nur durch seine Unerfahrenheit, sondern noch mehr durch seinen Mangel an Geschick und Leichtigkeit im Benehmen notwendig in solche Lage kommen muß, wie sein Sohn ihm beschrieb, daß das Erleben derartiger Dinge ein Teil der Erziehung ist, und daß jede Erziehung Lehrgeld kostet.

Aber eben um das Erlebnis für die Erziehung seines Sohnes um so fruchtbarer zu gestalten, beschloß er, weil ihm der Brief eine zu große Zuversicht in seine Güte zu verraten schien, den Sohn etwas länger warten zu lassen, als er annahm. Er schrieb seinen Brief, besorgte das Geld, suchte einen zuverlässigen Boten aus, und dann berechnete er, indem er einen großen Atlas vornahm, mit Zirkel und Maßstab, wie lange Zeit der Bote gebrauchen mochte; er wollte ihn erst an dem äußersten Zeitpunkt senden, wo er denn gerade noch vor der Beendigung der achttägigen Frist eintreffen konnte.

Indem dieses nun weit entfernt bei dem gutgesinnten und bedächtigen Vater geschah, ließ Harry ruhig die fünf Tage verstreichen; am Abend war er zwar etwas gedankenvoll, aber er tröstete sich, daß der Bote vielleicht nicht so spät auf der Straße sein wolle und die Nacht noch in einem Gasthaus unterwegs bleiben werde. Am andern Morgen, als der Bote nicht kam, wurde er besorgt; die anderen merkten die Veränderung bei ihm und dachten sich wohl, der Vater habe ihm eine Ablehnung zuteil werden lassen; nun wollten sie ihn mit seiner Sorge noch recht schrauben und ängstigen, sie sprachen davon, daß die Frist bald abgelaufen sei, daß man Ehrenschulden auf die Minute bezahlen müsse, sie bedauerten ihn anscheinend, fragten teilnahmsvoll, was der Vater ihm geantwortet habe, beklagten, daß sie selber nicht in der Lage seien ihm auszuhelfen. So geriet der junge unschuldige Mensch in eine ganz verzweifelte Verfassung, wurde endlich grob und wies die heuchlerisch Teilnehmenden aus dem Zimmer, die denn draußen auf dem Gange über seine Kümmernisse weidlich lachten.

Am Abend des sechsten Tages kam immer noch kein Bote. Da faßte der verstörte Jüngling einen Entschluß, wie er nur aus einem ganz unerfahrenen Gemüte kommen konnte.

Damals war die Zeit der Straßenräuberei in England. Männer, die nichts zu verlieren hatten, schnallten den Degen um, steckten den Karabiner in den Sattel, schwangen sich aufs Pferd, ritten vor die Stadt, banden da eine Maske vor das Gesicht und lauerten auf der Landstraße Reisenden auf, von denen sie annahmen, daß sie Geld und Geldeswert bei sich trugen. Das Gewerbe war verbrecherisch, aber nicht gemein, mancher verarmte Kavalier übte es aus; und wenn er auch den Galgen zu erwarten hatte, so war er doch des Mitgefühls seiner Standesgenossen gewiß. So wurde es denn auch mit einer gewissen Ritterlichkeit betrieben; der Überfallene durfte sicher sein, daß ihm kein weiteres Leid zugefügt wurde, wenn er seinen Überfluß hergab, und nicht selten sagte er sich denn wohl auch, daß ja seine eigene Torheit, Geld auf der unsicheren Straße bei sich zu tragen, ihm den Verlust zugezogen habe. So war denn der Einfall des jungen Mannes nicht ganz so phantastisch, wie er uns heute erscheint.

Nach dem Abendessen ging Harry nun auf sein Zimmer, versah sich mit seinen Waffen, steckte die schwarzseidene Maske in die Tasche; dann suchte er den Pferdeverleiher auf, der dem Studenten von manchem lustigen Ausflug wohl bekannt war, und entlieh sich ein Pferd für einen Mondscheinritt, wie er sagte; der Mann sattelte ihm den Gaul, indem er lachend fragte, ob Harry sich den Rittern von der Landstraße anschließen wollte; Harry antwortete ihm heftig, schwang sich auf und trabte los.

Er mochte etwa eine Stunde von der Stadt entfernt sein und befand sich im Mondschein auf der leeren Straße mitten in der einsamen Heide, als er von weitem einen Mann mit einem Wanderstab am letzten Ende seines langgezogenen Schattens ruhig daherwandern sah. Wie er näher kam, erkannte er eine Art Pächter mit rundem Hut und blauem Kittel, der eine Geldkatze umgeschnallt hatte. Aber der Mann hatte natürlich auch ihn gesehen und hatte erkannt, daß er sein Gesicht verdeckt hielt; er stellte sich breitbeinig mitten in den Weg, stampfte mit der linken Hand seinen Stock vor sich und hielt mit der Rechten eine zweiläufige Pistole schußbereit.

Harry fühlte sein Herz in ängstlicher Bewegung. Aber indem er an den renommistischen Ton seiner Genossen dachte, schien ihm das ein Zeichen verächtlicher Feigheit zu sein; er bezwang sich und fragte mit fester Stimme, indem er seinen Karabiner zog, wie der Bauer zu der Frechheit komme, einem Herrn zu drohen. Aber noch ehe er anlegen konnte, hatte der Mann einen Schuß abgefeuert; er hörte die Kugel neben sich pfeifen. Nun schoß er selber, mit bebender Hand zielend; der Bauer schrie: »Ich bin getroffen!« und stürzte vornüber.

Harry stieg vom Pferd und lief zu dem Menschen hin; er wälzte ihn um und sah, wie sein Gesicht sich dunkel färbte; er war ohne jede Bewegung. Das Pferd hinter ihm scharrte mit dem Vorderhuf; hastig zog er sein Messer, schnitt die Geldkatze ab, wickelte sie zusammen und stopfte sie in eine Rocktasche, dann stieg er schnell auf das Pferd und galoppierte, als sei der Tod hinter ihm, nach Oxford zurück. Beim Pferdeverleiher klopfte er nur an den Laden, durch dessen Ritzen Licht fiel, und warf dem Heraustretenden stumm die Zügel zu; der Mann knurrte über die Unhöflichkeit, Harry aber lief durch die Straßen nach seinem Kolleghaus, erstieg die Treppe, wischte in sein Zimmer, schloß die Tür hinter sich und warf sich über sein Bett.

Die Aufregung war so groß gewesen, daß er augenblicklich in Schlaf fiel. Erst gegen Morgen wachte er auf.

Mit bebenden Händen wickelte er die Geldtasche auseinander. Es war eine Tasche aus braunem Leder, auf welcher blaue und rote Lederstückchen zur Verzierung mit bunter Seide aufgenäht waren, so daß sie Muster von Sternen bildeten. Auf dem Baum vor dem Fenster saß eine Drossel und sang in den grauenden Morgen. Er hatte die Drossel oft gehört: sie war der erste Vogel, welcher den Morgen kündete; und mit zufriedenem Sinn hatte er sich oft in seinem warmen Bett umgedreht, wenn er durch ihr Flöten erwacht war.

Die Tasche enthielt mehrere schwere Geldrollen. Er öffnete eine und fand Fünfschillingstücke. Nun überschlug er und berechnete, daß er gerade fünfzig Pfund vor sich liegen hatte. Der Angstschweiß brach ihm aus. Er faßte nochmals in die Tasche und fand noch einen Brief – einen Brief, adressiert an ihn selber, von der Hand seines Vaters.

Er riß ihn auf und überflog ihn. Da stand... »im letzten Augenblick, damit du dir die Lehre recht einprägst, wenn du dich genug beunruhigt hast. Denke nicht, daß dein Vater dich nicht liebt; ich habe keinen Gedanken in meinen schlaflosen Nächten wie dich, du bist ja auch alles, was das Schicksal mir gelassen... Keine Sorge, du bleibst gut, nicht wahr? Gott wird doch einen alten Mann nicht so strafen, daß er seinen einzigen Sohn ... Und bis heute hast du mir ja auch doch immer nur Freude gemacht... Du wirst mir auch nie wieder Kummer machen« ...

Harry verbrannte Brief und Tasche. Dann zählte er sorgfältig das Geld; die Summe stimmte.

Als die Klingel durch die Gänge ertönte, welche die Studenten aufweckt, ging er zu seinem Waschtisch, machte sich zurecht, kleidete sich um; dann verließ er sein Zimmer und ging zu seinem Gläubiger. Er fand ihn noch am Waschtisch beschäftigt.

»Die Zeit, die Sie mir gegeben haben, ist noch nicht abgelaufen,« sagte er; damit zählte er das Geld auf den Tisch.

»Sind Sie des Teufels?« fragte ihn der andere. »Denken Sie, ich bin ein Bauernfänger? Geben Sie mir zwei Sovereigns, die haben Sie verloren; das andere ist nur markiert gewesen.«

»Das war nur ein Scherz, das alles?« fragte Harry mit bebenden Lippen.

»Mensch, Sie sind doch kein Kind mehr!« sagte der andere. »Sie müssen sich ändern. Sie passen nicht in die Welt.«

»Ich passe nicht in die Welt,« erwiderte Harry; dann machte er eine Verbeugung und ging aus dem Zimmer.


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