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Einundzwanzigstes Kapitel. Um Mitternacht

Des Rittmeisters Stimme klang laut und befehlend. Er stand wieder Gefahren und Schwierigkeiten gegenüber und erinnerte sich an allerlei Lagen, in denen er sich auf seinen Jagdzügen in Indien befunden hatte, wo jeder Augenblick kostbar war, weil der nächste oder der übernächste den Tod bringen konnte. Auch dem Gutsverwalter war es klar, daß es sich um Ernstes handeln mußte, wenn er sich den blinkenden Revolver in seines Herrn Hand und die über den Schreibtisch verstreuten Glassplitter von dem zerschmetterten Fenster betrachtete.

»Jemand hat hier einzudringen versucht«, sagte der Rittmeister. »Die Umgebung muß abgesucht werden. Rufen Sie die Leute.«

Der Verwalter lief hinaus. Im nächsten Augenblick hörte man ihn mit lauter Stimme die Leute zusammenrufen.

Der Rittmeister zog hastig seine Jagdjoppe an. Als er durch den Flur ging, bemerkte er, daß Asbjörn Krag seine Blendlaterne dagelassen hatte, und nahm sie an sich. Als er auf den Hof hinauskam, sah er rötliche Lichtpünktchen sich hin und her bewegen. Das waren die Dienstleute, die mit ihren Laternen kamen. Die Nacht war ungewöhnlich dunkel.

Unter den Leuten herrschte großer Schrecken; durch die Mordgeschichten hatte sich ein Gefühl des Unheimlichen aller bemächtigt, und als sie jetzt den Schuß hörten und die Kunde von dem eingeschlagenen Fenster vernahmen, meinten sie nichts anderes, als daß ein neuer Mord geschehen sei. Dazu kam, daß des Rittmeisters eigene Leute ihn im Verdacht hatten. Er war ja wegen seines verschlossenen Wesens wenig beliebt.

In der Finsternis draußen wurden allerlei Fragen laut:

»Wer hat denn geschossen?«

»Der Rittmeister.«

»Auf wen hat er geschossen?«

»Das wissen wir nicht. Er hat durchs Fenster geschossen.«

Sowohl der Verwalter wie die Leute waren der Meinung, das Fenster sei durch den Schuß zerschmettert worden.

Als sich der Rittmeister mit der hellen Blendlaterne auf der Treppe zeigte, scharten sich die Leute schweigend um ihn. Er gab Befehl, daß sie sich über die Felder zerstreuen sollten, um möglicherweise den Täter zu finden, und die Leute gehorchten, wenn auch zögernd. Sie gingen immer zwei und zwei zusammen, und alle hatten irgendeine Waffe bei sich, eine alte Flinte, eine Heugabel, eine Axt oder dergleichen.

Der Rittmeister selbst mit seinem Verwalter gingen zuerst unter das zerschmetterte Fenster. Der Rittmeister beleuchtete die Erde, um Fußspuren zu finden, aber er konnte keine entdecken, obgleich die Erde feucht von Tau war. Das kam ihm sonderbar vor. Er meinte doch ganz deutlich sich entfernende Fußtritte gehört zu haben. Er überlegte einen Augenblick, ob nicht das Fenster durch eine Revolver- oder Gewehrkugel zerschmettert worden sein könne, aber auch diese Annahme paßte nicht zu seinen Wahrnehmungen. Er hatte doch auch keinen Schuß gehört.

Nun untersuchte er das Fenster selbst genauer. Es war eines von jenen großen Fenstern, die durch dünne Stäbe in kleine Scheiben geteilt sind. Auch einige dieser Stäbe waren zersplittert. Das Fenster konnte also nicht nur mit der Hand eingedrückt worden sein; es war mit einer Axt, einer stumpfen Keule oder etwas Aehnlichem eingeschlagen worden. Aber warum waren keine menschlichen Fußspuren zu finden? Der Täter konnte doch nicht durch die Luft davongeflogen sein! Es war unerklärlich.

Der Rittmeister gab es auf, weiter darüber nachzudenken, denn er fühlte sich vollständig hilflos in diesem Wirrwarr von Rätseln. Er selbst fürchtete sich vor keiner Gefahr, auch nicht vor einer Lebensgefahr, aber er mußte sie sehen, mußte wissen, worin sie bestand, womit er sich ihrer erwehren könnte. Dies hier jedoch war vollständig rätselhaft. Da trieb sich ein Mensch in der Gegend herum, ein gefährlicher und grausamer Mensch, der keine Spur zurückließ und der bereits einen Mord auf dem Gewissen hatte. Ob wohl dieser Mensch das Fenster eingeschlagen hatte? Suchte er ihn, den Rittmeister, oder suchte er seinen Freund, Asbjörn Krag? Der Rittmeister ging in sein Zimmer zurück und wartete die Rückkehr der Leute ab. Bald kehrten alle in den Hof zurück, zögernd und schweigend, wie Leute, die sich fürchten. Sie brachten zugleich auch die Pferde von der Weide mit herein. Draußen hatten sie nichts gesehen; das Feld war vollkommen menschenleer, und im Dorf war alles finster. Die Leute schliefen dort schon längst.

Als der Verwalter fragte, ob er nicht die Glassplitter, die auf Schreibtisch und Fußboden zerstreut lagen, fortschaffen lassen sollte, lehnte der Rittmeister ab. »Lassen Sie alles liegen, wie es liegt, wir wollen erst Herrn Krags Rückkehr abwarten«, sagte er.

Wie wenn nichts geschehen wäre, nahm der Rittmeister wieder an seinem Schreibtisch Platz und fuhr in seiner Arbeit fort. Von Zeit zu Zeit sah er nach der Uhr. Asbjörn Krag kam immer noch nicht, und der Stundenzeiger der Uhr entfernte sich mehr und mehr von der Zahl elf. Es war beinahe Mitternacht geworden. Endlich, ein Viertel vor zwölf Uhr, stand der Rittmeister auf und schellte. Der Verwalter erschien. Er war immer noch vollständig angekleidet, als ob er vorausgesehen hätte, es werde sich in dieser Nacht noch mehr ereignen und wollte darauf vorbereitet sein.

»Sind die Leute zu Bett gegangen?« fragte der Rittmeister.

»Noch nicht«, antwortete der Verwalter und sah seinen Herrn fragend an.

»Gut, dann sagen Sie ihnen, daß sie sich bereit halten sollen. Vielleicht habe ich sie um Mitternacht nötig.«

»Um zwölf Uhr?« fragte der Verwalter schaudernd.

»Ja, genau um zwölf Uhr.«

Der Verwalter ging und kam gleich wieder zurück mit der Nachricht, den Leuten sei Bescheid gesagt und sie hielten sich fertig.

»Aber was gibt es denn?« fragte er.

»Herr Krag ist ausgegangen.«

»Das habe ich gehört.«

»Er ist allein ausgegangen in der Absicht, die Gefahr aufzusuchen.«

»Welche Gefahr?«

Der Rittmeister zuckte die Achseln, als ob er sagen wolle, was weiß ich?

»Er meinte, er werde um elf Uhr zurück sein«, sagte er.

Der Verwalter sah auf die Uhr.

»Jetzt ist es schon fast eine Stunde darüber«, teilte er mit. »Sollte ihm etwas geschehen sein?«

»Er hat mich selbst gebeten, bis zwölf Uhr zu warten. Falls er nicht zurück ist, wenn es zwölf geschlagen hat, so gehen wir alle und suchen ihn, denn dann muß ihm etwas zugestoßen sein.«

Mehr wurde nicht gesprochen. Der Rittmeister ging unruhig im Zimmer auf und ab. Hier und da schaute er nach der Uhr. Auch der Verwalter wurde sichtlich unruhig.

»Wäre es nicht besser, wenn wir sofort ...« fing er an.

»Nein!« erwiderte der Rittmeister. »Wir halten uns genau an seine Anordnungen.«

»Jetzt fehlen nur noch zwei Minuten, Herr Rittmeister.«

Der Rittmeister stellte sich vor die große Schlaguhr und horchte auf ihr Ticken. Unendlich langsam glitten die Sekunden, eine nach der andern, dahin.

Endlich schlug es zwölf Uhr.

»Rufen Sie die Leute!« befahl der Rittmeister, indem er nach Mütze und Mantel griff.

Eben wollte der Verwalter aus dem Zimmer eilen, da erklangen Schritte auf dem Flur.

Beide Männer blieben stehen und starrten gespannt nach der Tür.

»Das ist er!« sagte der Rittmeister. »Ich kenne seinen Gang.«

Mit raschem Griff wurde die Tür geöffnet und Asbjörn Krag trat ins Zimmer.

Er sah sehr bleich aus.


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