Paul Ernst
Die Taufe
Paul Ernst

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Der Bruder

Mein langjähriger Freund, Hauptmann v. H., sitzt mir in meiner stillen Arbeitsstube gegenüber im Sofa, das verwundete Bein ausgestreckt. Sein junger Bruder ist in dem Treffen gefallen, in welchem er selber verwundet wurde. Er hat der Mutter erzählt, wie es war: an der Spitze seiner Leute, nach einem geglückten Sturmangriff auf eine feindliche Batterie, in dem Augenblick, als er, den Degen in der Hand, jubelnd ausrief »Sieg«, in dem schönsten Augenblick, den ein Mann erleben kann, traf ihn eine Kugel eines der Fliehenden. Die Mutter hat geweint, sie hat gesagt: »In dem schönsten Augenblick, den ein Mann erleben kann«; sie hat sein Bild angesehen und gesagt: »So schöne Hände hatte er, so schöne Augen.« Sie weint noch immer, aber sie weiß, daß er einen herrlichen Tod gestorben ist; sie denkt noch immer an die Augen, aber sie weiß, daß der Bruder, der ihn so liebte, sie ihm zugedrückt hat; an die Hände, aber sie weiß, der Bruder, der unzertrennlich von ihm war, hat sie ihm auf der Brust gefaltet, als er in sein Kriegergrab gelegt wurde.

Wir saßen still beieinander, mein Freund und ich. Sein Gesicht war im Schatten des Lampenschirmes.

»In vierzehn Tagen denke ich so weit zu sein, daß ich wieder zur Front zurückgehen kann,« sagte er plötzlich unvermittelt. »Ich halte es nicht aus. Mein Leben hat hier keinen Zweck, die Schwermut verzehrt mich. Vielleicht, wenn dieser Krieg einmal zu Ende ist, wird mein Gefühl anders; jetzt habe ich nur das eine in mir: Gegen den Feind, gegen den Feind.«

Er war immer ein stiller, nachdenklicher Mensch gewesen, der ruhig seinen Dienst tat und viel studierte. Ich hatte ihn nie für eine eigentlich kriegerische Natur gehalten. Er war ein Mensch, der seine Pflicht erfüllte, und ich hatte oft gedacht, er wäre als Gelehrter mehr an seiner Stelle gewesen.

Wir waren in jener Stimmung, in welcher man genau weiß, was der andere fühlt, auch ohne daß Worte gewechselt werden. Nun fing er an zu erzählen, als eine Art Antwort auf mein Erstaunen, daß er sich so sehr nach der Schlacht zurücksehnte; nur als eine Art Antwort; denn was er meinte, das war nicht die Erzählung eines bestimmten Geschehens, sondern ein kurzes Erleuchten einer nächtlichen Landschaft durch einen Blitz. Ich spürte, daß die Landschaft ganz anders geworden war, als ich sie früher kannte – oder war sie immer schon so gewesen, wie ich sie jetzt sah, und hatte ich sie nur falsch gesehen?

Mein Freund erzählte.

»Die Franzosen hatten sich in dem Flecken L. festgesetzt. Unsere Infanterie lag einige hundert Meter entfernt in Deckung; eine Batterie beschoß den Flecken, um uns den Sturm zu ermöglichen. Als das Feuer der Feinde nachließ, stürmten wir vor und nahmen nach kurzem Gefecht den Ort, der sehr übel zugerichtet war.

Ich stand auf der Straße und gab einige Befehle, als zwei Leute meinen Bruder brachten. Eine Flintenkugel hatte ihm beide Knie durchbohrt. Vor uns war ein Haus noch verhältnismäßig gut erhalten; nur die eine Ecke war durch eine Granate fortgerissen. Wir pochten; als niemand aufmachte, stieß ein Mann die Tür mit dem Kolben ein, dann trugen wir meinen Bruder in die Stube; es stand da ein breites Bett, auf das legten wir ihn.

In der Ecke war ein junges Weib schluchzend über ein Kinderbett gebeugt. Ich trat zu ihr, um eine Schüssel mit Wasser zu verlangen; sie richtete sich auf, sah mich mit blitzenden Augen an und deutete auf ein totes Kind in dem Bettchen; es war durch einen Granatsplitter getroffen, der ihm den Kopf gräßlich zerschmettert hatte. Mir schnürte sich das Herz zusammen, als ich die Verzweiflung der Mutter, die fürchterlich entstellte Kindesleiche sah. Ich konnte nicht sprechen, winkte ihr nur ab; inzwischen hatte ein Mann in der Küche eine Schüssel geholt und pumpte sie im Hof voll Wasser. Plötzlich hörten wir wieder Gewehrschüsse. Wir stürzten auf die Straße; ich sah, wie ein Mann fiel, der mitten auf der Straße stand. Der Schuß schien aus den Feldern gekommen zu sein, in denen vielleicht noch einige Feinde versteckt lagen. Wir machten uns daran, sie aufzusuchen.

Nun also, die Einwohner, die noch in dem Flecken versteckt waren, scheinen geglaubt zu haben, daß wir fliehen mußten. Als wir nach etwa einer halben Stunde zurückkehrten, fanden wir die Leiche des Mannes auf der Straße verstümmelt.«

Der Kopf des Erzählers fiel schwer vornüber. »Erlassen Sie mir, Ihnen zu schildern, wie die Verstümmlungen beschaffen waren. Uns stand vor Entsetzen das Herz still. Ich eilte auf das Haus zu, in dem mein Bruder lag; plötzlich sprang das Weib, das in der Stube gewesen, hinter der zertrümmerten Tür vor auf die Straße und eilte auf mich zu, eine große, blutige Hippe schwingend, wie dort die Arbeiter sie haben, wenn sie die Äste von den Bäumen abschlagen. Das ist eine furchtbare Waffe, die gleichzeitig hackt, schneidet und reißt. Ehe sie noch auf mich hacken konnte, war ein Mann vorgesprungen und schlug ihr mit dem Gewehrkolben über den Kopf. Ich hörte das Krachen des Schädels, das Weib fiel mit ausgebreiteten Armen vor uns hin.

Ja, das kann man nicht vergessen, dieses Geräusch des krachenden Schädels.

Ich fand meinen Bruder in der Stube auf der Erde sich wälzen und schreien. Die Hände waren ihm abgeschlagen, wo die Augen gewesen waren, klafften zwei blutige Höhlen. Er erkannte meine Stimme. ›Erbarme dich, erbarme dich,‹ schrie er, ›gib mir eine Kugel.‹ Ich sah mich um, ich war allein in dem Zimmer; rasch nahm ich meinen Browning aus der Tasche, setzte ihn meinem Bruder an die Schläfe und schoß. Er streckte sich und war tot.«

Lange war es still in der Stube, nachdem mein Freund mit bebenden Lippen seine Erzählung beendet hatte. Er fühlte, daß ich nichts sagen konnte, so sprach er denn endlich weiter.

»Ich bin von Natur ein ruhiger Mensch, ich habe meinen Beruf früher immer so aufgefaßt, daß ich meine Leute erziehen müßte. Sie wunderten sich, daß es mich wieder in den Krieg treibt. Ich habe meine Natur nicht verändert: aber ich will wieder in die Schlacht, sobald es geht. Ich weiß nicht, was mich treibt, es ist etwas Jenseitiges.«

Nach einer Pause fuhr er fort: »Es ist nicht Rachegefühl oder Haß. Kann ich denn die Frau hassen, die vor ihrem zerschmetterten Kinde stand, und wild in tierischer Leidenschaft meinen guten Bruder so verstümmelte? Diese Menschen sind eine andere Rasse, eine niedrigere Rasse. Man kann sie nicht hassen. Wenn ich etwas Bestimmtes wollte mit meinem Trieb in den Kampf, dann wäre es nur der Wunsch, daß dieser furchtbare Krieg so bald wie möglich beendigt wird; und es ist ja nicht anders möglich, er muß durch unseren Sieg beendigt werden, obwohl dieser Sieg unserer Seele sehr schaden wird; es muß so sein, denn wenn die anderen siegten, dann würde der beste Teil der Menschheit von heute vernichtet.

Aber es handelt sich nicht darum, daß ich etwas Bestimmtes will. Ich will wieder in den Krieg.«

Es war mir, als spräche ein fremder Mensch aus mir, ich sagte: »Sie wissen, daß Sie fallen werden?«

Er nickte. Dann sagte er: »Nicht weil ich meinen Bruder getötet habe, das denken Sie doch nicht? Der Tod ist uns ja nicht mehr wichtig. Ich kann es nicht anders ausdrücken. Es ist mir Religion, daß ich fallen werde. Es werden ja wieder Menschen geboren, die mögen neu anfangen.«


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