Paul Ernst
Die Taufe
Paul Ernst

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Förster und Wilddieb

Eine kleine Ortschaft im Harz war zum großen Teil von Bergleuten bewohnt, welche entweder in den staatlichen Manganerzgruben beschäftigt waren oder als Eigenlöhner in Tagbauen, den sogenannten Pingen, auf Eisenstein arbeiteten. Eine solche Pinge kann man sich vorstellen als eine Art Steinbruch von sehr großer Tiefe. Die Eigenlöhner hatten zum größten Teil ein eigenes Häuschen mit etwas Acker und Wiese, hielten wohl eine Kuh und ein paar Schweine, und bildeten so die eigentlich Ansässigen in der Ortschaft. Die Manganbergleute wohnten meistens zur Miete und hatten nur sehr selten Besitz; sie waren zum großen Teil erst zugezogen, als die Mangangruben in Aufnahme kamen.

Die Ortschaft mit ihrer Feldflur lag mitten im Wald. Damals, als die nachfolgende Geschichte spielte, am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, verband noch keine Landstraße sie mit der übrigen Welt. Die angesessenen Leute waren seit alten Zeiten berüchtigte Wilddiebe; man kann sich vorstellen, daß in diesem entlegenen Gebiet jahrhundertelang niemand außer ihnen Anspruch auf das Wild gemacht hatte; und wenn heute ein Mann abends auf seine Wiese ging und einen kapitalen Hirsch sichernd austreten und aufs Geäß ziehen sah, dann war es wohl schwer für ihn, nicht am anderen Abend mit seiner alten Büchse, die er noch vom Urgroßvater geerbt, auf Anstand zu gehen.

In einer herbstlichen hellen Mondnacht kniete ein Wilderer vor einem geendeten Hirsch und schnitt ihm eben mit seinem Taschenknief das Kurzwildbret aus; sein zweiläufiges Gewehr lag vor ihm, der eine Lauf noch geladen. Der Hirsch war am Rand eines Abgrunds gestürzt, des tiefsten der Tagbaue in der Nähe der Ortschaft; ein morsches Gatter, mit langherabhängenden Flechten bewachsen, lief um den äußersten Rand des Abgrunds, der senkrecht nach unten fiel.

Plötzlich sprang dem Knienden der Förster entgegen mit der gespannten Büchse in der Hand; er setzte den Fuß auf das Gewehr des Bergmanns und rief: »Gib dich.«

Der Wilderer schnellte auf, griff sein Messer fester; der Förster hob die Büchse an die Wange; der andere ließ die Arme sinken und sagte mutlos, mit dem Fuß einen Lauf des Hirsches zur Seite stoßend: »Ich kann nicht aus.«

»Du tust mir leid,« erwiderte der Förster, »aber ich kann nicht anders.« »Ja ja, schon gut,« antwortete der Bergmann. »Es ist mir nur um die Frau und die Kinder. Es sind ja nicht nur die zwei Jahre, aber das Haus wird alle. Dann kann mein Junge auf die Mangangrube gehen und meine Frau kann Holz lesen.« »Was soll ich machen?« entgegnete der Förster. »Du bist der Schlimmste, das weißt du selber. Ich muß meine Pflicht tun.« »Dein Glück, daß du so ein schlauer Hund bist,« schloß der Bergmann, »sonst wäre ich auch noch zum Mörder an dir geworden; davor hat mich Gott nun behütet.«

Der Förster befahl dem Mann, sich umzudrehen und ihm vorauszuschreiten. Als aber der Mann das getan und er sich nun bückte, das Gewehr des Wilderers aufzuheben und ihm zu folgen, ging der noch geladene Lauf los. Unwillkürlich prallte der Förster zurück, stieß hart an das Gatter, der morsche Pfosten brach über der Erde ab, er verlor das Gleichgewicht und stürzte vorwärts über das Gatter; er griff mit den Händen in die Luft, überschlug sich, seine Hände faßten eine Wurzel, die aus dem Gestein hervorragte; mit einem fürchterlichen Ruck hängte sich sein Körper an die Arme; ein losgelöstes Gatterstück hing schwingend eine kurze Zeit über ihm, fiel dann über ihm fort in die Tiefe. Der Bergmann legte sich oben glatt nieder und sah nach unten. In dreiviertel Mannshöhe hing der Förster, das Gesicht nach vorn gerichtet; er hing an der äußersten Wurzel einer alten Fichte, die genau am Abgrund überhängend stand; kleine Steinchen bröckelten über ihm hin.

»Hab Erbarmen mit meinen Kindern, hilf mir, daß ich hoch komme,« rief der Förster flehend.

Der Wilderer schnallte seinen Leibriemen ab und legte ihn um die freiliegende Lende der Fichte und befestigte ihn, indem er ihn ganz durch die Schnallenöse laufen ließ; es war eine schmale und zähe Wurzel quer über die Lende gewachsen und verhinderte so das Abgleiten. Dann nahm er den Riemen von seinem Gewehr und schnallte ihn an den anderen Riemen; jetzt fragte er den Förster: »Kannst du dich an mir hochziehen?« Die Wucht des Sturzes hatte dem Förster die Armgelenke taub gemacht, er wußte noch nicht einmal, ob er sich nur würde halten können. Nun machte der Wilderer noch zwei Knoten in seine Riemen, um einen Griff zu haben, und ließ sich dann langsam über dem Förster hinab; der Förster ließ erst die eine Hand von seiner Wurzel los und klammerte sich an den Fuß des Wilderers, klammerte sich dann mit dem anderen Arm, und so trug nun der zusammengesetzte Riemen die beiden aneinander hängenden Männer.

Vorsichtig zog der Wilderer sich an dem Riemen in die Höhe, bis er den ersten Knoten fassen konnte, zog sich dann weiter hoch, bis er den zweiten Knoten faßte, immer den Förster an den Füßen, zog sich dann höher, bis er die Lende des Baumes mit dem einen Arm umklammerte, dann mit dem anderen Arm, und nun schob er sich weiter auf das Ebene, sich in Wurzeln einhakend, und wie er seine Beine hochzog, da kamen die Hände des Försters zum Vorschein, dann der Kopf, und endlich hatte er auch den Förster auf dem Ebenen oben; der hielt aber seine Arme noch eine Weile um die Beine des Mannes geschlungen, dann erst ließ er los.

»Das war ein saures Stück Arbeit,« sagte der Wilderer und besah seine Hände; von drei Fingern an jeder Hand waren ihm die Nägel ausgerissen. »Meine Kinder,« stammelte der Förster, »meine Kinder.« »Du bist ja wie betrunken?« fragte ihn der Wilderer. Der Förster holte seine Schnapsbuttel heraus, trank dem Bergmann zu und reichte sie ihm; der trank gleichfalls und sagte: »Der tut gut.« »Habe ich denn geschrien?« fragte der Förster, »ich habe von gar nichts gewußt.« »Von deinen Kindern hast du gesprochen,« antwortete der Wilderer, »und daß du dich nicht an mir hochziehen kannst; deshalb habe ich dich mit hochziehen müssen.«

Es entstand eine Pause; der Förster sah auf den geendeten Hirsch und sagte: »Er sieht gut aus am Leibe.« Plötzlich erinnerte er sich, wischte über sein Gesicht und fuhr fort: »Ach so.«

Der Wilderer schwieg eine geraume Weile, dann sagte er: »Nun läßt du mich doch aus. Den Hirsch schickst du an den Oberförster, das Gehörn ist dein. Es ist ein ungerader Vierzehnender.« Der Förster schüttelte den Kopf und erwiderte: »Ich habe geschworen.« »Wer alles glaubt, was die Pastoren sagen!« antwortete ihm achselzuckend der Wilderer. »Es ist nicht deshalb, aber Ordnung muß sein,« sagte der Förster. »Du hast mir das Leben gerettet, ohne dich wär ich hin. Aber wenn der Mensch seine Pflicht nicht mehr tut, dann ist alles aus.«

Plötzlich stürzte sich der Wilderer auf den Förster, kniete ihm auf der Brust und umklammerte ihm mit den blutigen Händen die Kehle, indem er schrie: »Dann mußt du doch hinunter«; aber durch die heftige Bewegung kamen die Körper ins Gleiten, der Wilderer fiel zur Seite, schnell warf sich der Förster auf ihn, mit der einen Hand packte er seine Kehle, mit der anderen ergriff er einen schweren Stein und schlug ihm auf den Kopf, daß ihm die Sinne schwanden; neben ihm hingen noch die zusammengeschnallten Riemen, er löste sie vom Baum, wälzte den Mann um und verschnürte ihm die beiden Hände auf dem Rücken. Dann nahm er den abgeschossenen Doppelläufer, denn seine eigene Büchse lag unten in der Pinge, lud, sah den Feuerstein nach; der Wilderer hatte sich wieder aufgerichtet, das Blut lief ihm über die Augen; der Förster zog sein Taschentuch, wischte ihm die Augen, verband die Stirnwunde und setzte ihm die Mütze auf. Dann erhob sich der Wilderer, und indem der Förster ihm mit gespanntem Hahn folgte, gingen die beiden zur Ortschaft hinunter. Die Hunde bellten. Alle Häuser waren dunkel. Als sie am Hause des Wilderers vorbeikamen, fragte der Förster: »Willst du deine Frau und Kinder noch einmal sprechen?« Der Mann schüttelte finster den Kopf und erwiderte: »Ich habe keine Lust auf das Geplärr.« So gingen die beiden weiter auf dem Weg, den die Eisensteinwagen und Kohlenkarren fuhren bis zur Eisenhütte; der Lichtschein glühte durch die Fenster und offene Tür der Hütte; der Mond ging unter, sie schritten im Sternenlicht weiter. »Kannst du vor die Füße sehen?« fragte der Förster; der Bergmann antwortete nicht; gegen Morgen kamen sie in der Stadt an; der Förster schlug an das Gefängnistor; er sagte noch: »Daß du mich gerettet hast, will ich vor Gericht erzählen, das andere braucht keiner zu wissen, das ist meine Sache. Verrate dich nicht, denn wenn ich gefragt werde, so muß ich's sagen.« »Es ist gut,« antwortete der Bergmann. Das Tor wurde geöffnet, der Förster lieferte seinen Gefangenen ab und ging zurück.

In der Gerichtsverhandlung wurde alles erzählt, außer dem letzten Angriff des Wilderers; es ging nicht anders, als daß man den Mann verurteilte, aber die Richter empfahlen ihn dem Herzog zur Begnadigung.

Man wußte, daß der Herzog Wilderer nicht begnadigte. Der Förster zog seine Staatsuniform an und fuhr in die Hauptstadt; er erhielt eine Audienz beim Minister; der Minister sagte: »Ich fühle menschlich,« setzte sich gleich mit ihm in den Wagen und fuhr zum Schloß; die beiden mußten in einem großen Saal warten; der Herzog erschien, der Minister sagte ihm ein paar Worte und forderte dann den Förster auf, zu erzählen. Schweigend, auf die Erde blickend, mit ungeduldigem Gesichtsausdruck hörte der Herzog zu, wie der Förster seine Erzählung beendet hatte, sagte er langsam, ihn gleichgültig ansehend: »Ich habe es mir zum Gesetz gemacht, keinen Wilderer zu begnadigen. Anders kann das Laster nicht ausgerottet werden.« Dem Förster schwoll die Ader auf der Stirn. »Das Laster?« rief er, »Hoheit gehen selber auf die Jagd. Meinen Hoheit, die armen Leute sind aus anderm Teig gebacken?« Erstaunt trat der Herzog einen halben Schritt zurück und sah auf den Minister. Dieser warf verlegen ein: »Der Mann hat doch dem Förster das Leben gerettet mit eigner Lebensgefahr. Der Förster hat es für seine Pflicht gehalten, ihn trotzdem zu verhaften.« »Ich weiß, ich weiß,« antwortete der Herzog. »Was soll ich tun? Der Förster tut mir ja leid, lassen Exzellenz ihm eine Anweisung auf zwanzig Taler ausschreiben.« Der Förster trat ungestüm vor und schrie: »Bin ich ein Menschenverkäufer?« Plötzlich riß er seinen Uniformrock auf, zog ihn aus, warf ihn dem Herzog vor die Füße und fuhr fort: »Da liegt der grüne Rock.« Der Minister zitterte, der Herzog lächelte, wie er den wütenden Mann in Hemdsärmeln und den bebenden Beamten sah; dann ging er auf den Förster zu, reichte ihm die Hand und sagte: »Er ist ein Kerl, wie er sein muß. Zieh Er Seinen Rock wieder an, der Wilderer wird begnadigt, Seine zwanzig Taler soll Er doch haben.« Dann winkte er den beiden Fassungslosen zu und ging aus dem Saal. Der Minister nahm den Förster wieder in seinen Wagen, aber die beiden sprachen unterwegs kein Wort.

Als der Bergmann nach Hause kam, sagte der Förster zu ihm: »Wir sind quitt, jetzt geht eine neue Rechnung an.« Der Wilderer schüttelte ihm die Hand, dankte ihm und sprach: »Ich habe genug von dem Schreck, noch einmal mag ich das nicht erleben.« »Wer's glaubt, daß es anhält!« erwiderte der Förster, rückte seine Büchse zurecht, pfiff seinem Hund und ging weiter.

Nach einem Jahr wurde der Förster erschossen gefunden. Männer hieben zwei junge Tannen ab, flochten aus Zweigen eine Bahre und trugen ihn in den Ort, die Försterin stürzte aus dem Haus, raufte sich die Haare, die Kinder folgten ihr, schrien und weinten, die Frau warf sich auf den toten Mann; wie sie aufblickte, sah sie dem Wilderer gerade ins Gesicht; er war in der schwarzen Bergmannstracht mit dem Schachthut, er kam eben von der Arbeit. Er ging auf der anderen Seite der Straße und tat, als ob er den Auflauf nicht sehe. Die Frau zeigte mit dem Finger auf ihn und schrie: »Der, der, für den ist er zum Herzog gegangen, hat seine Stelle in die Schanze geschlagen, an seine Kinder hat er nicht gedacht, er hat nur an den gedacht.« Der Mann ging stumm vorüber, die Leute sahen ihm still nach, die Witwe warf sich wieder jammernd über den Toten.

Der Wilderer trat in sein Haus, ein Kind wich scheu zur Seite; die Frau kam; er herrschte sie an und verlangte sein Waschwasser; dann wusch er in der Wohnstube den roten Arbeitsschmutz ab, zog sich aus, ging in den Stall, wo die beiden Kühe standen; sie wendeten ihm die Köpfe zu, er streichelte sie; dann stieg er die Leiter zum Heuboden hoch, knüpfte einen Strick an einen Dachsparren und erhängte sich.


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