Paul Ernst
Die Taufe
Paul Ernst

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Anakreon

In einem kleinen deutschen Städtchen lebte ein ältlicher Privatgelehrter, der sich seinen bescheidenen Lebensunterhalt durch Nachhilfeunterricht an zurückgebliebene Gymnasiasten erwarb. Er hatte vor langen Jahren Theologie studiert und das erste Examen gut bestanden; weil damals aber ein Überfluß an Theologen war, so schien es ihm nicht so eilig, das zweite Examen zu machen; er hatte sich in der kleinen Stadt niedergelassen und jenen Unterricht begonnen, zunächst in der Absicht, sich durch diesen Erwerb durch, zuschlagen, bis er eine Stellung in Aussicht habe und das zweite Examen machen werde; aber da war ein wunderliches Wesen über ihn gekommen; er las und las und studierte, suchte überall nach alten Büchern und kaufte die auf nach seinem schwachen Vermögen, und schob darüber immer wieder das Examen auf, bis er denn endlich zu alt geworden war für ein anderes Leben und nun dauernd in dem anfänglich als vorübergehend gedachten Zustand beharrte.

Unter anderen Schülern hatte er auch den Sohn eines wohlhabenden Fabrikanten zu unterrichten, in dessen Hause ihm durch die Güte der freundlichen und klugen Frau viel Liebes erwiesen wurde, als eine Art Ausgleich dafür, daß der weltunerfahrene Mann seine Belohnung übermäßig billig anzusetzen pflegte. So war er denn auch einmal an einem schönen Sonntag zu einem stattlichen Kalbsbraten eingeladen; der Hausherr hatte eine bestaubte Flasche Wein aus dem Keller geholt; das Gespräch wurde angeregt, der stille Gelehrte vergaß seine schüchterne Zurückhaltung, und indem zufällig die Rede auf die Freude an Büchern kam, begann er in fast begeistertem Ton:

»Sie sind die treuesten Freunde, die es gibt, denn sie geben uns alles, das sie haben; die anspruchslosesten sind sie, denn jahrelang mögen sie auf dem Brett stehen und vergebens warten, daß wir sie ansehen, und wenn wir dann eines vorziehen und aufschlagen, dann ist da kein Groll und keine Verstimmung, und ist alles so wie am Tage der ersten Bekanntschaft, wenigstens wenn wir selber uns nicht verändert haben. Es gibt keine bessere Gesellschaft wie die Bücher und keine buntere; denn alle Arten von Menschen haben in Büchern ihr Wesen ausgedrückt, aber immer nur ihr wesentliches Wesen; nur die Sonntage ihres Lebens haben sie in ihnen gegeben. Völlige Gleichheit herrscht auf dem Bücherbrett, wie vor Gott, der Weise steht neben dem Narren, der Edle neben dem Schurken, der Vornehme neben dem Geringen, und jeder hat seinen ihm gebührenden Wert. Menschen, die nichts von Büchern verstehen, sagen: ist es nicht dasselbe, ob ich ein Buch borge und lese es, als wenn ich es besitze? Und ist es nicht einerlei, ob es auf Bütten gedruckt ist oder auf Holzpapier, gut oder schlecht gebunden ist? Es kommt doch nur auf den Inhalt an! Solche Menschen wissen nicht, daß ein jedes Buch, wenn es nicht mehr neu ist und eine Geschichte hat, eine Persönlichkeit geworden ist, so daß kein Exemplar einer Ausgabe für den Bücherfreund das Gleiche bedeuten kann; sie wissen nicht, wie Satz und Druck, Papier und Einband sich mit dem Text vereinen und eine neue Freude erzeugen; wie man einen schönen Band zärtlich streichelt, über ein fehlendes Blatt bekümmert ist, sich leise lächelnd an die Geschichte der Erwerbung erinnert, die Spuren der Vorbesitzer verfolgt.« Hier begann sich sein Gesicht leise zu röten, indem er fortfuhr: »Aber wie überall die Barbarei zunimmt, so auch hier. Sie kennen noch nicht die neueste Unsitte, daß man die alten Exlibris aus den Büchern herausschneidet für törichte Sammler und den Büchern dadurch den Reiz ihrer Vergangenheit nimmt. Welche Freude hat ein Bücherfreund, wenn er das Bücherzeichen eines Mannes findet, der vielleicht schon hundert Jahre tot ist, von dem er sich denken kann, daß er ähnliche Neigungen gehabt hat, wie er selber –«

So würde der Gelehrte noch glückselig weiter gesprochen haben, wenn der etwas vorlaute Sohn nicht plötzlich eingeworfen hätte: »Auf dem Boden bei uns liegt ein ganzer Stoß alter Bücher mit Exlibris.« Der Vater sagte, das seien alles wertlose alte Scharteken, die von dem früheren Hauseigentümer zurückgelassen seien; der Gelehrte warf ein, daß man nie wissen könne, ob sich nicht etwas Gutes in solchem alten Haufen befinde, denn die Menschen seien oft ganz ruchlos in der Behandlung alter Bücher; der Junge bot sich an, seinen Lehrer hinaufzuführen; die Eltern lächelten unmerklich, die Tafel wurde früh aufgehoben, und die beiden verließen eilig das Zimmer, um auf den Hausboden zu steigen.

Wirklich lag in dem Bücherhaufen allerlei Wertloses durcheinander von Büchern, die zu ihrer Zeit gelesen und dann in Verachtung gefallen waren: Rottecks Weltgeschichte, Tiedges Urania, Schoedlers Buch der Natur; aber auch schöne Bücher fanden sich, so Rösels Insektenbelustigungen, Goethes Schriften in der alten Ausgabe und wohl noch mehr dergleichen. Der alte Gelehrte sah nicht den ganzen Haufen durch, denn gleich zu Anfang war er auf einen wunderhübschen Anakreon gestoßen, gedruckt von Bodoni auf herrliches Velinpapier, und mit reicher geschmackvoller Verzierung in grünem Maroquin gebunden. Als er dieses schöne Buch in dem trostlosen Haufen erblickte, zwischen Kalkstücken, die vom Ziegelverstrich abgefallen waren, feucht und verstaubt, da schaute er rasch nach dem Jungen, und wie er den mit abgewendetem Gesicht eifrig suchen sah, steckte er das Bändchen heimlich in die Rocktasche. Aber schon in dem Augenblick wurde ihm ängstlich zumute; er mahnte zum Aufbruch, ging verstimmt mit dem Jungen in das Wohnzimmer zurück, erzählte in gedrücktem Tone, daß manches schöne Buch in dem Haufen liege, und daß der Herr des Hauses gut tun werde, das Wertvolle in einem Bücherschrank aufzustellen; dann empfahl er sich plötzlich und eilte mit schnellen Schritten nach Hause.

Er staubte und wischte das Bändchen sorgsam ab; das Exlibris eines Duca di Jelzi war im Vorderdeckel eingeklebt; er schlug zufällig das reizende Gedicht an die Geliebte auf und las:

Dein Spiegel möcht' ich sein,
Daß du mich immer ansähst,
Mich wandeln in dein Kleid,
Daß du mich immer trügst,
Zu Wasser will ich werden,
Daß deine Haut ich wasche,
Will wandeln mich in Narden,
Damit ich, Weib, dich salbe,
Zur Perle um den Hals,
Zur Binde unterm Busen,
Zum Schuh möcht' ich mich wandeln,
Nur daß dein Fuß mich tritt.

Ach, er war ein magerer, verstaubter alter Kandidat von fünfzig Jahren, in einem schwarzen Rock, dessen Nähte glänzten, aber er dachte an Anakreons Geliebte, an einen silbernen Spiegel und ein Gewand aus durchsichtigem Byssus, an duftende Salbe, Perlen, eine Busenbinde und einen kleinen Schuh – an blaue und schimmernde Wogen des griechischen Meeres, strahlende Sonne des Südens, an Licht, Schönheit und Heiterkeit; und an den unbekannten Duca di Jelzi dachte er, der gewiß sein herzogliches Schloß an der sizilischen Küste hatte, ein junger Mann war mit feurigen Augen und mit einer wunderbaren Bibliothek, einem großen Saal voll herrlicher Bücher, dessen Fenster auf die See gingen, in der einst Odysseus gefahren.

Aber da dachte er an den Diebstahl. Hastig packte er das Buch in den Tischkasten, neben Salzfaß, Tischtuch und Eßbesteck. Alle Freude war erloschen, wie wenn eine sonnige Landschaft durch eine Wolke plötzlich verdunkelt wird. Er ging zu seinen Bücherschränken: da standen die beiden Gedichtbände von Pontan im Giuntidruck, Sannazaro in einer alten neapolitanischen Ausgabe, die griechische Anthologie von Aldus; es war Sonntag nachmittag, die Sonne schien durch das Fenster, die Wirtin stellte den Kaffee auf den Tisch; das war die Zeit, wo er sonst seine Bücher zu genießen pflegte; plötzlich erschienen ihm die Bände alle als wertlose Scharteken, die auf einem Boden zwischen Kalkstücken liegen müssen, die Dichter als langweilige und geistlose Verseschmiede. Er suchte sich zu beruhigen: wenn er um das Bändchen gebeten hätte, dann hätte man es ihm ohne weiteres geschenkt; es hatte ja doch nur einen geringen Geldwert; er konnte die Stunden, welche er dem Jungen gab, einige Zeit lang etwas verlängern und dergestalt das Buch heimlich bezahlen; er konnte zwei Mark in die Armenbüchse stecken; im Grunde war es doch nur gewesen, daß ihm das Buch so leid getan hatte. Aber keine Beruhigung half, seine Gemütsverfassung blieb kummervoll.

Als er am nächsten Vormittag von einer Besorgung nach Hause zurückkehrte, fand er auf seinem Zimmer, sauber abgewischt und schön geschichtet, alle Bücher, die er auf dem Boden gesehen; die Frau des Hauses hatte sie ihm durch einen Burschen schicken lassen und war selber gekommen, um sie ihm ordentlich aufzubauen. Da lag nun der Rösel, den er sich so lange gewünscht, der schöne Goethe. Seufzend machte er sich an das Aussuchen, um das Wertlose wieder fortzuschaffen.

Aber wieder erschienen ihm alle die Bücher als ein wertloser Trödel, er dachte an sein verfehltes Leben, an eine Landpfarre, an Familie und sorgenlose Zukunft. Plötzlich stand er auf, nahm den Hut, steckte den Anakreon in die Tasche, ging zu dem Hause seines Schülers und ließ sich bei der Dame anmelden. Diese ging ihm lachend und ihm die Hand bietend entgegen, sie dachte, daß er für die Bücher danken wolle; aber er nahm die Hand nicht, sondern zog den Anakreon aus der Tasche und erzählte alles.

Die gute, kluge und schöne Frau sah ihm ins Gesicht und verstand; sie ergriff seinen Kopf, küßte ihn auf die Stirn und schob ihn wortlos mit seinem Buch aus dem Zimmer; er ging zurück mit jugendlichen Schritten und frohem Gesicht, vor sich hinsummend:

Dein Spiegel möcht' ich sein,
Daß du mich immer ansähst.


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