Paul Ernst
Die Taufe
Paul Ernst

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Der falsche Bräutigam

Herr Meunier betrieb gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Paris ein Friseurgeschäft. Er hatte eine Frau und eine einzige Tochter namens Adelaide; in seinem Geschäft waren zwei Gehilfen angestellt, Herr Duray und Herr Schmitt.

Das Geschäft war gut, Fräulein Adelaide war ein hübsches Mädchen, und so kam es ganz natürlich, daß die beiden Gehilfen sich in die Tochter ihres Herrn verliebten. Duray war ein schlanker Mann mit feurigen Augen und einem leidenschaftlichen, stolzen Temperament; Schmitt war mittelgroß, blond, nicht mager und von friedlicher Gemütsart.

An einem Sonntagnachmittag hatte Duray seinen Ausgang, und Schmitt war mit Herrn Meunier allein im Laden; Herrn Meuniers Gattin saß in dem dunklen Raum hinter dem Laden bei dem Licht einer spärlichen Öllampe und sah die Bücher durch, und die reizende Adelaide war allein im Oberstübchen und versuchte auf dem Spinett ein damals beliebtes Lied zu spielen.

Schmitt und Meunier unterhielten sich über den Einfluß der Philosophen auf die bürgerliche Gesellschaft, daß immer mehr junge Herren keinen Zopf mehr tragen wollten, wodurch der Volkswohlstand gefährdet wurde, indem die Einnahmen der Friseure zurückgingen, dadurch die Ladenmieten, die Gehälter der Gehilfen und die Steuerkraft der Nation. Als dieser Gesprächsstoff erschöpft war, entstand eine Pause; dann räusperte sich Schmitt, schlug sich auf die Brust, erklärte, daß sein Vater es nicht mehr lange machen werde und daß er der einzige Sohn sei, daß er sich bis jetzt noch mit jedem Menschen vertragen habe, was man von Duray nicht sagen könne, den er im übrigen als einen tüchtigen Friseur hochachte, und daß er Herrn Meunier bitte, ihm die Hand der schönen Adelaide zu geben.

Herr Meunier erklärte, er habe bereits mit seiner Gattin gesprochen für den Fall, daß einer von den beiden jungen Männern einen Antrag machen sollte, und er könne ihm wohl sagen, daß sie beide ihn Herrn Duray vorzögen. Die Gattin wurde gerufen; sie steckte die fleischigen Hände in die Ärmel ihrer Jacke, bewegte den Kopf bedächtig nach links und rechts und bemerkte seufzend, daß die Kinder groß würden, ehe man es sich versehe. Es entstand eine Pause, die Töne des Spinetts klangen nach unten, und Schmitt erklärte: »So spielt ein Engel.« Frau Meunier wischte sich eine Träne aus dem Auge und sagte, das sei nun so Elternlos, daß man sein Kind für einen fremden Mann aufziehe; Herr Meunier spuckte vor sich auf den Boden, trat das Gespuckte aus und tröstete, Schmitt sei ja kein Fremder; die Mutter entschuldigte sich, das habe sie auch nicht sagen wollen; Herr Meunier fuhr fort, der Geldpunkt mache ja keine Schwierigkeit; die Frau warf ihm vor, daß er wieder eine Eintragung, welche in die erste Kolumne gehörte, in die zweite gemacht habe, anderthalb Stunden habe sie gebraucht, bis sie auf den Fehler gekommen; Herr Meunier warf ein, daß er so viel in den Kopf nehmen müsse, daß die geistige Arbeit nicht genügend geschätzt werde, und daß das Geld ja in der Kasse sein müsse; Frau Meunier aber erwiderte, alles müsse seine Richtigkeit haben, und neunzehn Sous seien neunzehn Sous; Adelaide war inzwischen über den Knorren weggekommen, der sie in ihrem Spiel immer störte, und ließ die Töne des Liedes nun untadelig unter ihren schönen Fingern hervorquellen; Schmitt dachte, daß die Ehegatten das Gespräch über den Rechenfehler allein beenden könnten, stürmte die Treppe hoch, zwei Stufen auf einmal nehmend, riß die Tür auf, die in das Zimmer der Geliebten führte, und rief: »Adelaide.«

Adelaide war zuerst erschrocken gewesen, hatte die Hände vom Spinett sinken lassen. Schmitt stand vor der Tür, die er hinter sich zugezogen, und richtete flehende Blicke auf sie. »Ich kann nicht ohne Sie leben,« rief er. »Aber die Aussteuer zeichne ich doch noch mit einem M,« entgegnete sie ihm; »wenn ich später etwas anschaffe, das kann ich ja dann mit S zeichnen.«

Er bot ihr graziös den Arm, sie zog ein zierliches Taschentuch heraus und hielt es vor die Augen; dann gingen die beiden die Treppe hinunter in den Laden, wo die Eltern eben wie schon so oft übereingekommen waren, daß Herr Meunier seine Einzeichnungen immer erst mit Bleistift machen sollte. Adelaide fiel ihrer Mutter um den Hals, Schmitt drückte Herrn Meunier stumm und männlich die Hand, Herr Meunier begann sich nun auch die Tränen zu trocknen.

Indem öffnete sich die Tür, hastig stürzte Duray herein, sah alles, sprang auf Schmitt zu und packte den bei der Brust; Schmitt schob ihn mit starker Hand ruhig von sich fort; Adelaide hatte aufgeschrien; »Verräterin!« donnerte Duray sie an; sie sank in die Arme ihrer Mutter zurück; »aber nein,« fuhr Duray fort, »ich allein habe die Schuld. Weshalb habe ich nicht gesprochen, weshalb habe ich nicht die Gelegenheit ergriffen wie dieser, dieser, dieser Herr Schmitt da« – er hätte wohl gern eine Beleidigung gesagt, aber er fürchtete sich vor Schmitt – »leben Sie wohl auf ewig«; er suchte seinen Hut, der ihm entfallen; plötzlich schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirn, stürzte Adelaide zu Füßen und rief aus: »Nein, nicht auf ewig. Ich war Ihrer nicht würdig. Aber ich will Ihrer würdig werden ... das heißt« – er wurde verlegen, weil aus der Fülle seines Herzens alles unklar herauskam – »das heißt: ich wollte ein Vermögen erwerben und Ihnen zu Füßen legen, dann wollte ich zu Ihnen sagen: Wählen Sie, Adelaide, Schmitt oder ich?« Er schwieg einen Augenblick, immer auf den Knien liegend. »Welche Leidenschaft!« flüsterte Mutter Meunier der Tochter zu; »wie auf dem Theater.« Duray hatte inzwischen seine Gedanken geordnet. »Ich gehe,« fuhr er fort. »Man hat mir eine Kondition in Petersburg angetragen. Ich werde Pariser Gesittung bei den Barbaren verbreiten, in Eis und Schnee wird mein Herz nur für Sie schlagen, ich werde mir ein Vermögen machen, Sie werden heiraten und glücklich sein, mein Freund Schmitt wird glücklich sein; er ist mein bester Freund, er ist eine Seele von einem Menschen; beruhigt lasse ich Sie in seiner Obhut; Sie werden eine Tochter haben, eine Tochter, die Ihnen gleicht, gleich Ihnen heißt sie Adelaide; nach zwanzig Jahren komme ich zurück, lege ihr mein Vermögen zu Füßen und sage: Adelaide, einst liebte ich Ihre Mutter. Das Schicksal hat uns getrennt. Nun liebe ich Sie. Wollen Sie mir folgen für das Leben?« »Ja, aber wenn es nun ein Junge ist?« fragte zaghaft die schöne Adelaide; Duray hatte während seiner langen Ansprache seinen Hut unter einem Stuhl gesehen; er holte ihn vor, stand auf, stäubte ihn ab, machte gegen Adelaide eine große Handbewegung, drückte Schmitt die Hand, verbeugte sich vor den Eltern und verließ den Laden.

»Er ist ja ein tüchtiger Friseur, das muß man sagen,« erklärte kopfschüttelnd Vater Meunier, »aber diese Liebhaberkomödien, das ist nichts für den Geschäftsmann. Sie verderben die guten Sitten. Der Geschäftsmann muß immer auf seinen Vorteil sehen. Ich habe Flöte geblasen, wie ich jung war. Schmitt angelt. Das sind Vergnügen für einen Geschäftsmann. Aber Duray hatte jeden Abend Probe. Und wenn ich nicht gewesen wäre, dann hätte Adelaide auch mit Komödie gespielt.«

Adelaide hatte mit gerötetem Gesicht, mit schwimmenden Augen dem Entschwundenen nachgesehen; jetzt schlug sie die Augen nieder. »Nun, ich wünsche ihm alles Gute in Petersburg,« endete Herr Meunier, »aber jetzt wollen wir den Laden schließen und wollen essen und die Verlobten hochleben lassen. Das war ein aufregender Tag.«

Schmitt heiratete Adelaide, und zur angemessenen Zeit wurde den beiden ein Mädchen geboren; Schmitt verlangte, daß sie in der Taufe den Namen der Mutter erhalte. Weitere Kinder kamen nicht, denn die ruhigen Zeiten für das Friseurgewerbe hörten auf. Immer mehr Herren verzichteten auf den Zopf; die Bastille wurde gestürmt, der König hingerichtet, viele Aristokraten wanderten aus, viele wurden hingerichtet; die Friseure hatte man durchweg im Verdacht reaktionärer Gesinnung; durch die Soldaten der Republik, welche siegreich aus den Kriegen heimkehrten, kam die Sitte auf, daß man den Bart stehen ließ; auf die Republik folgte das Kaiserreich, aber der Zopf kam nicht wieder, der Bart verschwand nicht; Herr Meunier war gestorben, Frau Meunier war ihm bald gefolgt, sie waren den Erschütterungen nicht mehr gewachsen gewesen; Herr Schmitt als junger Mann hatte sich besser anzupassen verstanden; aber er hatte zuwenig Bewegung, sein Herz war nicht so, wie es sein mußte; nach der Schlacht bei Jena, als ganz Paris illuminierte, hatte er als feuriger Patriot seinen Laden ganz besonders schön geschmückt; die Wachsbüste, welche ihn seit langen Jahren zierte, war als Vaterland kostümiert; auf zwei Altären unter ihr brannten Räucherflammen; das Ganze wurde durch einen Halbkreis von Lämpchen eingeschlossen. Als er auf die Straße trat, um den Eindruck zu beobachten, fiel er plötzlich um; ein Herzschlag hatte ihn getötet.

Die Witwe führte das Geschäft mit einem zuverlässigen Gehilfen weiter; sie saß nun vor den Büchern, wie vor zwanzig Jahren ihre Mutter, und die junge Adelaide spielte auf dem Spinett, auf dem sie selber vor zwanzig Jahren gespielt.

Duray war wirklich nach Petersburg gegangen, hatte eine sehr gute Stellung gefunden, sich als zuverlässiger und zugleich künstlerisch empfindender Mann erwiesen; nach kaum zwei Jahren konnte er einen eigenen Salon eröffnen, welcher bald als der vornehmste seiner Art in Petersburg galt.

Die Liebe zu Adelaide trug er im Herzen, aber auch der Begeisterung für die dramatische Kunst blieb er treu. So lernte er die Zofe einer berühmten Schauspielerin kennen und lieben, die mit einer Truppe aus Paris nach Petersburg gekommen war, und nachdem das Mädchen gesehen, daß er ein sehr gutes Geschäft hatte, heiratete er sie. In der ersten Zeit seines Aufenthaltes in Petersburg hatte er oft an Adelaide geschrieben, er hatte auch noch die Nachricht von der Geburt der jungen Adelaide erhalten; nach seiner Verheiratung aber war er begreiflicherweise etwas verlegen und so unterblieb denn der Briefwechsel.

Er unterblieb lange Jahre. Die Ehe Durays war kinderlos, aber sein Vermögen vermehrte sich; die junge Adelaide wuchs heran, wurde ein Backfisch, dann ein junges Mädchen und kam so in die Jahre, daß die Mutter wohl an eine Heirat denken konnte. Sie hatte Duray nicht vergessen, denn von seiner Untreue wußte sie ja nichts.

Nun geschah es, daß die Gattin des guten Duray starb. Sie hatte sich immer zu stark geschnürt, hatte dadurch ein Leberleiden bekommen, das Leberleiden hatte sie mißmutig und etwas zanksüchtig gemacht, und so war Duray denn über den frühzeitigen Tod nicht sehr unglücklich.

Duray war ein frischer Vierziger und ein Mann von beinahe zweimalhunderttausend Franken Vermögen. Wer wird es ihm übelnehmen, wenn seine schöne Jugendzeit in Paris wieder vor seiner Erinnerung auftauchte, die Rue de Vauvenargues mit ihren behaglichen alten Häusern, der Laden des Herrn Meunier mit den weißen Marmortischen und hohen Spiegeln, welche immer aus zwei Glasplatten zusammengesetzt waren; das dunkle Hinterzimmer, Frau Meunier, die lichtlose, schmale Treppe, die Töne des Menuetts, welche von oben niederklangen, indessen er einem Kunden das Zopfband erneuerte und dabei die neueste Theateranekdote erzählte; und Adelaide selber; Adelaide, wie sie damals war, in zierlichen Schuhchen auf hohen Absätzen einhertrippelnd, die Hände in einem spitzenbesetzten Schürzchen, das zarte weiße Häubchen auf dem hochgetürmten gepuderten Haar, immer heiter, immer gutherzig, nie nein sagend, oft verwundert und erstaunt die hübschen Augenbrauen hochziehend. Ach, das war ja freilich alles lange her; aber hatte sie ihm damals nicht versprochen: Harre aus, mein Kind wächst heran! Und er hatte ausgeharrt, das Kind war herangewachsen.

Rußland ist kein Land, in dem ein Franzose heimisch werden kann. Er vermißt die Kultur. Aber Duray sagte sich, daß die Rente sehr niedrig stand, daß er nach Paris zurückgehen, daß er Adelaide, Adelaide der Tochter, ein Vermögen zu Füßen legen konnte.

So schrieb er an Adelaide die Mutter; er erwähnte das Zwischenspiel seiner Ehe nicht weiter und erzählte von dem großen Aufschwung, den Petersburg in kommerzieller Hinsicht genommen hatte, sprach dann von seinem eigenen Vermögen und seiner Absicht, nach Paris zurückzukehren, fragte nach allen Bekannten, nach Herrn und Frau Meunier, nach seinem Freunde Schmitt, nach der jungen Adelaide, deutete zart an, daß wohl in der langen Zwischenzeit noch ein Brüderchen erschienen und auch nun groß gewachsen sein werde, beklagte den schnellen Verlauf der Zeit und sprach begeistert von den Ruhmestaten der französischen Nation. Adelaide schrieb ihm zurück und erzählte alles, was geschehen, und wie nach der Schlacht von Jena die große Illumination gewesen war, und wie ihr seliger Mann die Wachsfigur als Vaterland kostümiert hatte, und wie der Maire ihres Bezirkes gesagt hatte, dieser Ladenschmuck sei der geschmackvollste gewesen, den er gesehen, und wie dann Schmitt gestorben war; und in dieser Art schrieb sie einen sehr langen Brief.

Die Briefe gingen nun eine Weile hin und her; im Viertel wurde es bekannt, daß Duray als reicher Mann zurückkommen und Adelaide die Tochter heiraten wollte; es kamen Geschenke aus Petersburg: ein Kistchen mit feinem Tee, eine schöne silberne Dose, ein köstliches Lackkästchen, Stoff zu einem seidenen Kleid, allerhand wunderbare Süßigkeiten. Adelaide die Tochter freute sich sehr, daß sie verlobt war, erzählte ihren Freundinnen viel davon, wie es in Petersburg herging, schneiderte sich selber das seidene Kleid zurecht und aß mit der Mutter zusammen die Süßigkeiten. Man muß über die Freude des jungen Mädchens nicht verwundert sein; denn Mutter Adelaide hatte ganz vergessen, daß nun gegen zwanzig Jahre verflossen waren, seitdem Herr Duray ein junger, schöner und für alles Edle begeisterter Gehilfe bei ihrem Vater gewesen; vor ihrer Seele stand er noch immer mit den feurigen Augen, dem blassen, feinen Gesicht, der schlanken Figur des jungen Mannes, und so schilderte sie ihn ihrer gläubigen Tochter, nur daß noch ungezählte Reichtümer und besonders eine Menge kostbare Pelze zugekommen waren.

Natürlich konnte Herr Duray sein Geschäft nicht Hals über Kopf verkaufen, und so ging die weitere Abwicklung dieser Geschichte denn nicht so schnell, wie die drei Beteiligten wohl wünschten. Während dieser Zögerung aber erschien eine neue Person auf dem Plan.

Herr Deshoulières war ein junger Mann, der eine Tinktur erfunden hatte, welche die Haut bräunte; es genügte, wenn man täglich fünf Tropfen der Tinktur in das Waschwasser goß. In einer Zeit, wo der Soldat als der ideale männliche Typus erschien, mußte eine solche Erfindung ihren Mann reich machen. Auf einem großen Ball der Vereinigung Pariser Friseure sah Herr Deshoulières von weitem die schöne Adelaide; er erkundigte sich bei einem zufälligen Nachbarn, wer das entzückende Mädchen sei; und dieser wußte ihm auch zu erzählen, was er wünschte: ihren Namen, Wohnung, aber auch die Verlobung mit dem ihr selber noch unbekannten Herrn Duray in Petersburg. Herr Deshoulières sah noch einmal auf Adelaide hin, faßte im Augenblick seinen Plan, nahm den gesprächigen Nachbarn unter den Arm, zog ihn in ein entferntes Zimmer zu einer Flasche Sekt und forschte ihn gründlich aus über Duray. Wir haben gehört, daß Mutter und Tochter ihre Pläne und Hoffnungen nicht verschwiegen hatten, und so konnte denn der Nachbar dem neugierigen jungen Mann eine ganze Menge Einzelheiten erzählen, die zum größeren Teil richtig waren und zum geringeren Teil stilecht von den Nachbarn ergänzt, so daß man Wahrheit und Dichtung nicht mehr unterscheiden konnte. Der junge Mann hatte Phantasie und malte sich noch Weiteres aus, und so stand ihm bald die ganze Situation klar und deutlich vor Augen.

Am anderen Morgen wendete er zunächst eine reichliche Menge seiner Tinktur an, um so recht als ein gebräunter, weitgereister Mann zu erscheinen, wobei es ihm gleichgültig war, ob die Petersburger Sonne das Verfahren rechtfertigte. Dann warf er sich in seinen elegantesten Anzug, besuchte einen berühmten Kürschner und erstand sich einen großen Pelz; im Vorübergehen hatte er bei einem Lithographen Visitenkarten bestellt mit dem Aufdruck: Duray, Salon für Körperkultur, St. Petersburg; diese holte er nun ab, legte sie in ein geschmackvolles Portefeuille; endlich bestieg er eine Droschke erster Klasse, gab die Adresse der beiden Adelaiden an; vor dem Geschäft von Schmitt stieg er aus, zahlte und wies mit nachlässiger Handbewegung das Geld zurück, das ihm der Kutscher herausgeben wollte; hinter den Fenstern oben hatte er flüchtig bereits Mutter und Tochter lauschen sehen; der Lehrling, welcher ihm aus dem Wagenschlag geholfen, geleitete ihn ehrfurchtsvoll in den Laden; er zog seine Visitenkarte, händigte sie dem jungen Menschen ein und beauftragte ihn, anzufragen, ob die Damen empfangen. Ein Schrei der Überraschung ertönte von oben, er eilte durch das dunkle Hinterstübchen die Treppe hoch; die Zimmertür war geöffnet, die Mutter stand vorn, hinter ihr auf den Fußspitzen, ihr über die Schultern sehend, die Tochter; Deshoulières stürzte der Mutter zu Füßen, ergriff ihre linke Hand und führte sie zum Mund; die Mutter legte die rechte aufs Herz und rief: »Ganz der Alte.«

Nun hatte eigentlich der gute Deshoulières keine Ähnlichkeit mit Duray. Duray war lang gewesen, Deshoulières war zierlich und von jener Figur, die in den Vierzigern einen leichten Bauch ansetzt; Duray war brünett und er war blond, und vor allem, Duray mußte jetzt ein Mann in der Mitte der Vierziger sein, und er war etwa fünfundzwanzig. Aber die Erinnerung trügt; Duray war ein hübscher junger Mann gewesen und Deshoulières war es auch; diese Ähnlichkeit genügte der ahnungslosen Madame Schmitt vollkommen.

Adelaide die Tochter hatte sich errötend zurückgezogen und sah angelegentlich durch das Fenster; auf der Straße standen die Nachbarn zusammen und sprachen über die Droschke erster Klasse und den feinen Herrn, der ihr entstiegen war. Die Mutter führte – sagen wir also nun Duray – Duray der Tochter zu, legte die Hände der beiden stumm ineinander und verließ das Zimmer, um Frühstück zu besorgen, denn sie fand, daß man Hunger haben mußte, wenn man von Petersburg kommt.

Wir brauchen die Seligkeit der Liebenden nicht zu schildern; wir brauchen auch nicht zu berichten, welche merkwürdigen Dinge Duray aus Petersburg erzählte, wie wunderlich bei den Frauen durcheinanderging, was sie aus den Briefen wußten, was sie sich selbst dazu gedacht, was Duray nun noch weiter schilderte; sie stellten sich etwa den Salon Durays vor, mit großen Kristallscheiben, silbernen Becken in Malachitplatten eingelassen, geschliffenen Spiegeln in kostbar geschnitzten Rahmen, und auf der Straße einen Bären dahinwandelnd oder eine Schar Wölfe mißtönig heulend. Duray drang auf schnelle Vermählung; er hatte so lange Jahre auf sein Glück gewartet, daß man ihm diese Eile zugute halten mußte. Damals waren solche Dinge in Paris noch recht einfach; die Revolution hatte alle früheren Formen zerstört, die folgenden Kriege hatten noch nicht so recht eine neue Ordnung aufkommen lassen; es gab viele Leute in jener Zeit, welche keine Papiere aufweisen konnten, und nicht selten geschah es, daß ein Krieger heute aus irgendeinem Feldzug zurückkam, ein Mädchen auf der Straße aufgabelte, sich mit ihm kopulieren ließ, und morgen schon wieder weiter zog. Diese Zustände hatten denn auch auf die bürgerlichen Leute Einfluß; so konnte Duray Mutter und Tochter bereden, noch am selben Nachmittag mit ihm zum Maire zu gehen, Gehilfen und Lehrling als Zeugen mitzunehmen und den Ehebund fest zu machen.

Dergestalt schloß Duray seine Geliebte als junge Frau in die Arme genau vierundzwanzig Stunden, nachdem er sie das erste Mal gesehen hatte.

Wie er sich den weiteren Verlauf seines Handstreiches vorstellte, ist nicht leicht zu sagen. Vor allem tröstete er sich damit, daß geschehene Dinge nun eben nicht mehr zu ändern sind, daß er ja doch ein hübscher Kerl war, und daß seine Erfindung eine Goldgrube darstellte. Zunächst dachte er zu erklären, daß sein Gepäck und die Vermögenspapiere nachkommen würden, da er selber die Zeit nicht habe abwarten mögen; dann wollte er gleich vom ersten Tag an ins Geschäft eintreten und wenn möglich den Gehilfen entlassen; und da der Briefträger ja immer morgens zu einer bestimmten Stunde kam, Briefe abfangen, die etwa aus Petersburg von dem echten Duray anlangen mochten.

Noch am späten Nachmittag waren Mutter und Tochter umgezogen: die Mutter in das Mädchenstübchen der Tochter und diese in das große Schlafgemach, in dem einst ihre Eltern und Großeltern geruht. So wachte denn Duray am andern Morgen in dem behaglichen, breiten Ehebett auf; neben ihm auf dem Kopfkissen lag mit geschlossenen Augen, leise atmend durch die halbgeöffneten Lippen, das Lockenköpfchen der Geliebten; friedlich fiel ein Sonnenstrahl schräg durch ein Loch im dunklen Fenstervorhang auf den Boden, und unzählige Sonnenstäubchen wirbelten in dem Strahl; Herr Duray dehnte sich wohlig, Adelaide erwachte halb, war sich erst ihrer Lage nicht bewußt, dann errötete sie über und über und hüllte das Gesicht ins Kissen; schmeichelnd suchte Duray sie zu bewegen, ihn anzusehen; er küßte sie auf den schönen weißen Nacken unterhalb des reizenden Haaransatzes; sie lachte glücklich, ihr Gesicht immer im Kissen; vom nahen Turm schlug eine Glocke langsam neun tiefe Schläge. »Was!? so lange haben wir geschlafen,« rief Adelaide erschrocken aus und richtete sich hoch, dachte dann aber gleich, daß sie ja nicht allein war, und verbarg sich wieder unter der Decke.

»Ins Geschäft!« rief energisch Duray und sprang aus dem Bett, wusch sich, kleidete sich an, küßte die junge Frau zärtlich auf die Stirn und ging nach unten. Mutter und Tochter bewunderten den Eifer und die Tüchtigkeit: ach, er hätte noch gern den schönen Morgen genossen, wenn er nicht an den Briefträger gedacht hätte.

Duray schickte Gehilfen und Lehrlinge fort zu den Hauskunden und blieb dann allein im Laden, alles untersuchend, die Schubkästen herausziehend, die Büchsen öffnend und am Inhalt riechend, die Rasiermesser über den Handballen streichend, die Bürsten und Kämme kopfschüttelnd betrachtend; es wurde ihm klar, der Gehilfe mußte fort.

Während er so beschäftigt war, öffnete sich die Tür. Ein etwas auffällig gekleideter Herr von etwa fünfzig Jahren trat ein, sehr lang und hager gewachsen, gebückt, mit einem Gesicht, das nur aus einer ungeheuren Nase, einem spitzen Kinn und zwei hohen Backenknochen zu bestehen schien. Er grüßte höflich, setzte sich auf einen Stuhl, verlangte frisiert zu werden und begann ein Gespräch: über den Krieg, über die vielen Witwen heutzutage; er erkundigte sich nach dem Geschäft und sah sich um mit einem merkwürdig vertrauten Lächeln; dann fragte er nach den beiden Frauen; Duray hielt es nicht für nötig, die Verheiratung zu erzählen; der Fremde fragte nach dem Ruf der Tochter und fügte erklärend bei, man könne sich heutzutage nicht genug vorsehen, die sanftesten Mädchen würden oft die zanksüchtigsten Frauen. Duray antwortete immer einsilbiger. Der Fremde war frisiert, stand auf, fragte, was er schuldig sei, bezahlte und wollte ein Trinkgeld geben; Duray wies das Trinkgeld zurück, indem er erklärte, er sei der Herr. Der Fremde schüttelte den Kopf und rief aus: »Verkauft! So ein Geschäft! Habe ich nicht geschrieben, sie sollen es behalten!« Duray begann eine schwere Ahnung aufzudämmern; er fragte den Fremden nach seinem Namen; dieser erwiderte, er sei Duray und wünsche die Damen zu sprechen.

Der Augenblick war gekommen. Duray der Falsche schloß die Ladentür und führte den Fremden nach oben. Die beiden Frauen saßen im anmutigsten Morgennegligé am Frühstückstisch und tranken Schokolade; Adelaide die Tochter eilte auf Duray den Falschen zu, schloß ihn in die Arme und machte ihm zärtlich Vorwürfe, daß er seine Gesundheit so wenig schone und nüchtern ins Geschäft gehe. »Die Pflicht, die Pflicht,« erwiderte Duray, indem er sie auf die Stirn küßte.

Inzwischen war der krumme Fremde starr stehengeblieben und hatte seine Hakennase nach der Richtung der Frauen gewendet. Adelaide die Mutter war beunruhigt aufgestanden; das Negligé erschien ihr unschicklich, aber sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Endlich begann der Fremdling: »Ich komme nämlich aus Petersburg.« Duray drückte seine Frau enger an sich, instinktiv drängte auch sie sich an ihn, als ob sie Schutz suchen wollte. »Ach, da sind Sie wohl ein Freund von Duray?« fragte ahnungslos die Mutter Adelaide.

Aber nun geschah etwas ganz Merkwürdiges. Adelaide die Tochter hatte bis nun in ihrem Leben noch keine einzige Probe von besonderem Scharfsinn gegeben; es war ihr freilich ein solcher Beweis noch nie abverlangt. Aber jetzt, in dieser Stellung des Fremden, ihres Gatten, selbst der Mutter, verstand sie plötzlich alles: daß ihr Gatte nicht der richtige Duray war und daß der richtige Duray vor ihr stand. Sie machte sich von ihrem Gatten los, ging mit geballten Fäusten auf den Fremden zu und rief: »Was wollen Sie von mir?« Der Fremde erschrak und zog sich zurück, blitzschnell kam ihm die Erinnerung an seine verstorbene Frau, die oft in ähnlicher Stellung vor ihm gestanden. Dann sagte er schüchtern: »Ich bin doch Duray, ich habe doch aus Petersburg geschrieben.«

Die Schüchternheit entwaffnete die Tochter, die ahnungslose Mutter aber geriet nun in Aufregung; sie rief: »Wie? Duray ist hier, Duray ist mein Schwiegersohn, Sie sind ein Betrüger, mein Herr!«

Noch mehr verschüchtert blickte der echte Duray von einer der drei Personen zur anderen. Endlich sagte er: »Adelaide, erkennen Sie mich denn nicht?« Der Ton machte die Mutter stutzig; sie sah ihn prüfend an, dann brach sie in Weinen aus und sagte: »Ach, seit Schmitt tot ist, habe ich doch keinen ruhigen Tag mehr gehabt. Und es ist nur die Aufregung über die Illumination gewesen.« Die Tränen der Frau, das etwas betroffene Aussehen des unechten Duray gaben dem Fremden wieder einiges Kraftgefühl; er erklärte mit strengem Blick auf den Unechten: »Mir scheint, hier hat jemand sich betrügerisch meinen Namen angeeignet.« Der unechte Duray antwortete ihm: »Mein Herr, Sie werden ausfallend,« aber diese Antwort war eigentlich keine Erklärung. Die Tochter Adelaide fühlte das, sie fühlte auch, wie ihrer Mutter Zweifel über ihren Gatten kamen, wie sie den krummen, dürren, alten, elenden, dummen Fremden genauer betrachtete; sie lachte laut, fiel ihrer Mutter in die Arme und sagte ihr: »Nun will ich es dir nur eingestehen. Du hast recht. Wir haben uns kennen gelernt und hatten uns lieb, und weil du doch durchaus wolltest, daß ich den alten Duray heiraten sollte, so haben wir uns ausgedacht, daß er Duray spielen sollte; in ein paar Wochen, wenn du ihn auch liebgewonnen hättest, wollten wir dir dann alles erzählen.« Als sie das gesagt hatte, brach sie in heftiges Weinen aus und lief aus dem Zimmer; ihr Gatte folgte ihr, und es ist wohl anzunehmen, daß die beiden sich freundlich ausgesprochen haben.

Mutter Adelaide und der echte Duray blieben sich stumm gegenüber sitzen. Nach einer langen Pause sagte sie: »Aber Sie sind ja so alt geworden, Herr Duray, ich hätte Sie nicht wiedererkannt!« »Na, ich bin schließlich in meinen besten Jahren, und Sie sehen auch nicht mehr so aus wie damals,« gab der echte Duray gereizt zurück. »Ach, man fühlt sich doch aber noch jung,« antwortete die Witwe harmlos; sie war sich gar nicht klar darüber, wie wohlbehäbig sie aussah; da wurde dem geplagten Witwer bewußt, daß sie doch ein friedliches und gutes Gemüt hatte und nicht so böse war wie seine verstorbene Frau; es wurde ihm nicht logisch klar, er fühlte nur ein warmes, gutes Rühren in seinem Herzen; und ohne sich weiter zu besinnen, sagte er: »Schließlich passen wir doch auch besser zusammen, als wenn ich Ihre Tochter geheiratet hätte.« Frau Adelaide wischte sich eine Träne aus dem Auge und schwieg, er schwieg auch; nach einer Weile fuhr er fort: »Ich habe genug, daß wir uns zur Ruhe setzen können; der junge Mann behält das Geschäft allein; es ist besser, wenn Alt und Jung für sich ist.« Nach diesen Worten stand er auf und drückte der errötenden Witwe den Verlobungskuß auf die Stirn; sie sagte: »Und ich bin immer noch in der Nachtjacke!«


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