Paul Ernst
Die Taufe
Paul Ernst

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Die Liebesgabe

Ein ganz junger Unterleutnant und ein bereits älterer Oberleutnant, die in demselben Regiment standen, waren nahe miteinander befreundet, in der Art, wie Männer befreundet sein können, wenn der eine Zwanziger und der andere Dreißiger ist: in ihr Verhältnis kam ein leichter Ton aus dem Verhältnis des Erziehers zum Zögling.

Die beiden verkehrten viel in dem Haus des Obersten. Die jüngste Tochter des Vorgesetzten war zur Zeit unserer Geschichte nach der Vollendung ihrer Erziehung eben in das elterliche Haus zurückgekehrt; der Oberleutnant hatte sie vor seinen Augen aufwachsen sehen; noch gar nicht viel Zeit schien ihm verflossen, seit sie ihn im dunkeln Wohnungsgang empfing, an ihm hochsprang, ihn küßte und fragte, ob er ihr etwas mitgebracht habe; nun trat sie ihm schüchtern errötend als schlankes, junges Mädchen entgegen und legte ihre Hand leicht in die seine. Sie hielt die linke Hand hinter dem Rücken; diese kindliche Bewegung traf ihn plötzlich mit merkwürdigem Eindruck, er fühlte, wie in seinem Herzen etwas überwallte, und er mußte sich bezwingen, daß er nicht ihr Köpfchen an sich zog und sie küßte. So geriet auch er gleich in eine Verlegenheit, und erst das unbefangene Gespräch der Eltern schuf wieder eine ruhige Stimmung.

Als er nach Hause ging, bedachte er bei sich, daß er wohl fünfzehn Jahre älter sei wie sie, er machte sich klar, daß sie früher doch ihn als Freund des Vaters empfunden hatte und daß er nicht die ganz andere Empfindung von ihr erwarten konnte, die er wünschte; er dachte an sein stilles, arbeitsames Leben, das einem so jugendlichen Wesen doch nicht angemessen war; und so schüttelte er denn endlich ernst den Kopf, und mit gefaßtem Entschluß ging er mit festen Schritten und straffer Haltung heimwärts.

Bald machte ihn sein junger Freund zum Vertrauten einer keimenden Liebe zu der von ihm selber Geliebten; er erzählte dem Älteren, der sich mühsam festhielt, alle die entzückenden Kleinigkeiten, welche das Glück des Liebesbeginns ausmachen, jenes rein seelische Glück, das nie wiederkehrt in unserem Leben, das nur einmal uns beschieden ist in unserer ersten Liebe, weil wir nur in unserer ersten Liebe gedankenlose Kinder sind. Er sprach von einem verstohlenen Ansehen, das er zufällig bemerkt, von einem Huschen im Wohnungsgange, von einem Zittern des Händchens, einem Erröten, von einem Blick hinter den Fenstervorhängen hervor; dann, wie er gewagt, die Hand leise zu drücken und wie er keinen Widerstand gespürt, nur ein seliges Sichgeben der Hand; ein paar Worte, unbedeutend und gleichgültig an sich, die doch ein geheimes Einverständnis bedeuteten, etwas, von dem niemand wußte außer ihnen beiden, ihrer Freundin, und seinem Freund.

Wer hat nur vom Frühling gesprochen als der Jahreszeit der Liebe! Es waren die schönen Frühsommertage, wo am Morgen noch die Vögel erwachend ihr vielstimmiges Konzert ertönen lassen, wo die Rosen blühen, die Wiesen kurz vor dem Mähen in Duft und heiteren Farben stehen, das Korn eben zu gilben beginnt, und mit einem süßen Schleier alle Formen in der Luft verhängt sind, daß nur undeutlich und märchenhaft uns die Bergzüge grüßen mit ihren dunkeln Wäldern.

Da kam mit einem Male die Unruhe; Befehle von der Heeresleitung folgten sich schnell, die eine gefährliche Lage bewiesen; in den Zeitungen standen Aufsätze und Nachrichten, welche Besorgnis erregten; eine merkwürdige Spannung war in allen Gemütern: jetzt, jetzt kommt der Schlag – nein, heute war er noch nicht – morgen kommt er – nein, übermorgen – aber er kommt, er kommt sicher!

Auf die beiden Liebenden hatte sich mit einem Male der Ernst gelegt. Ohne daß sie sich etwas in Worten mitgeteilt hatten, nur dem Gefühle folgend, gehörten sie plötzlich zueinander wie Menschen, die auch im äußerlichen verbunden sind. Sie hatten nie mit den Eltern gesprochen, dennoch wurden sie von ihnen wie Verlobte behandelt. Die Mutter küßte die Tochter auf die Stirn und sagte: »Du hast eine schwere Zeit, mein Kind«, verwundert sah die sie an und wußte nicht, was die Mutter meinte.

Nun folgten die Befehle der drohenden Kriegsgefahr, der Mobilmachung, die Kriegserklärung. Das Regiment wurde fortgeschickt, mit ihm der Oberst und die beiden Freunde. Es waren Eisenbahnfahrten, Märsche, die ersten Kämpfe, das jubelnde Vordringen in das feindliche Land, die kühnen Angriffe und stolzen ersten Erfolge. Der junge Bräutigam erzählte dem Freunde von der Geliebten, von seinen Hoffnungen und Wünschen, von dem Haus in der Heimat, an das er für künftig dachte, vom Glück in vier Wänden, Heiterkeit und Ruhe; von Kindern, von seinen Eltern, von den Eltern der Braut, von Großelternglück; mit gepreßten Lippen und gütigen Augen hörte der andere zu, nickte still mit dem Kopf. So gingen sie oft auf den langen Märschen neben ihren Mannschaften oder vor ihnen, indessen die Männer ihre Lieder sangen, von der Heimat, den Vöglein im Walde, von Deutschland über alles und der Wacht am Rhein.

Am Ende war die lange Schlacht, in der sich die Reihen wochenlang gegenüber lagen, in die Erde gegraben, unter dem Hagel der Schrapnells und Granaten sich gegenseitig beobachtend und ausspürend, wie zwei Ringer sich in die Augen sehen, ehe sie sich greifen.

Die beiden Freunde lagen nicht weit voneinander entfernt in den Schützengräben, trotzdem vergingen Tage, ohne daß sie sich sahen.

In den Wochen aber, wo die Heere sich so gegenüber lagen, veränderten sich die Männer ganz merkwürdig. Sie bekamen andere Gesichter, wie sie gehabt, sie wurden sonderbar still und ernst. Mancher dachte an Gott, der nie an Gott gedacht hatte. Ein Kamerad hob den Kopf unvorsichtig über die Deckung und rief etwas; eine Kugel traf ihn in den geöffneten Mund; er drehte sich im Kreise und fiel tot hin. Eine Granate schlug in den Graben und zersprang; fünf Mann waren auf der Stelle tot, die anderen wimmerten mit fürchterlichen Verletzungen, einer bat die Freunde, ihm eine barmherzige Kugel zu geben. Vom Himmel rieselte ein feiner Regen, die Zweige des dürren Buschwerks waren gläsern, den glänzenden Grashalmen, die sich bogen, hing ein Tropfen an der Spitze.

Eine Ordonnanz brachte dem Oberleutnant ein Päckchen, eine Liebesgabe. Er besah verwundert die Adresse, es war die Adresse des Freundes. Die Ordonnanz sagte, es seien Selbstfahrer gekommen, die Liebesgaben mitgebracht; man habe ihm das Paketchen gegeben für den Herrn Unterleutnant; er habe ihn bei den Verwundeten aufgesucht, aber der Arzt habe ihm mitgeteilt, daß er seinen Verletzungen erlegen sei. Nun haben ihm die Herren im Selbstfahrer aufgetragen, daß er das Paketchen jemand anderem bringen solle, und weil der Herr Oberleutnant mit dem Toten befreundet gewesen sei, so habe er es ihm gebracht; er habe es schon seit gestern in der Tasche. Nach diesen Worten kroch der Mann gebückt wieder zurück.

Der Oberleutnant hatte nichts von der Verwundung des Freundes erfahren. Nun sah er lange die Adresse an; sie war von der Hand der Braut geschrieben.

Es durchschwirrte ihn: plötzlich wurde ihm bewußt, daß er ein ganz anderer war, wie vorher. »Wie kann das sein?« fragte er sich, »als wenn ich lange Jahre gelebt hätte, und in meiner Jugend wäre das alles geschehen.« Er sah sich um, sah die Gesichter der Leute an. Da war ein Schuhmacher; auf dem Gesicht war nichts mehr zu lesen von der täglichen Arbeit, von den kleinen Gedanken; auch nichts von Kampf und Krieg; es war etwas anderes, etwas Neues in dem Gesicht – wie wenn dieser Mann alles Irdische abgestreift hätte als ein gleichgültiges Gewand und nun still und gesammelt vor Gott treten wollte.

Der Oberleutnant schnitt den dünnen Bindfaden des Päckchens auf und öffnete es. Da waren Zigaretten, auf ihnen lag ein Brief. Er fühlte durch den Brief eine Photographie, riß den Umschlag ab und sah das Bild an. Dann schüttelte er erstaunt den Kopf; das war das kindliche, gute, heitere Gesichtchen, das er so lieb gehabt hatte. Den Brief legte er ungelesen ins Taschenbuch, dazu tat er das Bild.

Der Mann neben ihm sah auf die Zigarettenschachtel; der Oberleutnant nahm sich eine Zigarette, zündete sie an, gab die Schachtel dem Mann und sagte: »Weitergeben, jeder bekommt eine.«


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