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11.

Abends bei Tisch erlitt der Muth der Frau Doctorin, durch einen einzigen Blick des Alten, einen gar unsanften Stoß. Es war Donnerstag, wo, nach der Regel, das ganze Herbstische Haus, bis auf das kleinste Enkelchen herunter, bei dem Alten versammelt, und dieser dann gemeiniglich sehr vergnügt und beredt war. Eins der ersten Gespräche pflegte von denjenigen Kranken des Doctors zu sein, die der Alte, wenn auch nur von Ansehen, kannte, und an denen er, theils dieser Bekanntschaft wegen, theils weil sie Kunden seines Schwiegersohnes waren, viel Theil nahm.

Diesmal fragte er besonders nach einem »gewissen Herrn Heil, einem Manne von mittlern Jahren, der eine starke Familie hatte.

Ach, der! sagte der Doctor: der ist schon völlig außer Gefahr.

Doch? Das ist mir eine sehr liebe Nachricht! – Der Mann hat viel Unglück gehabt, und es kann nur sehr wenig Vermögen da sein: was war' aus den vielen lieben Kindern geworden? – Es ist übrigens ein so rechtlicher, ein so stattlicher Mann: er hat mir Tag und Nacht in Gedanken gelegen. – Aber – wenn ich nicht irre, so sagten Sie ja nur noch vorgestern, er sei der Schlimmste von Ihren Kranken; es sei Ihnen ganz bange um ihn?

Da stand's auch mit ihm so so. Er lag da eben in einer Krisis.

Was heißt das? – Krisis! – Das Wort, däucht mir, hab' ich schon öfter gehört.

Das Wort ist griechisch, mein lieber Vater.

Ei meinetwegen arabisch! Ich möchte den Sinn davon wissen. – Ihr Herren nennt immer Alles mit fremden Namen; wozu das? – Eine deutsche Krankheit wird doch keine griechischen Zufälle haben? Aber Zufälle, die sich zu deutsch nicht so kurz wollen sagen lassen. – Krisis nennt man bei hitzigen Fiebern die letzte, stärkste Anstrengung der Natur, der Krankheit durch irgend eine hinreichende Ausleerung gekochter Krankheitsmaterie ein Ende zu machen.

Gekochter Krankheitsmaterie! wiederholte der Alte langsam und wiegte mit dem Kopf vor sich hin. – Das ist nun deutsch; in der That!

Deutsch, wie Griechisch. Nicht wahr?

Beinahe. –

Ich will mich näher erklären. Gekocht nennen wir eine Krankheitsmaterie, wenn sie sich von den gesunden Säften, denen sie beigemischt war, schon so abgesondert hat, daß der Körper sich ihrer entschütten, oder wo nicht völlig entschütten, sie doch nach außen hin absetzen kann. – Hat die Natur zu dieser Wirkung noch Kraft, so genest der Kranke; hat sie keine, so stirbt er. – So lange nun dieses glückliche oder unglückliche Bestreben der Natur fortdauert, sagt man von einem Kranken: er sei in der Krisis.

Ja nun – nun wird's helle, Herr Sohn; nun versteh' ich. – Und so kann man denn auch in einer Krisis, wo es sich mit der Krankheit bessert, so herzlich krank sein?

Nicht anders. – Während der ganzen Zeit, da die Materie gekocht, und dadurch die Krisis vorbereitet wird – Sie verstehen mich nun schon – –

Vollkommen.

Während dieser ganzen Zeit ist die Krankheit im Wachsen, im Zunehmen; und kurz vor der Krisis, oder vor dem glücklichen Auswurf der Unreinigkeiten, pflegen heftige, drohende Bewegungen zu entstehen, die das Uebel auf seinen höchsten Grad treiben, und die man füglich einen kritischen Tumult nennen kann.

Bewahre Gott! rief der Alte, der einst einen Tumult erlebt hatte, und vor dem Worte erschrak.

Nicht doch! – Helfe Gott! muß man sprechen.

Was? Helfe Gott! zu einem Tumulte? – Doch freilich; wenn's mit dem Bewahren zu spät ist, da hat man schon recht, daß man um's Helfen bittet. – Und die Hülfe kommt denn wol durch den Doctor: nicht wahr? Der kann dabei wenig, sehr wenig. Das Meiste und das Beste muß die Natur thun.

So! – Aber der Doctor nimmt doch sein Geld; und da, dächt ich, wär's denn auch Pflicht, daß er zur Hand wäre, und mit Allem, was er von Pulvern und Mixturen nur auftreiben könnte, wacker in den Tumult hineinwürfe, um desto eher Frieden zu stiften.

Die Anwesenden lachten – bis auf den Sohn, der in Gedanken vertieft saß – und am meisten lachte der Doctor. – Sie wären mir ein trefflicher Arzt, lieber Vater. Wissen Sie, daß Sie durch Ihre zu große Thätigkeit die Krisis stören und dadurch den Kranken ins Grab bringen könnten?

Ei wie so? Das möcht' ich doch ungern. Der arme Heil!

Eine gestörte Krisis zieht immer entweder schleunigen Tod, oder doch gefährliche, in der Folge tödtliche Versetzungen nach sich, die wir abermals mit einem griechischen Worte Metastasen nennen.

Genug! genug! sagte der Alte; kein Griechisch weiter! – Ich merke wol, Ihr Herren macht's Euch bequem, deckt Euren Kranken fein warm zu, und gebt mit untergeschlagenen Armen Achtung, wo die Natur hinaus will.

Viel besser ist's wirklich nicht. Ich gesteh' es Ihnen.

Je nun – Wenn's so am sichersten oder am heilsamsten ist, ist's am besten. – Er saß hier einen Augenblick nachdenkend, und spielte mit seinem Teller. – Lieb ist mir's denn doch, daß ich bei der Gelegenheit dahinter gekommen, wie ein kritischer Tumult muß behandelt werden. Ich hätte da einen erzeinfältigen Streich machen können.

Wie so? fragte der Doctor.

Ich hätte mich können verführen lassen, mitten in einer Krisis die Cur zu versuchen.

Sie? fragte der Doctor noch ein Mal.

Der Alte schwieg; aber ein bedeutender, lächelnder Blick, den er nicht sowol auf den Sohn, als nach der Seite hinwarf, wo dieser saß, ließ den drei Verbündeten keinen Zweifel, daß er mit seinen Reden auf den Zustand des Sohnes ziele: nur, wie er ihn in diesem Zustande zu behandeln denke, das blieb ein Räthsel. Nach Tische rieth man und rieth; aber mir allem Rathen ward die Neugier mehr gespannt als befriedigt. Endlich that die Doctorin, die gewissermaßen das Orakel der Familie war, und die seit dem Siege von diesem Morgen noch an Ansehen gewonnen hatte, den wirklich nicht üblen Vorschlag, daß man sich für jetzt den Kopf nicht weiter zerbrechen, sondern die eigne Erklärung, die der Vater durch sein Betragen geben würde, ruhig abwarten solle: ein Vorschlag, den Mutter und Mann höchlich billigten; denn daß diese Erklärung völlig befriedigend und völlig zuverlässig sein müßte, sprang in die Augen.


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