Paul Ernst
Die Taufe
Paul Ernst

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

R. Z.

Bei einer der großen Schlachten, welche in diesem Kriege sich wochenlang hinziehen, lag ein junger Leutnant mit seiner Truppe in einem Schützengraben. Die Leute hatten sich den Aufenthalt so behaglich wie möglich gemacht; sie hatten sich einen Raum von der Größe einer kleinen Stube im Boden ausgegraben; aus dem nahen Dorf, das längst von den unglücklichen Einwohnern verlassen war, hatten sie Stroh und sogar einige Matratzen geholt; ein Mann besaß eine Ziehharmonika und spielte oft, indessen die anderen, behaglich rauchend, ihm zuhörten, und der Posten mit dem Glas vorsichtig hinter der Deckung vorlugend den Feind beobachtete. In der Luft das Zischen, Sausen, Heulen und Krachen der Granaten und Schrapnells war ihnen längst gewohnt geworden.

Durch eine vorsichtig herankriechende Ordonnanz wurde ein dickes Paket mit Liebesgaben gebracht. Die Leute öffneten es jubelnd: da war ein Kistchen Zigarren, Strümpfe, eine wollene Jacke, eine Schachtel mit Knöpfen, Zwirn und Nadeln, ein Paket gemahlener Kaffee und noch mehr dergleichen, was wohl von liebevoll besorgten und freundlich gesinnten Personen gesammelt und eingepackt wird.

Die Mannschaften wurden mit dem Verteilen bald fertig. Die Zigarren bekam der Leutnant in Verwahrung; sie baten ihn, nach Bedarf von ihnen zu geben. Den Kaffee nahm ein Mann an sich, der eine Geschicklichkeit in der Zubereitung der Speisen bewiesen hatte und deshalb von den anderen zum Hofkoch ernannt war durch ein feierliches Diplom, das ein schriftkundiger Soldat, der zu Hause die Stelle eines Gerichtsschreibers bekleidete, sorgfältig angefertigt hatte. Die Strümpfe und Pulswärmer wurden von den Leuten genommen, welche sich als bedürftig erwiesen. Einige zogen gleich auf der Stelle die Stiefel aus und wechselten die reinen, ganzen und warmen Strümpfe ein.

Der Leutnant saß etwas abseits von den Leuten auf einer Matratze. Er freute sich über die Fröhlichkeit der Leute, über den heiteren und selbstverständlichen Willen, die Mühsale und Schädigungen des Aufenthalts nicht Herr über den frischen Mut werden zu lassen; er fühlte auch, daß er zusammengehörte mit seinen Untergebenen, daß kein Mißtrauen und keine Feindseligkeit bei ihnen gegen ihn war, sondern Zuneigung und kameradschaftliches Gefühl; dennoch spürte er sich ausgeschlossen von der allgemeinen Heiterkeit. Die Achtung vor dem Vorgesetzten lag über den Leuten, und ein lachendes Gesicht änderte sich plötzlich dienstlich, wenn die Augen zufällig nach seiner Richtung fielen. Es war das ja nötig wegen der Disziplin, und es bedeutete nichts Übles; aber der junge Mann hatte doch plötzlich das Gefühl einer grenzenlosen Vereinsamung.

Die Mannschaft hatte leise miteinander gesprochen, dann trat der Unteroffizier auf ihn zu, brachte ihm die gestrickte Jacke und sagte, sie hätten bemerkt, daß der Herr Leutnant nur seidenes Unterzeug habe, das bei der nunmehr einsetzenden Kälte nicht genüge; sie selber seien mit dem Nötigen versehen und bäten ihn, daß er die warme Jacke nehmen möge. Einen Augenblick dachte der Offizier, daß er die Gabe abweisen müsse, dann überkam ihn die Freude über die liebevolle Gesinnung, er nahm das Dargebotene und dankte allen. Wie eine heiße Glückswelle strömte ihm die Freude über das Herz, und die Augen wurden ihm naß. »Ich werde schon nervös,« dachte er.

Wie er nun die Jacke auseinanderlegte, um sie zu betrachten, fühlte er Papier; er schlug sie um und fand inwendig, mit Garn festgeheftet, einen Brief. In dem mit zierlicher Frauenhand geschriebenen Brief stand folgendes zu lesen.

»Dieser Jacke, die ich gestrickt habe unter den herzlichsten Wünschen für den Mann, der sie einmal tragen soll, füge ich einen Brief bei. Ich weiß nicht, in welche Hände beides fällt; aber ich möchte dem Unbekannten einen Gruß senden.

Ich habe keinen anderen Menschen, dem ich einen Gruß senden kann, dem ich Herzliches wünschen darf. Meine Eltern sind tot, Geschwister habe ich nie besessen, meine Eltern waren einsame Leute ohne Verwandtschaft, bei fremden Leuten bin ich erzogen. Jetzt bin ich bei meiner Freundin zu Besuch. Wenn ich sie verlasse, dann kehre ich wieder in meine einsame Wohnung zurück.

Der Mann meiner Freundin steht im Feld. Sie wartet herzklopfend auf jede Post, studiert weinend die Verlustlisten. Ich sehne mich so danach, herzklopfend auf die Post zu warten, ich sehne mich nach Tränen der Besorgnis um einen Menschen, den ich lieben kann.«

Unter diesem Brief standen zwei Buchstaben: R. Z.

»Ich werde nervös,« dachte der junge Offizier, er fühlte, wie ihm die Tränen hochstiegen. Er riß zwei Blätter von seinem Block und schrieb:

»R. Z., Ihren Brief hat ein Mann erhalten, der einsam ist wie Sie. Ich habe meine Eltern nicht gekannt, habe meine ersten Jahre bei meinem Oheim gelebt und wurde dann in das Kadettenkorps gebracht. Wenn meine Kameraden in den Ferien in die Heimat reisten, mußte ich bleiben; ich hatte keine Heimat. Ich bin ärmer wie Sie, ich habe noch nicht einmal einen Freund. Ich sende diesen Brief aufs Geratewohl, wie Sie den Ihren Ihrer Gabe beigefügt hatten.«

Diesen Worten fügte er seinen vollen Namen mit Adresse bei. Dann erkundigte er sich bei den Leuten nach dem Herkunftsort des Pakets. Es war aus Berlin gekommen. Er schrieb auf den Briefumschlag die beiden Buchstaben R. Z. und adressierte ihn postlagernd Berlin.

»Weshalb hatte sie nicht ihren Namen unterschrieben?« dachte er in der Nacht. »Was habe ich für einen Unsinn begangen, einen solchen Brief abzusenden!« dachte er weiter. Er lachte für sich und dachte: »Er wird einige Wochen auf der Post in Berlin liegen, dann wird man ihn mit anderen alten Briefen verbrennen – oder wird man ihn öffnen, um den Absender zu erfahren?« Es war ihm ein unangenehmer Gedanke, daß man den Brief vielleicht öffnete.

Aber der Brief wurde weder verbrannt, noch eröffnet, sondern er wurde von einem wunderhübschen jungen Mädchen abgeholt.

Das kam so.

Am anderen Tage hatte der Leutnant beschlossen, noch etwas Besonderes zu tun, und hatte an eine große Berliner Zeitung eine Anzeige geschickt: »R. Z., Antwort vom Empfänger der Jacke liegt postlagernd Hauptpostamt.« Nach etwa einer Woche erhielt er folgenden Brief:

»Geehrter Herr Leutnant, wir sind fünf Schwestern zu Hause; das ist etwas viel, nicht wahr? Ich bin die mittlere und bin erst achtzehn Jahre alt. Über Ihren Brief haben wir den ganzen Tag geweint. Weil ich allein den Mut gehabt hatte, ihn abzuholen, so darf ich ihn auch allein beantworten, aber die anderen lassen Sie wenigstens grüßen.« Dann folgte der volle Name des Mädchens.

Der junge Offizier sah wohl, daß sein Brief durch irgendeine Verwicklung in ganz andere Hände geraten war, wie er ihn bestimmt hatte; aber er freute sich doch über den zierlichen goldgeränderten Bogen, die mädchenhaften Schriftzüge, und in den langen Stunden der Muße, welche er jetzt hatte, versuchte er sich ein jugendliches Gesicht vorzustellen, das der Briefschreiberin angehören mochte. Er antwortete auch, einen längeren Brief, wie der erste gewesen war, bekam wieder Antwort zurück; und es folgte dann ein heiterer, neckischer Briefwechsel; es war, als hätten sich beide Teile das Wort gegeben, nichts von dem Ernsten und Schweren des Krieges sich merken zu lassen: der Vater und zwei Brüder des jungen Mädchens waren gleichfalls Offiziere und standen im Feld, und der junge Mann lag den feindlichen Kanonen und Gewehren gegenüber, und jeden Augenblick konnte ihn eine der Kugeln treffen.

Und es traf ihn auch eine Kugel. Er hatte mit dem Glas spähend die feindliche Stellung beobachtet und war dabei wohl etwas zu sichtbar geworden; plötzlich fühlte er einen Schlag gegen die linke Schulter. Die Verwundung war nicht sehr schwer; der Arzt bestimmte, daß er eine weitere Reise machen konnte, und so schickte man ihn denn nach Berlin. Aus dem Lazarett schrieb er seinen ersten Brief wieder an die Unbekannte, erzählte alles, und wenn er auch bescheiden nicht ausdrücklich bat, daß sie ihn besuchen möge, so stand doch deutlich zwischen den Zeilen zu lesen, wie sehr er sich über einen Besuch freuen würde.

Zwei Damen wurden ihm gemeldet; seine junge Briefschreiberin kam in Begleitung einer älteren Dame. Beide waren verlegen, der junge Offizier, der noch geschwächt von Blutverlust, Schmerzen und Anstrengungen im Bett lag, hatte einen Augenblick ein Gefühl frohen Glückes, wie er das blühende, heitere Gesicht des jungen Mädchens sah, dann überkam auch ihn die Scheu und das Bewußtsein der eigentümlichen Lage. Aber wie das junge Mädchen das bei ihm spürte, da verwandelte sich ihre Befangenheit; über das leicht gerötete Gesichtchen zuckte es lustig, die blauen Augen sprühten neckisch, und es war, als ob sie plötzlich lachen wollte. Da begann die ältere Dame zu erzählen.

Sie war es, die den ersten Brief geschrieben hatte. Die Mutter ihrer Begleiterin war die Freundin, bei welcher sie in Berlin zu Besuch war. Sie sah mit etwas schwermütigem Lächeln den jungen Mann an und sagte: »Das dachten Sie wohl nicht, als Sie den Brief lasen, daß ihn ein altes Mädchen von fünfzig Jahren geschrieben hatte?« Der Leutnant fühlte, wie er verlegen wurde, und versuchte Beteuerungen; die Dame schnitt seine Rede mit einer Handbewegung ab und fuhr fort: »Ich muß mir immer ins Gedächtnis zurückrufen, wie ich als Zwanzigjährige über Frauen von fünfzig Jahren dachte; wir fühlen ja nicht, daß wir alt sind. Als mein Paket abgegangen war, wurde mir erst bewußt, daß ich ganz falsch geschrieben hatte – und ich schämte mich; ich schämte mich über meinen Brief überhaupt, und dann, daß ich ihn so geschrieben hatte.« Wieder wollte der Leutnant sprechen, aber ein gütiger Blick der Dame ließ ihn wieder schweigen. Sie fuhr fort. »Wir saßen an einem Abend um den runden Tisch zusammen, meine Freundin, die Kinder und ich, jedes mit seiner Arbeit. Hier Mathilde« – sie deutete auf das errötende junge Mädchen – »hatte neues Strickgarn geholt und betrachtete zerstreut das Zeitungsblatt, das als Hülle gedient hatte. Plötzlich rief sie aus: Das sind ja deine Anfangsbuchstaben! und zeigte mir Ihr Inserat. Ich las, und muß wohl mich verraten haben, denn alle riefen mir zu. Nun wäre ich doch in ein falsches lächerliches Licht gekommen, wenn ich länger geschwiegen hätte, deshalb erzählte ich von meinem Brief, und die guten Kinder verstanden auch alles, wie es gemeint war; Mathilde drückte mir die Hand und küßte mich, um mir über die Verlegenheit fortzuhelfen.

Ich wollte den Brief nicht von der Post holen; meine Freundin lächelte, und ich dachte mir: sie denkt, daß ich doch recht altjüngferlich bin. Nun, das ist ja wahr; ich bin doch auch eine alte Jungfer; ich weiß ja, daß die den Leuten immer etwas komisch vorkommen; daran muß man sich eben gewöhnen und darf es die anderen Menschen nicht entgelten lassen; ich denke, wenn man sich Mühe gibt, dann kann man doch den Menschen etwas nützen, nicht wahr?« Sie wendete sich zu Mathilden, die in ihren Schoß blickte und eine Träne im Auge glänzen hatte. Dann fuhr die Dame fort: »Hier, unsere Mathilde stand auf und sagte: Ich will den Brief holen; wer weiß, ob nicht ein armer Mensch im Schützengraben draußen liegt, der sich nach einem Liebeszeichen aus der Heimat sehnt. Meine Freundin nickte lächelnd; mir selber wurde ganz schwer ums Herz, wie ich da sah, was das Weib sein kann: Frau und Mädchen, und ich dachte – nein, ich will nicht bitter werden, ich habe es mir geschworen, daß ich keine häßlichen Gedanken haben will.

Mathilde ging tapfer zur Post, bezwang sich und verlangte den Brief. Sie hat Ihnen die Wahrheit geschrieben, wir haben alle geweint über ihn, und ich habe gedacht: wie unrecht handle ich doch, wenn ich mit meinem Geschick hadere, in meinem wohlbehüteten Leben. Dann antworteten Sie wieder, Mathilde schrieb zurück; alle Ihre Briefe kennen wir, alle Antworten Mathildes kennen wir auch ...!«

Hier erhob sich Mathilde und sagte zu der Dame: »Wir müssen gehen, wir sind schon zu lange geblieben.« Sie vermied den Blick des jungen Mannes. So nahmen die beiden denn Abschied.

Die Verwundung heilte glücklich; der junge Offizier bekam noch öfters Besuch von den beiden, von Mathildes Mutter, von den anderen Schwestern; als er das Zimmer verlassen durfte, suchte er die Freunde in ihrer Wohnung auf; und ehe er wieder zur Front zurückging, fand die Verlobung zwischen ihm und Mathilden statt.


 << zurück weiter >>