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32.

Die Kirche war aus, und die Straße fing an, sich mit wohlgekleideten Leuten zu füllen, denen es Niemand ansah, wie sehr sie ihrer Sünden wegen waren gescholten worden – als einer der kleinen Herbste von seinem Posten am Fenster, wo er Wache gestanden hatte, in Eile gegen die Thür rannte, und nun auf einmal der ganze unruhige Schwarm ihm nach auf die Hausflur stürzte, um den kommenden Großvater und die begleitende Mutter – die aber Sonntags, ihrer Alltäglichkeit wegen, nur wenig galt – mit Freudengeschrei zu bewillkommnen. Der Alte empfing die Kleinen mit den gewöhnlichen scharfen Verweisen wegen ihres ungebührlichen Lärmens, aber zugleich mit einer Freundlichkeit, die den Eindruck jener Verweise augenblicklich wieder verwischte. Er wollte jetzt anfangen, seine Tasche für ihre Leckermäuler und seinen Geldbeutel für ihre Sparbüchsen zu leeren, als er auf einmal im Hintergrunde einen holden Knaben einsam und dem Scheine nach traurig dastehen sah, und seine Tochter fragte, wer denn das wäre?

Ach ein lieber, süßer Junge, sagte die Doctorin: der älteste kleine Lyk; ein Schul- und Spielgenosse meines Wilhelms.

Lyk? rief der Alte; o laß den Kleinen doch näher kommen!

Er kam auf den Ruf der Doctorin, und ging, nach ihrer Anweisung, zum Alten, dem er mit all dem Anstande und der Ehrerbietung die Hand küßte, wozu ihn die Mutter gewöhnt hatte.

Wirklich, wirklich, ein allerliebster Knabe! – Herr Stark theilte ihm jetzt, wie den Uebrigen, mit; und hob ihn dann auf einen Tisch, der im Vorsaale stand, um, wie er sich ausdrückte, zu sehen, ob er ihn kenne. – Ja ja! rief er, lieber, süßer Kleiner! wir sind schon alte Bekannte. – Sieh her, liebe Tochter, sieh her! Wie doch das nachartet! – Diese Stirne und dieses Kinn – –

Ganz des alten Lyk; unverkennbar!

Spiel der Natur! rief Herr Stark.

Ordnung der Natur! rief die Tochter; und setzte auf eben den Tisch eins ihrer eigenen Kinder, das wirklich in seiner Gesichtsbildung eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Großvater hatte. – Der Alte liebkoste jetzt beide, und war ausnehmend vergnügt.

Aber, sagte er, wenn der alte gute Lyk den Mund zum Lachen verzog, da hatt' er so ganz etwas Eigenes in seiner Oberlippe. Ob auch wol der Kleine das hat? – Lieber Kleiner! thu mir den Gefallen und lache! Hörst Du?

Der Kleine blieb ernsthaft; denn er hatte keinen Anlaß zum Lachen, und war noch nicht fein genug, um in der Aufforderung selbst diesen Anlaß zu finden. – Ich will Dich schon dazu bringen, sagte der Alte, und zog aus seiner Börse einen neuen, spiegelhellen Doppelducaten, den er ihm zu geben versprach, wenn er ihm den Gefallen thäte und lachte. – Der Knabe verläugnete hier das mercantilische Blut nicht, aus dem er entsprossen war, sondern lachte den schönen Ducaten mit sichtbarer Begierde an, ihn aus der fremden Tasche in die seinige zu spielen; und nun riß Herr Stark ihn mit vieler Wärme an seine Brust, um ihn zu küssen. – Sieh! sieh! sagte er zu der Tochter.

Dem Großvater wie aus den Augen geschnitten!

Nicht wahr? – Da nimm hin, lieber Kleiner, und wenn Du nach Hause kommst, so gib den schönen Ducaten der Mutter, und bitte sie, ihn in Deine Sparbüchse zu stecken. –

Bei Tische war der Alte so ganz in seiner heitersten Laune, sprach und scherzte mit den Kinder so viel, und machte zu der Nachricht, die man ihm von dem Wohlbefinden und der kleinen Erholungsreise des Sohnes gab, eine so gute Miene, daß die nachmittägliche Unterredung zwischen ihm und dem Doctor unter keinen günstigern Vorzeichen hätte beginnen können.

Der Doctor fing damit an, daß er dem Alten im Scherz zu der vortrefflichen Behandlung seines kritischen Kranken Glück wünschte, dessen Uebel er mit dem richtigsten Blicke gefaßt, und wie es nicht anders scheine, aus dem Grunde gehoben habe.

Doch? sagte der Alte lächelnd. Hab' ich einige Anlage zur Kunst?

Was Anlage! Sie sind Meister darin.

Also Alles glücklich vorüber?

Alles. Die ganze Krisis.

Der Trotz zum Herzen heraus?

Völlig, völlig heraus. Und das Herz im frischesten, gesundesten Zustande. Voll Liebe, Dankbarkeit, Ehrerbietung für einen Vater, der statt zu zürnen, wie er gekonnt hätte, nur edel wohlthat.

Aber, Herr Sohn, noch bin ich mit meiner Cur nicht am Ende. Sie haben durch so manche Ihrer Krankheitsgeschichten mir verzweifelt bange vor Recidiven gemacht; und da will ich denn, Sicherheits halber, meinem Kranken noch eine kleine Nachcur verordnen, von der ich hoffe, daß sie ihm gute Dienste thun soll.

Für jetzt wäre wol das Beste, daß Sie ihn stärkten.

Meinen Sie? Und wodurch?

Durch volles Vergessen, volle zärtliche Vaterliebe.

Wenn's nur damit nicht noch zu früh ist! – Nein, nein! Ich habe die Sache nach meinem eigenen Kopfe angefangen, und so will ich sie nun auch durchführen. Ich will den Vortheil nicht ungenutzt lassen, daß der junge Herr durch seinen Trotz sich mir in die Hände gegeben hat, und daß er nun schon muß, wie ich will.

War er denn nicht immer in Ihren Händen?

Nicht ganz. Ich mußte Rücksichten nehmen. – Gesetzt, daß ich in unserer ehemaligen Lage gesagt hätte: Sohn! Das und Das ist mein Wille; darauf besteh' ich durchaus; so und so sollst Du's machen, oder ich jage Dich aus dem Hause, schicke Dich an einen Ort, der Dir nicht ansteht, vor dem Dir graut: – denn unter uns! daß ihm vor seinem Br .. graut, weiß ich sehr sicher; – sagen Sie mir, was würden die Mutter, die Schwester, Sie selbst, alle Menschen von mir gedacht haben? Ein Tyrann, ein Barbar, ein harter, unnatürlicher Vater wär' ich gewesen. – Vor seinem Trotz so zu handeln, war in der That ohne Härte nicht möglich; nach seinem Trotze kann und darf ich so handeln, und ich will Den sehen, der mich tadelt.

Einer wird es doch, lieber Vater.

Wer? –

Ein Mann von dem edelsten Herzen: Sie selbst.

Falsch! Mit mir selbst bin ich einig. – Ich werde meinem Sohne gerade heraussagen: mit unserer Verbindung ist's aus; auf die rechne nicht länger; in mein Haus, in meine Handlung kommst Du nicht wieder.

Lieber Vater! sagte der Doctor.

Das steht fest. Das ist nun einmal entschieden.

Der Doctor war nicht wenig erschrocken. – Sie werden mich wenigstens anhören, hoff' ich, und dann weiß ich gewiß: Sie werden ganz anders denken.

Sie anhören? Das will ich gern. Hier sitz' ich! – Aber ganz anders denken? Da müßten Sie mir doch etwas sehr Sonderbares zu sagen haben.

Nichts sehr Sonderbares, aber sehr Wahres.

Schön! Ich bin neugierig darauf.

Sie können's nicht sonderbar finden, wenn ich behaupte, daß eine einzige That, zu welcher glückliche oder unglückliche Umstände einen Menschen hinrissen, ihn von Grund aus verändern, ihm gleichsam eine neue Seele einhauchen kann. Bewußtsein einer ehrlosen, schändlichen Handlung kann den Menschen auf immer verschlechtern; Bewußtsein einer guten und großen ihn auf immer veredeln.

Wohin zielt das? fragte der Alte.

Sie erinnern sich, was ich Ihnen von dem Benehmen Ihres Sohnes am Sterbebette und nach dem Tode des seligen Lyk erzählte.

Das war schön! Das war edel von ihm!

Hätten Sie's jemals in ihm gesucht?

Nie.

Auch wahrlich; Er in sich selbst nicht. Ein unerwarteter, ihm ganz neuer Eindruck, ein unwiderstehliches Gefühl rissen ihn hin. Aber einmal gethan, diese That, sollte sie ohne Spur, wie ein Blitz, haben verschwinden können? sollte sie kein Andenken an sich zurückgelassen, nicht durch dieses Andenken mächtig auf ihn eingewirkt haben? – Glauben Sie mir, das Bewußtsein von Werth, Güte, Tugend, das Ihr Sohn aus dem Lykischen Hause mit sich nahm, ist für ihn unendlich wohlthätig geworden, es hat ihn von seiner ehemaligen Kleinlichkeit, Eitelkeit, Selbstsucht schon um Vieles geheilt, und noch immer wirkt es zu seiner Besserung, seiner Veredelung fort. – Was Sie sonst mit so vielem Recht an ihm aussetzen, ist schon alles ganz anders: seine ehemaligen Gesellschafter hat er verlassen; Spiel und Tanz sind ihm gleichgültig, und gegen den Putz ist er kälter geworden: schon seit Monaten kein neues Kleid mehr! seit Monaten kein Gang mehr, als in den Concertsaal, den unschuldigsten aller Vergnügungsörter! Sein jetziger herrschender Trieb ist: zu wirken, nützlich zu werden, Hochachtung und Beifall von Andern, wie von sich selbst, zu verdienen. – Ist nicht in Diesem allen die Wirkung jenes Augenblicks, wo er sich selbst in einem so neuen Lichte und die Tugend in ihrer Würde und Schönheit sah, unverkennbar?

Der Alte, der mit großer Aufmerksamkeit zuhörte, winkte dieser Entwickelung Beifall; und doch war sie, wenn auch nicht falsch, wenigstens sehr einseitig und unvollständig. Die Hauptbildnerin an dem Herzen des Sohnes, die Liebe, war aus guten Gründen vergessen.

Selbst das, fuhr der Doctor fort, daß er die Thorheit beging, Ihnen zu trotzen, stößt meine Meinung von ihm nicht um, sondern bestätigt sie eher. Eben weil er jetzt edler und also stolzer geworden war, konnt' er die Behandlung, die er vormals verdient hatte, nicht mehr ertragen; eben weil er Hochachtung gegen sich selbst zu fühlen anfing, wollt' er auch Hochachtung von Andern, selbst von seinem Vater, genießen; und so entstand denn, bei der gewohnten traurigen Entfernung von Ihnen, und bei dem unseligen Mißtrauen, womit er Sie im Irrthum über sich gleichsam vorsätzlich erhielt, jener Trotz, jener nicht zu rechtfertigende, übereilte Entschluß, den Sie durch Ihr weises Benehmen ihn so sehr haben bereuen lassen. – Aber, mein bester Vater – wollten Sie einen Fehltritt aus solchen Gründen, an einem solchen Sohne, der Ihrer täglich würdiger wird, jetzt so grausam bestrafen?

Was? rief der Alte, indem er mit lebhafter Bewegung aufstand, was reden Sie, lieber Doctor? Was fällt Ihnen ein?

Sie sagten: in Ihr Haus, in Ihre Handlung käm' er nicht wieder.

Das soll er auch nicht, muß er auch nicht.

Sind Sie denn noch immer erbittert? –

Erbittert? Ich? – Nun, beim Himmel! Wenn alle Väter sich so erbittern wollten, das wäre den jungen Herren, ihren Söhnen, wol eben recht.

Wie versteh' ich denn aber –?

Ich will aus der Verbindung mit ihm heraus, und will mich zur Ruhe setzen. Mein Haus soll das seinige, meine Handlung die seinige werden. Verstehen Sie jetzt?

Ja, mein Gott! rief der Doctor freudig; wenn Sie sich so erklären! – Der Text war dunkel; die Auslegung ist sonnenhell. – Aber Ihr armer Sohn! Was wird er nicht für ein Schrecken haben!

Scherzen Sie nicht zu früh! Die Bedingungen sind zurück.

O, die wird ein Vater, ein edler, großmüthiger Vater, machen. Ich bin sehr ruhig darüber.

Daß sie auf sein Bestes berechnet sind, können Sie denken. – Ich habe ihn jetzt, wie gesagt, in meiner Gewalt, und so bestehe ich durchaus darauf, er soll thätiger werden; er soll die Handlung, wenn sie die seinige wird, mit mehr Ernst und mit mehr Eifer führen, als unter mir; er soll dem abgehenden einen Buchhalter, keinen Nachfolger geben, weil er dessen Arbeiten mit den seinigen zugleich verrichten kann, ohne daß eben der Schreibtisch eine Galeere werde; er soll dem Umherschweifen in Gesellschaften und an öffentliche Oerter entsagen, und sich sein Haus dadurch anziehender machen, daß er ein Weib – aber kein Modeweib, keine Putz-, auch keine Büchernärrin – nimmt, sonder ein braves, häusliches, herzliches Weib, das er lieben, das aber auch ich schätzen und ohne Erröthen Tochter nennen kann. – Fügt er sich in diese Bedingungen: – gut! so übergebe ich ihm Alles, beziehe meine eigene Wohnung für mich, und betreibe meine übrigen Geschäfte in Ruhe. – Fügt er sich nicht: – nun, so kann ich weiter nicht helfen; ich arbeite dann mit meinen Buchhaltern fort, und ihn schicke ich – wohin der junge Herr nicht mag, und wohin er mir doch zu gehen gedroht hat: nach seinem Br .. In mein Haus, so lange es das meinige bleibt, kommt er nicht wieder.

Das also, das Ihre Nachcur, mein lieber Vater?

Das! – Wird sie ihm anständig sein?

Er wird darin gleich sehr Ihre Liebe und Ihre Einsicht erkennen. – Bereiten Sie sich vor, den dankbarsten, den gerührtesten Sohn zu umarmen!

Meinen Sie? – nun, so bereiten auch Sie sich vor, einen Mann zu erblicken, der Haus und Handlung verliert, und der dazu lächelt!

Wie freue ich mich dieser Ihrer Laune, mein Vater! –

Aber ich mich gar nicht Ihrer Meinung von mir. – Was? Erbittert wäre ich gewesen? Erbittert gegen einen einzigen Sohn, von dem Sie mir Dinge erzählt hatten, die mir Freudenthränen in's Auge lockten? erbittert gegen ihn, über den Sie schon längst mein Wort hatten, daß, wenn er würde, wie ich ihn wünschte, es meine erste, herzlichste Sorge sein sollte, wie ich ihn glücklich machte? – Ein solches Wort, meinen Sie, spräche der alte Stark in den Wind? Ein solches Wort könnte er brechen? – Gehen Sie! – Gehen Sie! – indem er sich selbst zum Gehen anschickte – Sie haben mein Herz verkannt, meine Ehre gekränkt; und nun komme ich Ihnen – er schien sich einen Augenblick zu besinnen – in vollen acht Tagen nicht wieder!

Der Doctor lächelte, und ergriff die Hand des Alten, um sie zu drücken; denn Umarmungen waren zwischen ihnen nicht Sitte. Die Herzlichkeit des Gegendrucks, den er erhielt, überzeugte ihn von der großen Zufriedenheit, womit sein vorteilhaftes Zeugniß über die veränderte Denkungsart des Sohnes war angehört worden. Gleich sehr überzeugte ihn davon ein angenehmes Geschenk, das ihm noch diesen Abend gebracht ward; ein großer Korb voll des herrlichsten alten Rheinweins, woran, wie die Träger sagten, sich der Herr Doctor erquicken sollte.


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