Paul Ernst
Die Taufe
Paul Ernst

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Jugendsehnen

Ein junger Student hatte eine Liebe zu einem Mädchen in seinem heimatlichen Dorf. Er war der Sohn des Schulmeisters, seine Geliebte war die Tochter des Försters; arm waren sie beide, und ihre Liebe war ganz aussichtslos, denn Gewissensbedenken machten es dem Studenten unmöglich, den sicheren Beruf zu verfolgen, welchen seine Eltern für ihn ausgedacht.

Als er zum letzten Male in seiner Heimat war bei seinen Eltern, besuchte er zum Abschied seine Geliebte. Sie empfing ihn mit heiterem Gesicht auf dem kühlen Hausflur, dessen Wände mit Geweihen verziert waren; die Glocke schellte lange nach; sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn in die Wohnstube. Da saß am Fenster ihre Mutter im weißen Häubchen und nickte ihm lächelnd zu, beugte sich über den Strumpf, den sie in der Hand hatte, und strickte. Ihm war wunderlich befangen, als ob er das alles schon einmal erlebt habe, was nun geschah, das doch ganz einfach und alltäglich war. Auf dem runden Tisch vor dem Sofa lag eine weiße glänzende Decke gebreitet mit scharfen Kniffen, Tassen standen und die Kannen und eine Schüssel mit Kuchen. Der Hund, der zusammengekrümmt in der Ecke lag, erhob seinen Kopf, sah nach ihm, ob er ihn bemerke, klopfte mit dem Schwanz auf die Diele und legte dann den Kopf wieder, mit den Augen alles verfolgend, bis er begann, weiter zu träumen wie er vorher geträumt. Die Mutter kam und setzte sich, die beiden setzten sich; sie sahen sich liebevoll an; das Mädchen wischte eine Träne aus dem Auge und lächelte.

Wie? Ist denn die Zeit nicht, ist die Zeit verschwunden aus der Welt? dachte der Student. Die Uhr hub langsam aus und schlug, vier Schläge. Auch damals hatte die Uhr geschlagen – wie? war damals denn jetzt?

Plötzlich fiel ihm alles auf die Seele: daß er reisen mußte, daß er seine Geliebte nicht wiedersehen sollte, nicht ihre Mutter, nicht dieses stille Zimmer, wo in der Ecke der Hund lag, zusammengekrümmt und träumend. Er sah in das Gesicht der Geliebten, es war naß von Tränen, und er hatte doch nicht gehört, wie sie weinte. Die Mutter streichelte ihr still die Hand, die willenlos auf dem Tische lag. Wie? Nun verzog sich das Gesicht wie zu einem Kinderweinen.

Ungestüm stand er auf, der Stuhl fiel hinter ihm um. Sie hielt die Hände wie abwehrend vor sich; er ergriff ihre Hände, suchte ihr ins Gesicht zu sehen, sie hatte das Gesicht vornübergebeugt, er sah auf ihren glatten, guten Scheitel. Da stürzten ihm plötzlich die Tränen aus den Augen, er ließ die Hände los und eilte aus dem Zimmer.

Seit Tagen standen die Apfelbäume in Blüte, die Bienen summten in den Kronen, die Sonne schien warm vom blauen Himmel, aber Wolken zogen auf, ein Gewitter ballte sich. Er eilte durch die Straßen, da waren an den niedrigen Häusern die Weinstöcke hochgebunden mit den schwellenden Knospen. Auf den Feldern war es grün, handhoch stand das Winterkorn. Er ging durch die Felder, wohl stundenlang; der Donner grollte von fern, die ersten Tropfen kamen. »Es wird eine Wachsnacht,« fiel ihm ein, feucht und warm war die Luft um ihn. Bald rauschte der Regen nieder, Vögel jubilierten. Nun sprangen die Weinknospen auf. Er ging nach Hause, auf seine Kammer, warf sich auf das Bett; unter dem Fenster war der Weinstock, den der Vater gepflanzt hatte, von dem er so viel sprach. Er schlief unruhig ein; früh wachte er auf, der Himmel war grau; in der Nacht hatte der Wein getrieben, Schösse, die einen halben Finger lang waren. »Aber ich darf nicht treiben,« dachte er, und die furchtbare Gewissensangst kam über ihn, daß alles tot war, was anderen als lebend erschien.

Nun lebte er in der großen Stadt; er besuchte Familien und gab Unterrichtsstunden, aber er war allein, denn alle Menschen waren ihm fremd. Aus seinem Fenster sah er in einen toten Hof, wo alte Fässer lagen, über den Arbeiter gingen; ihm gegenüber war ein Fabrikraum, in dem eine Maschine stampfte. Er verließ das stickige Zimmer und ging die Straße hinunter, da waren Häuser neben Häuser gebaut, und Fenster war neben Fenster, es war wie unendlich lange Mauern mit Höhlen, unendlich viele Menschen wohnten in den Höhlen, alle waren fremd. Mit großen Platten war der Fußsteig belegt, der Fahrweg war mit Kopfsteinen gepflastert; Wagen ratterten schwerfällig, auf denen die Kutscher saßen, Menschen huschten vorüber auf dem Steig, mit gespanntem Blick nach vorwärts sehend. Nun war es heiß in den Straßen, stickig; draußen war wohl Sommer, hier gingen Telegraphendrähte quer durch die Luft.

Aus dem Herzen war Angst und Unglück ihm in den Kopf gestiegen, nun war da nur Angst und Unglück in ihm. Einen stinkenden Staub atmete er ein, die Nerven über den Schultern schmerzten ihn, stundenweit führten die Straßen zwischen den Mauern, in denen Höhlen waren für unendlich viele Menschen, die ihn nicht kannten, die da wohnten im Dunkeln und Stickigen, schmutzige Männer, schlumpige Weiber, blasse Kinder; gleichgültig war das alles wie ein Ameisenhaufen; wie, wenn ein Fuß in den Ameisenhaufen trat und Tausende tötete?

Wenn es einen Gott gäbe, dann könnte man leben, dann könnte man leben. Aber was bedeutete das alles? Ist es nicht furchtbar: es gibt Menschen, welche achtzig Jahre alt werden, neunzig Jahre; noch fünfundfünfzig, fünfundsechzig Jahre leben, das ist grausam, eine solche Grausamkeit sollte doch nicht sein.

Das Herz stand ihm still vor Entsetzen; er trat in einen Hausflur, und ein solches Mitleiden mit sich selber überkam ihn, daß ihm die Tränen flössen. Wie? Ich bemitleide mich selber? dachte er. Ist das denn möglich? Kann man sich selber bemitleiden?

Ach, und alles war vergessen, wie weit hinter grauem Staub: die Geliebte, die kühle Luft, das Grün der Felder, die blühenden Bäume, das Summen der Bienen. Hier war ein düsterer Hausflur, schmutzige Dielen, eine ausgetretene Treppe; klebrig alles, man mochte nichts anfassen. Auf dem ersten Treppenabsatz war eine gelbgestrichene Tür, ein Porzellanschild, eine Klingel. Solche Türen, Porzellanschilder und Klingeln waren nun auf jedem Treppenabsatz. »Müller« stand auf dem Schild. Wie, wenn er klingelte, es öffnete ihm jemand, eine Frau vielleicht, und er sagte: »Ich bin so allein, ich habe Angst.« Ach, die Frau würde die Sicherheitskette einhängen, einen Spalt öffnen und fragen: »Was wünschen Sie?« Was sollte er da sagen? Da stand ja auch ein Mann, neben einem zweirädrigen Karren stand er in der Ecke; er hatte die Hände in den Taschen hinter einer großen blauen Schürze. Der hatte ihn schon lange angesehen. Jetzt wollte er sprechen. Er sprach: »Zu wem wollen Sie denn hier?« – »Ich? ach, ich will zu niemandem.« Der Mann schwieg, sah ihn verwundert an.

Man konnte es nicht ertragen, das Ansehen. Er ging aus dem Hausflur auf die Straße zurück. Der Mann hinter ihm bemerkte für sich: »Der hat hier auf dem Boden umsonst pennen wollen.«

Die Laternen waren auf der Straße angezündet und liefen in langer Reihe die Straße hinunter, aus Fenstern und Türen der Läden kam Helligkeit, die Menschen fluteten, strömten. Eine Dirne rührte ihn am Arm, mit schlaffen Gesichtszügen, in zerzauster Kleidung; zerstreut blickte er auf, sah ihr ins Gesicht, sie legte ihren Arm in seinen, ging mit ihm weiter. »Nur ein paar Schritte,« sagte sie. Er sah sie an, sie machte eine befremdete Miene, dann lachte sie kurz auf.

Wie ging sie denn neben ihm, lag ihr Arm in seinem, wie wehte die Feder auf ihrem Hut! Er stieg mit ihr eine Treppe hoch, sie schloß eine Flurtür auf, sie traten in ein Zimmer, Licht wurde angezündet, er setzte sich in einen Stuhl – Da war der runde Tisch vor dem Sofa, über den eine weiße glänzende Decke gebreitet war mit scharfen Kniffen. Lag da nicht in der Ecke zusammengekrümmt der Hund, welcher den Kopf hob, nach ihm sah, mit dem Schwanz auf die Diele klopfte? Am Fenster saß die Mutter mit dem weißen Häubchen auf dem Kopf, nickte zu ihm hin. Das war die Luft der Stube, die reine, ruhige Luft. Nun hatte sie den Hut abgelegt, den Mantel, saß ihm gegenüber und sprach.

Sie sprach: »Weshalb bist du denn fortgegangen? Weshalb hast du denn geweint? Ich habe lange gesucht, ehe ich dich fand.« Da sah er, daß ihr Gesicht naß war von Tränen. »Du hast geweint um mich?« rief er. »Ach, ein Mensch hat geweint um mich.« Nun stürzten ihm aus den Augen die Tränen.

Leise berührte sie seine Hand. »Was wollen wir denn?« sagte sie. »Wir wollen hier zusammensitzen in unserem Stübchen, eine halbe Stunde lang oder eine Stunde lang, denn wir sind ja nicht mehr allein. Wir wollen uns erzählen, vom Wein, der in der Nacht geschossen ist, oder von den Feldern draußen, ob die Ernte gut sein wird, aber wenn du willst, so wollen wir schweigen. Und wenn du eine halbe Stunde oder eine Stunde hier gewesen bist bei mir und der Mutter, dann magst du gehen, du magst gehen, wohin du mußt.«

Da erhob er sich ungestüm, der Stuhl fiel hinter ihm um. Vor ihm stand eine Dirne, die Arme in die Hüften gestemmt, und sah ihm ins Gesicht. Er schrie auf, stürzte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter, auf die Straße, wo in zwei Reihen die Laternen liefen, die Helligkeit kam aus den Läden, und die Menschen fluteten und strömten.


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